Öffnet die Museen 2.0

Helmut Bien

4. Dezember 2020

Für mehr digitalen Mut und Zuversicht!

Soll die Pandemie die erste Krise werden, in der die Kultur so gar keine Rolle spielt – außer in der Opferrolle der darbenden Kulturschaffenden als modernen Spitzweg-Poeten? Die den Preis dafür zahlen, dass sie sich selbst verwirklichen wollen? Einerseits werden Horrorgemälde von der schlimmsten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gemalt, andererseits wird geflissentlich überspielt, dass in der Nachkriegszeit der Hunger ebenso groß war wie das Verlangen nach Kultur, die – na klar – ablenkte und unterhielt, Depressionen linderte und vor allem Sinn stiftete und motivierte, von vorn anzufangen. Eine unzulässige Indienstnahme?

Wie es ausschaut regiert die Entscheider*innengremien ein blanker Ökonomismus: ›Erst kommt das Fressen und dann die Moral‹. Der Rest ist Petersilie am Buffet. Dabei ist die Suche nach Sinn das Erste, was Gesellschaften im Innersten zusammenhält. Die Sinnproduzenten aus Kultur und Kultus nach Hause zu schicken, gleicht einer Selbstdestruktion. Wie überall zu sehen, greift der Wahnsinn aus Angst, Hysterie, Gewalt und Terror um sich. Dagegen helfen kaum offene Shopping-Malls, aber sehr wohl offene Bibliotheken, Theater, Konzerthäuser, offene Museen, offene Kirchen, in denen die Menschen ihre Sinne beieinander halten könnten.

Im Frühjahr habe ich mitten im ersten Lockdown einen Aufruf gestartet: ›Öffnet die Museen‹. Mit ›Öffnung‹ meinte ich das Wiederaufschließen der Häuser mit entsprechenden Hygiene-Konzepten. Ein paar Tage später gab es die ersten Öffnungs-konzepte. Ich hatte offene Türen eingerannt.

Aber eigentlich wollte ich auf etwas Anderes hinaus: Die Museen sollten sich nicht auf die Rolle hochspezialisierter Elfenbeintürme zurückziehen, denen Besucher eher lästig sind, und Museumspädagog*innen nur als Hilfskräfte im museologischen Himmelreich vorkommen. Sie könnten sich öffnen gegenüber anderen Kulturschaffenden und Akteuren der Zivilgesellschaft, lieber demütig Knotenpunkte im kulturellen Gewebe werden als hochmütig Leuchttürme der eigenen Selbstherrlichkeit markieren. Die Digitalisierung in ihren unterschiedlichsten Formaten ist nur ein Synonym für neue Synergien und Vernetzungen und dafür, die Kultur als ein Habitat zu denken und weniger als eine Arena des Kampfes um Anerkennung und Ressourcen auf Kosten anderer. Die US-amerikanischen Tech-Konzerne denken schon lange so, dominieren einen Sektor nach dem anderen, weil sich ihre Konkurrenten durch Selbstisolation verteidigen wollen statt eigene Netzwerke aufzuspannen.

Diese Netzwerk-Idee zündete im ersten Lockdown kaum. Der schützende Rückzug ins Schneckenhaus stand im Zentrum und vor allem die durch nichts gerechtfertigte Hoffnung, dass nach der Pandemie alles rasch wieder so werde wie zuvor. Deshalb kann ich nur stoisch die Idee erneut in den Diskurs einspeisen. Vielleicht klappt es diesmal mit den offenen Türen. Die Unruhe und die Bereitschaft, selbst zu denken und nicht nur blind zu folgen, ist gewachsen. Statt Entschleunigung ist in diesem Lockdown Beschleunigung angezeigt. Auch die exponenzielle Zerstörungskraft des Virus in der zweiten Welle drückt aufs Tempo.

Frage niemand: Was soll das denn wieder kosten? – statt offen ›ja‹ oder ›nein‹ zu sagen. Kosten spielen (vor allem in Ausnahmesituationen) keine Rolle, wenn die Idee stimmt. Das Ritual, Vorhaben durch die scheinvernünftige Frage nach dem Geld ins Leere laufen zu lassen, ist ein altbekannter Innovationskiller. Entwicklungen, deren Zeit so offensichtlich gekommen ist, lassen sich nicht aufhalten. Dabei ist die Frage relevant, wie und bei wem man die Mittel beschafft, wer die Regie führt und die Konditionen bestimmt. Sind es noch die Institutionen selbst oder sind es schon fremde Interessen, die über die Sichtbarkeit entscheiden und sich das früher oder später bezahlen lassen. Koch oder Kellner, das macht den Unterschied.

Vielleicht lockert Lockdown 2.0 diesmal die Bereitschaft, Entscheidungen nicht länger zu verschieben: Die Zukunft der Museen liegt im Digitalen. Wer digital und analog im Leben der Gesellschaft präsent ist, ist auch resilient gegenüber Schicksalsschlägen. Schließungen sind nicht mehr K.O.-Ereignisse sondern nur verlorene Runden. Die Digitalisierung spricht nicht gegen Präsenzausstellungen. Ganz im Gegenteil. Der Besuch, die Anschauung von Originalen ist unverzichtbar. Aber nicht die einzige und vor allem nicht die ausschließliche Form für Wahrnehmung und Aneignung. Nötig ist jetzt ein entschiedenes sowohl als auch.

Die Krise drängt die Museen dazu, die anderen, eben die zweitbesten Formen der Vermittlung und Forschung zu entwickeln. Andernfalls verlieren sie unweigerlich ihren Kontakt zum Publikum. Schnell gewöhnt es sich daran, dass es auch ohne geht und: Sind die Museen nicht vollkommen überschätzt? Schaut man auf die Klickraten bei youtube, so kann einem schwindlig werden. Sie dümpeln häufig im unteren dreistelligen Bereich. So sieht es aus, wenn die Schwellen plötzlich höher werden. Sie zeigen auch, dass neue Medien die Ästhetik verändern und alter Wein in neuen Schläuchen nicht länger schmeckt. Es braucht eine Fehlerkultur, und es bildet sich eine Aufgabe für Profis heraus, die learning by doing ihre Kompetenzen ausbilden. Auch in dieser Welt werden die ersten, neuen Stars gesichtet.

Mit jedem Tag Schließung stirbt ein Stück positiver Erfahrung und Erinnerung. Die Museen könnten jetzt nachweisen, dass sie auf der Höhe der Zeit und ihrer Probleme sind. Die Konkurrenz um die Finanzmittel wird unerbittlich. Arroganz und Anspruchshaltungen helfen da wenig, besonders wenn sie eher Trägheit und mangelnden Ehrgeiz bemänteln. Jetzt ist die Gelegenheit, für die Umrüstung auch die Mittel zu bekommen. Denn noch können die Entscheidergremien ihr schlechtes Gewissen erleichtern. Aber auch da fällt schon bald eine Tür ins Schloss.

Das Zauberwort dieser Tage ist die ›Visitors Journey‹. Das ist die in Deutschland viel zu selten eingenommene Perspektive, das Museum nicht von der Sammlung und ihren Schätzen her zu denken und nicht von der Bedeutung der eigenen Botschaften her, sondern aus der scheinbaren Froschperspektive von Benutzer*innen und Besucher*innen. Im hochgelobten britischen Museumssystem mit seinen freien Eintritten, brillanten Katalogen, glänzenden Websites und weltbekannten Stars unter den Kuratoren ist die Besucher-Zentrierung eine Selbstverständlichkeit. In den Niederlanden ebenfalls. Dort sitzen Wissenschaftler*innen beispielsweise im Naturmuseum Leiden inmitten ihrer Sammlungen und sind für die Besucher*innen ansprechbar. Wo in Deutschland wäre das möglich?

Der physische Museumsbesuch ist der Höhepunkt in der Beziehung zwischen Museen und Besucher*innen. Wie bei jeder Beziehung braucht es aber eine Anbahnung, eine Vorbereitung auf ein Rendezvous, es braucht Anstöße, Einladungen, Erinnerungen, Verabredungen. Auch nach dem Rendezvous geht es weiter mit Danksagungen, Fotos, Erlebnisbeschreibungen und der Vorbereitung der nächsten Begegnung. Die Liebe darf nicht erkalten. Das meint Visitors’ Journey.

Wenn aber keine Rendezvous stattfinden können, dann lässt man die Beziehungsarbeit nicht einfach sausen. Stattdessen wird die Kommunikationsarbeit intensiviert. Dann sind Briefe, Fotos, Filme, Erinnerungen, Aussichten die Distanzmedien, um die Beziehung trotz mangelnder Nähe am Leben zu erhalten und zu substituieren.

Achselzuckend auf die Schließungen zu reagieren, ist keine sinnvolle Reaktion. Zumal es auch andere Mitbewerber*innen gibt, die Konkurrent*innen madig machen werden. Das Netz bietet den Museen einen ganzen Strauß von Formaten. Vieles ist auch hohen Ansprüchen anverwandelbar. Selbst Senior*innen, die das Internet ewig abgelehnt haben, sind zu begeisterten Nutzer*innen geworden. Sie wissen, dass ihnen auf Dauer nur geholfen werden kann, wenn sie sich ein wenig in die Verhältnisse hineinbegeben, statt sich störrisch zu verweigern.

Die Museen können viel lernen von Schwesterinstitutionen wie den Bibliotheken und von den Theatern oder Opernhäusern. Die einen bieten ihren Besucher*innen Arbeitsplätze zum Selberlernen, die anderen pflegen mit ihren Abonnent*innen Formen des Wiedersehens und der Teilnahme in den unterschiedlichsten Formaten.

Selbst schwerfälligste Museumsstrukturen können in der Krise viel leichter ihre Corporate Identity ändern als sonst. Sie sollten die Krise nutzen. Abwarten und alles auf später vertagen, ist blinder Attentismus und keine Option. Natürlich stirbt die Hoffnung auf Wiederherstellung der Prä-Corona-Bedingungen zuletzt. Aber dieser Lockdown dürfte nicht der letzte gewesen sein. Und danach gibt es kein Geld mehr oder soviel davon, dass es wertlos wird. Oder es gibt kaum noch jemanden, den man um Hilfe fragen könnte, weil alle Expert*innen vergeben sind. Wer resiliente Museen will, muss sich jetzt auf den Weg machen!

Museen sind mehr als Vitrinenparcours. Ihre zentrale Lage in den Städten zeigt die Wertschätzung und die Erwartungen an, die jetzt wieder verdient werden wollen. Museen sind die Orte, an denen sich die Gesellschaft über sich selbst klarwerden kann; erst recht in einer säkularen Wissensgesellschaft. Die Zukunft ist voller Chancen, sich neu zu erfinden. Nutzt die Krise als Chance, die anderen tun es längst. Die alten Zeiten sind perdu. Da helfen auch keine Klagen. Die Uhr tickt. Es gibt Kippmomente, in denen das Geschehen aus der Balance gerät und sich nicht mehr kontrollieren lässt. Dann ist das Kind in den Brunnen gefallen, und selbst Zeit lässt sich nicht mehr kaufen.

Autor

Foto: Thekla Ehling

Helmut Bien, Ingelheim

Ausstellungsmacher, Festival-Kurator, Museumsberater, westermann kulturprojekte