Ist das noch Kultur oder kann das schon weg?

Katrin Lechler

7. Dezember 2020

Für ein sportives Selbstbewusstsein – gerade in der Krise

Während landauf landab die Theatervorhänge wegen eines mit dem für die Kultur zynischen Begriff betitelten Lockdown light geschlossen sind, werden sie ausgerechnet von der Kulturpolitischen Gesellschaft vorsichtig aufgezogen für eine angeblich zeitgemäße Inszenierung von Sein oder Nichtsein. #neueRelevanz heißt das Spiel.

Gegen diese Aufführung gilt es Widerspruch einzulegen. Denn sie kommt zur Unzeit. Es gibt derzeit kein Momentum für eine Grundsatzdiskussion.

Zum einen: Hinter dem »Kontaktverbot light« verbirgt sich kein Freiraum für Visionen, hier werden nicht Kapazitäten frei, sondern diese kurzfristige, zunächst für vier Wochen ausgerufene Zäsur ist lediglich ein Zäsürchen, wenn man sich anschaut, was sie an Arbeit für die Kulturschaffenden, insbesondere in den Institutionen bedeutet. Und dies nur für eine unmittelbare Schadensbegrenzung. Kreative Kräfte sind jetzt damit beschäftigt, Kurzarbeitsanteile auszurechnen! Das wiederum ist dermaßen unkreativ, dass es regelrecht lähmt und nur noch wenig Energie für den Entwurf künstlerisch-gesellschaftlicher Utopien bleibt. Mit der Verlängerung des Lockdowns um weitere drei Wochen geht dieses Kräfteabsorbieren gerade so weiter.

Themen, die sich laufend aus den gesellschaftlichen Veränderungen und Realitäten ergeben, wie Öffnung, Teilhabe, Diversität, Digitalisierung, Nachhaltigkeit, sind deshalb gerade ein wenig ins Hintertreffen geraten. Manches macht natürlich unter dem Eindruck einer zu bekämpfenden Pandemie zurzeit auch wenig Sinn, die Zusammenarbeit mit Lai*innen z.B. Und beim Streaming wird gerade wieder festgestellt, dass es mit den heutigen technischen Möglichkeiten ein Mittel aber keine Lösung ist. (U.a. weil eine Chatfunktion während eines Streams den grundsätzlichen Einbahnstraßen-Eindruck dieser Art der »Kulturdistribution« nicht aufhebt.) Aber: die Themen sind längst auf der Agenda und werden grundsätzlich auch auf diese oder jene Art und Weise und in diesem oder jenen Maß bearbeitet. Das ist ein kunst-/ kulturimmanenter Prozess und nichts, das jetzt endlich mal anfangen sollte.

Zum anderen: Nun geht es bei #neue Relevanz ja nicht um die Kulturschaffenden oder Kultureinrichtungen, sondern um die Kulturpolitiker*innen. Aber abgesehen davon, dass wir doch bitte nicht in Zeiten zurückfallen wollen, wo über Institutionen u.a. geredet wurde, anstatt mit ihnen, würden sie hier in eine Falle laufen: Wer jetzt Relevanzdiskussionen lostritt, gesteht damit in den Augen derjenigen, die schon immer meinten, Kultur sei ein teures und überflüssiges Luxusprodukt, ein, dass dort zurzeit einiges falsch läuft und leistet somit einer ohne Frage kommenden Spardiskussion Vorschub.

In diesem Zusammenhang: Kultur als systemrelevant zu bezeichnen, wie es derzeit immer wieder geschieht, ist vor allem eine Umschreibung dafür, dass sie die öffentliche Hand Geld kostet. Allerdings bekommen »normale Bürger*innen« so kein Gefühl dafür, um was für Summen es geht – gerade auch im Verhältnis zu anderen Ausgaben. Es steht dann lediglich die Frage im Raum, ob sie überhaupt Ausgaben wert ist. Diese Frage muss dann aber nicht noch von den beruflich mit Kultur befassten selber gestellt werden!

Die kulturelle Infrastruktur befindet sich bereits in einer existenz(en)bedrohenden Lage.  Bei den nächsten (insbesondere kommunalen) Haushalten wird es hier an die Fleischtöpfe und dort an die Wurstzipfel gehen. Das wird nicht ohne Verluste bleiben. Deshalb gilt es aber jetzt umso mehr, mit Klauen und Zähnen erstmal pauschal alles zu verteidigen und nicht in vorauseilendem Gehorsam schon einmal zu diskutieren, »was weg kann«. Hier müssen die Kulturpolitiker*innen als Anwälte der Kulturschaffenden und Kultureinrichtungen fungieren!

Zugestanden, hier soll ein Gestaltungsanspruch wahrgenommen werden, so lange es noch eben geht. Aber so macht man sich nur zu willfährigen Handlangern. Denen, denen Kultur verzichtbar scheint, darf es nicht zu leichtgemacht werden! Gefordert ist vorausschauendes Handeln, nicht vorauseilendes, sonst geraten wir selbstverschuldet in einen Sog des Wegdiskutierens! Diese Einwände gegen eine Grundsatzdiskussion über Relevanz zum jetzigen Zeitpunkt einmal beiseite geschoben: Ist so eine grundsätzliche Selbstbefragung denn überhaupt notwendig, gibt es wirklich Kultur, die überflüssig ist? Möchten wir uns selber »gesundschrumpfen«? Auf wie klein denn noch?

Ja, es gibt immer mehr Angebot. Das wird allerdings auch erwartet, nicht wegen eines olympischen »immer höher, schneller, weiter«, sondern wegen Stichworten wie Öffnung, Teilhabe und Diversität. Wenn nun aber neue Zielgruppen definiert werden, kann man die bisherigen nicht plötzlich außeracht lassen. Sie sind ja noch da (und nicht etwa plötzlich ausgestorben), samt ihrem Geschmack und ihren Bedürfnissen, die genauso ihre Berechtigung haben. COVID19 mag man eines Tages als Zäsur betrachten, aber: Wir waren noch längst nicht fertig! Denn die Gesellschaft verändert sich stetig und damit verändert und vor allem erweitert sich auch der Kulturbegriff. Deshalb dürfen sich aber der Blick und das Angebot nicht verengen!

Und die Qualität all dieser Angebote? Wer will darüber urteilen? Wer aus diesem Kreis will sich hinstellen und sagen, dieses oder jenes ist es nicht wert, dass es gesehen wird, gehört wird, erlebt wird – und bezahlt wird? Das wäre anmaßend und respektlos. Auch ein Kulturerlebnis, das nach – nicht vorhandenen, weil nicht messbaren – objektiven Kriterien »nur« der Unterhaltung dient, macht etwas mit den Rezipient*innen. Immer. Wo also sollte die Wertlosigkeit davon sein? Und ja, in diesem Kontext hat das Staatstheater genauso seinen Wert wie das Amateurtheater und umgekehrt! Oder soll der Wert von Kultur plötzlich nach marktwirtschaftlichen Kriterien beziffert werden?

An diesem Punkt sei eine Parallele zu einem anderen gesellschaftswirksamen Gebiet gezogen, in dem auch sehr viel öffentliches Geld steckt: Sport. Auch bei völligem Mangel an persönlichem Interesse daran würde man nicht auf die Idee kommen zu sagen: Diese oder jene Sportart oder diesen oder jenen Wald- und Wiesen- oder Bundesligaverein braucht es nicht; er hat weder Förderung noch sonstige Aufmerksamkeit und Mitwirkung verdient. Es ist einfach egal. Ebenso wenig strengen aber die Sport-Treibenden und ihre Funktionäre aller Couleur selber jemals solche Diskussionen an!

In der Kultur passiert genau das jedoch permanent. Warum? Warum vermitteln wir selbst öffentlich den Eindruck, das Geld, das in die Kultur gesteckt wird, gar nicht verdient zu haben; machen uns klein und rechtfertigen uns um Kopf und Kragen? Wo ist das Selbstwertgefühl von Kulturschaffenden und Kulturpolitiker*innen? Unsere Haltung ist traurig und beschämend!

Gerade jetzt: Wenn die Kultur weiterhin und gar vermehrt gesellschaftliche Prozesse moderieren soll, geht das nicht mit weniger Geld. Und dieses Geld ist kein Gnadenbrot, sondern eine Investition. Wir übernehmen schließlich laufend Querschnittsaufgaben; übernehmen als eine Art Dienstleister*innen Aufgaben, die eigentlich ein Bildungs- oder Sozialministerium oder -amt finanzieren müsste, oder auch das Innen- oder Landwirtschaftsministerium bzw. -amt. Da war sie wieder, die Rechtfertigung… Also: Nehmen wir endlich mal eine sportlich-selbstbewusste Haltung ein!

Es gibt jedoch eine Aufgabe, den die Kultur wirklich hinbekommen muss, und das schnellstmöglich und gänzlich unabhängig von COVID19: den erklärten Willen zur Nachhaltigkeit, vor allem im Sinne der Klimaneutralität. Wer gesellschaftlich relevant sein will, braucht eine vorausschauende und vorbildhafte Nachhaltigkeitsstrategie!

Nicht alles lässt sich derzeit umsetzen. Die Einrichtung kollektiver Beförderungsmöglichkeiten in die Kultureinrichtungen ist infektionsschutzbedingt gerade nicht en vogue. Aber: Es gibt genug Punkte, bei denen man schon einmal anfangen kann, sogar muss!

Es wird so sein (müssen), dass im Rahmen dieser Prozesse auch Entscheidungen über die Verzichtbarkeit von kulturellen Angeboten fallen. Wasser predigen und Wein trinken geht nicht; wir haben hier eine Vorbildfunktion. Aber pauschale Verzichtsverdikte vom Reißbrett würden Mensch und Sache nicht gerecht. Deswegen sind statt pauschaler #neueRelevanz-Diskussionen lokale Erkenntnisprozesse notwendig. Schließlich muss die Kultur in diesem Zusammenhang auch wieder politischer werden. Denn es ist auch ihre Aufgabe aufzuzeigen, was mit einer nachhaltigen Gesellschaft nicht vereinbar ist; Aufrüstung sei hier nur als ein Beispiel von vielen genannt. Aber auch diese Aufgabe hat nichts mit COVID19 zu tun!

In diesem Sinne: Vorhang zu. Die neue Relevanz ist die alte Relevanz in ihrem ständigen Fluss!

Autorin

Foto: Sebastian Seibel

Katrin Lechler, Pforzheim

Leiterin des Orchesterbüros am Stadttheater Pforzheim