Corona ist zum Code für Beschränkung, Verzicht und Existenzängste geworden. Ersteres betrifft die Gesellschaft als Ganzes, letzteres die Menschen vor allem in Gastronomie, Tourismus und ganz besonders Kultur, die vom Florieren der jeweiligen Sparte abhängen. Corona als Chance zu sehen, scheint deshalb geradezu provokativ.
Deshalb haben wir uns in diesem Jahr des kulturellen Lockdowns angewöhnt, mit dem Brustton der Überzeugung und möglichst unüberhörbar das Hohelied der Solidarität und der Systemrelevanz von Kultur zu singen. Die Ohren einer ohnehin kulturaffinen Teilöffentlichkeit und die vieler Sonntagsredner*innen haben wir damit erreicht, der Kultur einen Platz außerhalb des Feuilletons auf den vorderen Seiten erobert und etliche Überbrückungshilfen mobilisiert. Aber wenn wir den Blick ein bisschen weiter nach vorn richten, über die Zeit der Pandemie hinaus, sind wir mit dieser Haltung gerade dabei, die Chance auf einen wirklichen Neustart zu verspielen.
Zu einem solchen Neustart gehört erst einmal die Bereitschaft zu einer Bestandsaufnahme, die nicht von tradierter Selbsteinschätzung geprägt ist, sondern die schlichte aber zentrale Feststellung der Kulturpolitischen Gesellschaft ernst nimmt, dass Kulturpolitik kein Selbstzweck ist, sondern Gesellschaftspolitik. Kultur und ihre politische Gestaltung sind, so schwer das Eingeständnis auch fallen mag, nicht eo ipso relevant, zumindest nicht ohne eine Begründung, die sich nicht aus sich selbst speist, sondern aus den Erwartungen der Gesellschaft und ihren Funktionen für sie.
Dabei trifft der Zuordnung von Kultur zum Bereich der Freizeitgestaltung ins Mark des Selbstverständnisses. Was haben wir nicht schon alles an Argumenten zusammengetragen, wie wichtig Kultur ist für die Bildung, für die humane Sinnlichkeit, für Innovation, Individualität und kollektives Bewusstsein. Welcher Hohn es ist, die Öffnung von Kultureinrichtungen mit der von Bordellen auf eine Stufe zu stellen. Diese Argumente sind richtig. Umfragen zeigen jedoch, dass dieses Bewusstsein der Kulturakteure nicht dem des Publikums entspricht: Empirische Erkenntnisse zu Kulturnutzung in Deutschland belegen, dass über 60 Prozent von einem Kulturbesuch vor allem gute Unterhaltung erwarten, viele das gemeinsame Unternehmen mit Freund*innen und Partner*innen schätzen oder schlicht eine angenehme Atmosphäre. Die Neugier auf neue Kunstformen und ästhetischen Genuss nennt gerade einmal ein Drittel als Motiv. Institut für Kulturpolitik, Universität Hildesheim) Kultur als Freizeitevent dominiert offensichtlich über Schillers Vermutung, das Theater – oder überhaupt die Kultur – könne als „moralische Anstalt“ wirksam sein. Kultur fungiert deshalb weit affirmativer, als es ihrem Selbstbild entspricht.
Vielleicht ist es gerade deshalb so schwierig, die Bedeutung von Kultur auf gleicher Zuschuss-Augenhöhe mit der Lufthansa oder der Automobil-Branche zu positionieren. Kultur wird durch ihre Akteure geprägt, Kunst trägt ihren Wert in sich, Kulturpolitik aber verantwortet die Verbindung von Kultur und Gesellschaft und ist somit auf Akzeptanz und Wertschätzung angewiesen. Und die muss sie sich durch eine Bedeutung verdienen, die über sie selbst hinausreicht. Deshalb haben wir derzeit auch keine Krise der Künstler*innen (trotz der Verschärfung ihrer ökonomischen Situation) und keine Krise der Kunst (die durch die Krise nichts von ihrem Wert verloren hat); wir haben eine Krise der Kulturpolitik. Damit findet sich Kultur mitten in einem umfassenden Transformationsprozess, dessen Ausgang unklar ist. Das Krisenszenario, das diese Transformation begleitet und beschleunigt, beschränkt sich nicht auf eine Epidemie. Dazu gehören ebenso die Finanzkrise, eine Krise der liberalen Demokratie, eine Krise der Ökologie, der globalen Gerechtigkeit und manches mehr. Es wird zu den wichtigen Herausforderungen künftiger Kulturpolitik gehören, Kultur und Kunst mit Ökologie, Demokratie und Gerechtigkeit in Beziehung zu setzen, ohne die Eigenständigkeit dieser Bereiche und damit auch die Freiheit der Kunst zu gefährden.
Die Krise der Kulturpolitik wird durch fünf Faktoren spürbar intensiviert und im Spotlight sichtbar:
Die ökonomische Lage der Künstler war schon immer prekär, wurde aber als selbstverständlich hingenommen – von den Künstler*innen wie vom Publikum. Spitzwegs Bild vom „armen Poeten“ hat das im öffentlichen Bewusstsein verankert. Wer eine Berufskarriere als Künstler*in einschlägt, weiß das, auch wenn er von der Hoffnung getragen wird, dereinst zu den glücklichen Ausnahmen zu zählen. So konnten die meisten mit kultureller Profession nie relevante Rücklagen aufbauen und müssen jetzt um ihre gesamte (künstlerische) Existenz fürchten. Sie schaffen es damit aber zumindest erstmals, als wirtschaftliche Subjekte wahrgenommen zu werden. Diese Einsicht muss, soll sie nicht vergeblich sein, zur Basis einer neuen Bewertung von Kultur und der Struktur kulturpolitischen Handelns werden. Das Bewusstsein, dass künstlerische Arbeit existenzsichernd sein soll, hat – aus der Kulturwirtschaft kommend – bereits Ansätze zu einer Neuorientierung gezeigt. Eine Stabilisierung der Arbeit von Künstler*innen und Kultur-Selbständigen muss aber weiter reichen: Eine Neuordnung der Künstlersozialversicherung, die Anerkennung von Entgelt für künstlerische Arbeit („Art but Fair“), eine Verdienstausfallversicherung ähnlich dem Kurzarbeitergeld sind mögliche Ansätze einer notwendigen Restrukturierung. Die Diskussion über die Relation von Freizeitkunst, künstlerischer Freiheit und Existenzsicherung hat freilich gerade erst begonnen. Die Krise bietet die Chance, sie zielorientiert und intensiver zu führen.
Im staatlichen, kommunalen und privaten Bereich hat sich eine lebendige Vielfalt von Kultureinrichtungen etabliert, die wesentlich zur Vielfalt des Kulturangebots beiträgt. Jede dieser Einrichtungen fordert Immunität für ihre Existenz und beklagt den institutionellen Verlust als Verlust von Kultur. Dabei geht es hier um nicht weniger als um eine kulturinhärente Form von Nachhaltigkeit. Diese gebietet in der Forstwirtschaft (um das Beispiel aus den Anfängen dieses Begriffs zu nehmen) nicht, keine Bäume zu fällen. Sie verlangt im Gegenteil, den Baumbestand so zu managen, dass der Bestand des Waldes generationenübergreifend gesichert wird. Ein Projekt auslaufen zu lassen, eine Einrichtung zu schließen, die ihre Funktion für die Gesellschaft nicht mehr überzeugend (andere überzeugend!) begründen kann, und dafür andere Einrichtungen oder Projekte verstärkt zu fördern oder neu aufzusetzen ist ein Gebot von Nachhaltigkeit und damit Zukunftsfähigkeit. Die Begründung für diesen Umbau setzt auf die Wertschätzung und damit Akzeptanz, die Kultur und ihre konkreten Erscheinungsformen in der Gesellschaft hat. Sie verlangt von der Kulturpolitik somit, diesen Wert zu identifizieren, zu kommunizieren und zur Diskussion zu stellen.
Die – ebenfalls durch die Krise beschleunigte – Digitalisierung von Kommunikation, Kunst und Politik erweitert den kulturellen Content ebenso wie sie die Interaktion von Kulturpolitik und Öffentlichkeit erleichtert und mobilisiert. Sie hat auch Auswirkungen auf den ökologischen Fußabdruck, den wir hinterlassen. Zudem ermöglicht die barrierearme Einbindung von Kultur in Politik und Gesellschaft eine Partizipation an kulturpolitischen Themen, die weit über das traditionelle Kulturpublikum hinausreicht. Konflikte als Kernbestand von Politik bekommen so kulturell ein neues Podium. Sie ist eine Chance für eine aktivere demokratische Öffentlichkeit.
Vor dieser Chance scheuen viele Kulturakteure und Kulturpolitiker*innen zurück, weil sie angesichts einer kulturellen Aktivbürgerschaft von kaum 10 Prozent einen Bedeutungsrückgang von Kultur in der Unsicherheit einer volatilen Finanzierung befürchten. Die Suche nach Sicherheit treibt deshalb immer wieder zu der Forderung, Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern. Diese Forderung unterliegt allerdings dem Irrtum zu glauben, eine Kodifizierung ändere etwas an der Realität. Kultur ist bereits jetzt in fast allen Länderverfassungen als Staatsziel definiert – ohne sich deshalb gegen die Dominanz des Verwaltungsrechts durchsetzen zu können, die Pflichtaufgaben einen Vorrang vor „freiwilligen Leistungen“ wie Kultur zuspricht, selbst wenn diese Verfassungsrang besitzen.
Die andere Fluchtbewegung aus der Unsicherheit heraus ist das Bestreben, Kultur unter das Dach der Bildung als Pflichtaufgabe zu schieben. Sie erweist sich als problematisch, weil jedes Gesetz, das Pflichtaufgaben beschreibt, diese auch an Kriterien bindet und somit der Kultur genau die Freiheit raubt, die ihr verfassungsgestütztes Selbstbewusstsein ausmacht. Auch Spartengesetze unterliegen derselben juristischen Mechanik und führen nicht weiter. Sinnvoller ist eine Neugewichtung der Kulturellen Bildung, die mit der Ausweitung von Ganztagsschulen ohnehin bereits ein erweitertes Aktionsfeld gefunden hat. Bildung ist eine Bedingung von Kultur, Kultur erschöpft sich aber nicht in Bildung. Deshalb geht es bei Kultureller Bildung nicht um die Hoffnung auf juristische Absicherung, sondern um die Funktion, die sie für Kultur, ebenso aber für die Entwicklung demokratiefähiger Persönlichkeit und gesellschaftlicher Entwicklungsfähigkeit hat. Dies deutlich zu machen ist eine Chance für Bildung und Kultur gleichermaßen.
Wir werden uns daran gewöhnen müssen, die Hoffnung künftig nicht auf Schutzgesetze und (vorübergehende) staatliche Hilfsleistungen zu setzen (so wichtig letztere derzeit sind), sondern auf die Akzeptenz von Kultur in einer demokratischen Gesellschaft. Wenn das gelingt, öffnet sich für Kultur ein weit größerer Horizont als der jetzige, der gerade in der Krise von beklemmendem Verteidigungsbemühen geprägt ist. Für diesen Horizont ist der Zwang zur Neuorientierung in und nach der Krise die weitreichende Chance.
Trotz anhaltender Null-Zins-Politik wird die Zeit nach Corona von wenig finanziellem Spielraum geprägt sein. Für die Kulturpolitik ergibt sich daraus die Notwendigkeit:
- einen breiten Diskurs über die Nachhaltigkeit von Kulturangeboten und Kultureinrichtungen zu eröffnen
- die Funktion von Kultur für Stadtentwicklung, Öffentlichkeit, Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt neu zu justieren und mit dieser Vernetzung Kultur wie Gesellschaft resilienter zu machen
- Kulturförderung entsprechend diesen Überlegungen neu zu organisieren, um gesellschaftliche Relevanz, Vielfalt der ästhetischen Gestaltungen, Partizipation und Akzeptanz in ein konflikt- und damit zukunftsfähiges Verhältnis zu bringen
- die Stärke der Kultur, in Alternativen denken zu können, zur Fähigkeit zu erweitern, mit Unsicherheiten leben zu können, wie wir sie gerade während der Krise so lebhaft erfahren.
Diese Notwendigkeiten zu erkennen und in Kulturpolitik umzusetzen, ist die große Chance, die nicht erst Corona erzwingt, die durch die Krise aber als Gegenwartsaufgabe unausweichlich ist. Krisen sind immer Ausdruck von Transformationsprozessen. Mit der Bereitschaft, die Konflikte einer säkularen Transformation kulturell zu verhandeln, rückt Kultur ins Zentrum von Politik und Gesellschaft. Der Prozess ist so schmerzlich wie unausweichlich. Ihn nicht nur zu erleiden, sondern zu gestalten und dabei Kultur groß zu denken ist die optimistische Chance einer Krisenzeit, für die Corona nur einen Signalcode darstellt.
Autor
Dr. Dieter Rossmeissl, Nürnberg
Kulturdezernent a.D. und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Pädagogik mit dem Schwerpunkt Kultur und ästhetische Bildung der Universität Erlangen-Nürnberg