»Krise und Kritik: Eine Transformation der Kulturpolitik ist nötig – und möglich!«

Henrik Adler, Wibke Behrens, Janet Merkel, Sven Sappelt

21. Dezember 2020

I. Krise und Kritik
Die Pandemie hat das kulturelle Leben in vielen Ländern rund um den Globus hart getroffen. Die beiden Lockdowns haben den öffentlichen Kulturbetrieb fast vollständig zum Erliegen gebracht. Die allgemeine Verunsicherung hat Projektplanungen weitgehend verunmöglicht.
Das ist alles bekannt. Aber warum hat es vor allem die freien Kulturschaffenden so viel härter erwischt als andere Branchen? Aufgrund welcher strukturellen Schwäche sind wir selbst hier in Deutschland in so gewaltige Schwierigkeiten geraten?
Eine kulturelle Lobbyvereinigung nach der anderen meldet sich derzeit zu Wort. Fordert Hilfen und Sonderregelungen für Öffnung und Weiterbetrieb. Die Vorsitzenden von Bühnenverein, Orchestervereinigungen, Museumsverbänden etc. werden dabei nicht müde, den ökonomischen und kulturellen Wert sowie die normative gesellschaftliche Bedeutung ihrer Institutionen zu betonen. Aber werden solche Stimmen auch für die freischaffenden Künstlerinnen und Künstler laut, deren Einkommensquellen nicht selten vollständig weggebrochen sind? In der Logik der individuellen künstlerischen Produktivität steckt ein Dilemma, das jetzt besonders dramatisch zu Tage tritt: Gerade diejenigen, die ihr Leben der künstlerischen Innovation verschrieben haben, können – trotz gewaltiger Hilfspakete – auf keine Strukturen und keine Sicherheiten vertrauen, die sie in dieser kritischen Zeit verlässlich schützen. Und das nicht zuletzt, weil die sogenannte »Grundsicherung« Hartz IV mehr Fluch als Segen bedeutet.


II. Kritik und Gerechtigkeit
Bedauerlicherweise hat die aktuelle Förderpraxis gezeigt, dass gerade die kleineren, beweglichen und innovativen Organisationsformen durch das Förderraster fallen und gut gemeinte Hilfspakete entweder nicht ausreichen oder erst gar nicht ihre Zielgruppen erreichen. In Berlin lief es beispielsweise so, dass knapp 2.000 Künstler*innen aus rund 8.000 Bewerbungen das Glück hatten, für ein »Sonderstipendium« – ja tatsächlich – ausgelost zu werden. Und während Fördermittel für ein winterliches Freiraumprogramm unter dem Titel »Draussenstadt« zwar an die Kulturverwaltungen der Bezirke und auch über den Rat für die Künste vergeben worden sind, wurde der öffentliche Teil der bereitgestellten Gelder, die über die Berliner Kulturprojekte ausgeschrieben worden sind, nach Ablauf der Einreichungsfrist auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Pech hatten auch Freischaffende, die ihre Rechnungen 2019 ausgerechnet im Oktober und nicht im November überwiesen bekommen haben, weil sie damit keine Vergleichsgrundlage für die Beantragung der »Novemberhilfe« im Jahr 2020 hatten. Und diejenigen, die sich entschieden haben, aus der Selbständigkeit eine juristische Person wie zum Beispiel ein kleines Kulturunternehmen mit offiziell gemeldeten und sozialversicherten Angestellten zu schaffen, gehen ebenfalls leer aus, wenn sie weniger als zwei vollbeschäftigte Mitarbeiterinnen in den letzten drei Jahren nachweisen können. Ganz zu schweigen davon, dass weitere Förderprogramme eine offiziell nachgewiesene Gemeinnützigkeit voraussetzen – auch wenn selbst eine Plattform wie die »Kulturveranstaltungen des Bundes« aus guten Gründen als GmbH organisiert ist, ohne unter Verdacht zu stehen, ein profitorientiertes Privatunternehmen zu sein.
Ziel staatlichen Handelns ist Gerechtigkeit. Die Kriterien der kulturpolitischen Maßnahmen auch in Notzeiten müssen nachprüfbar und gerecht sein.
Was zeigen diese Beispiele? Anscheinend sind die politischen Entscheidungsträger*innen und Verwaltungsmitarbeiterinnen so wenig mit den Arbeits- und Produktionsbedingungen von Kunst- und Kulturschaffenden vertraut, dass diese Defizite im Vorfeld nicht gesehen worden sind. Es drängt sich der Eindruck auf, dass gerade an den entscheidenden Stellen erstens ein strukturkonservatives Verständnis von Kultur leitend ist, welches sich auf traditionelle Institutionen wie Museen, Theater und Konzerthäuser konzentriert, und dass sich zweitens auch der Kreis von Gesprächspartner*innen und Berater*innen von Politik und Verwaltung primär aus dem Umfeld der großen Häuser und ihrer Lobby-Verbände zusammensetzt. Es scheint hier also einen fatalen Schulterschluss von im Selbstverständnis »starken und mächtigen« Akteur*innen zu geben, deren Zusammenarbeit eben jene konservativen Strukturen zementiert, die von innovationsorientierten Künstlerinnen, Kurator*innen und Kulturschaffenden seit inzwischen fast 50 Jahren ganz bewusst in Frage gestellt und mit alternativen Organisationsformen konfrontiert werden. Und so verwundert es denn auch nicht, dass Solidarität seitens der großen Organisationen sowohl gegenüber den von ihnen abhängigen freien Künstlerinnen als auch gegenüber den sie kritisierenden kleineren Innovatoren bislang weitgehend ausbleibt.
Der aktuelle Kampf um Anerkennung und Mittelverteilung führt damit zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen, die innerhalb des kulturellen Feldes bereits seit vielen Jahren geführt werden, und die nun aufgrund der Corona-Krise und der gegebenen Förderpraktiken vor allem zu Lasten der Freien Szene gehen. Da tröstet es denn auch wenig, dass große Tanker wie die Stiftung Preußischer Kulturbesitz nun endlich wegen strukturbedingter Ineffizienz umgebaut werden sollen. Dass das notwendig ist, haben diejenigen schon lange gefordert, die kleinere und beweglichere Strukturen befürworten. Nur hat man nicht auf sie gehört…


III. Gerechtigkeit und Strukturen
Weniger als über die Frage, ob die Hilfen, die derzeit für freischaffende Künstler*innen und Soloselbstständige ausgeschüttet werden, ausreichend sind, sollten wir also darüber nachdenken, was die aktuelle Situation strukturell bedeutet und welche Folgen die Corona-Krise für die kulturelle Vielfalt unseres Landes haben wird. Die Freie Szene ist immer schon vielstimmig, heterogen und als solche ein fragiles Gebilde, schwer zu organisieren. Zu befürchten ist, dass diese feingliedrigen und vielfältigen Strukturen der künstlerischen Produktion vielerorts wegbrechen – und zwar schlicht deswegen, weil die konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen, die künstlerisch tätig sind, dies in Zukunft nicht mehr erlauben. Strukturen künstlerischer Produktion in der unabhängigen Freien Szene beruhen auf der individuellen Lebensentscheidung und -einrichtung der künstlerischen Persönlichkeit. Sie leben von der Findigkeit der Akteurinnen, die einen Raum betreiben, ein Projekt planen oder eine Gruppe gründen. Ebenso heterogen wie ihre künstlerischen Profilierungen sind auch die jeweiligen Wege, wie sie sich finanzieren. Weil die meisten Kunst- und Kulturschaffenden sich über Projektanträge finanzieren, sind sie abhängig von den Strukturen, die dies ermöglichen. Fallen sie beziehungsweise die Möglichkeiten der künstlerischen Produktion weg, gerät sofort das persönliche Finanzierungsmodell in Gefahr. Anstatt an die freischaffend Tätigen zu appellieren, etwas »Reelles« zu machen – Lehrerin zu werden, eine Ausbildung zum Krankenpfleger zu machen oder als Designerinnen in die Spiele-Industrie zu wechseln, wie es gerade von der Regierung in Großbritannien forciert wird –, wäre jetzt zu überlegen, wie man die Finanzierungsbedingungen für Freischaffende besser gestaltet.

IV. Thesen für Krisen von Morgen

  1. Genau jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um Ideen dafür zu entwickeln, wie das kulturelle Leben in Zukunft widerstandsfähiger gegenüber Krisensituationen zu machen ist. Denn die kritischen Punkte treten gerade jetzt so deutlich wie selten zuvor in Erscheinung.
  2. Es ist bekannt, dass die etablierten Kulturinstitutionen strukturelle Probleme haben – Theater, die an neofeudalistischen Führungsstrukturen leiden, Museen, die mit überkomplexen Organigrammen kämpfen. Anstatt mit Geld konservative Strukturen zu zementieren, sollten Hilfs-Gelder jetzt dafür eingesetzt werden, um einerseits Beweglichkeit und innovative Strukturen zu fördern, andererseits kleine Initiativen zu stabilisieren.
  3. Es wäre zu simpel, einfach mehr Finanzhilfen zu fordern oder die Bedingungen bei der Grundsicherung exklusiv für Künstler*innen außer Kraft zu setzen. Was fehlt, sind neue, innovative Förderinstrumente für Künstlerinnen und Freischaffende. Lösungen, die darauf abzielen, das Leben von Kulturschaffenden längerfristig abzusichern. Wieso nicht das System der Stipendien weiterentwickeln zu einer auskömmlichen Grundsicherung für die Bestreitung der Lebenshaltungskosten? Oder eine Lösung schaffen, die sich an der französischen Arbeitslosenversicherung für Zeitarbeiter im Kulturbereich (»Intermittent du spectacle«) orientiert? Es verschafft den Akteur*innen persönliche Planungssicherheit in einem volatilen Umfeld.
  4. Die Kulturpolitik der 1970er Jahre hat das Elitäre eines konservativen Kulturbegriffs erledigt und sehr wirkungsvoll zur Soziokultur, Kulturellen Bildung und Partizipation erweitert. Dieses Unternehmen ist noch nicht zu Ende! Es gilt, die Kultur noch stärker in die Gesellschaft hinein zu öffnen und deren Vielfalt zu reflektieren. Kulturpolitik muss sich zu Cultural Governance weiterentwickeln, indem sie die partizipativen Elemente stärkt und Entscheidungsprozesse inklusiv gestaltet. Ziel zukunftsfähiger Kulturpolitik muss sein, nicht nur Ermöglichende für die vielfältigen Produktionsformen zu werden, die heute die Freien Szenen ausmachen, sondern auch das kulturelle Produktionssystem viel stärker in seinen wechselseitigen Bezügen, Abhängigkeiten und Wechselwirkungen zu verstehen und Förderstrukturen dahingehend neu auszurichten. Es muss systematisch Platz gemacht werden für künstlerische Forschung, spartenübergreifende Ansätze und die Freiheit, künstlerische Prozesse ergebnissoffen anzugehen. Damit einher geht eine Perspektive für Kulturentwicklung über mehrere Jahre – statt aktionistischem Trouble-Shooting.

In eigener Sache

Das 2019 gegründete »Institute for Cultural Governance« hat ein Forschungsprojekt begonnen: In einer Reihe von Interviews mit Akteur*innen des kulturellen Feldes sollen die Praktiken der aktuellen Kulturpolitik in Bezug auf Kommunikationsprozesse durchleuchtet werden. Wie partizipativ ist runsere Kulturpolitik? Wer spricht mit, wenn es darum geht, Gelder zu verteilen? Wie sollten heterogene Akteur*innen in einer vielfältigen Kunst- und Kulturlandschaft in kulturpolitische Steuerungsprozesse integriert werden? Wie kann eine zeitgemäße »Cultural Governance« aussehen? Obwohl noch ganz am Anfang der Recherchen, lässt sich schon jetzt sagen: Förderungen kultureller Praxis orientieren sich derzeit stark an Projekten und kulturpolitischen Zielstellungen, die abhängig von Personen und parteipolitisch motivierten Agenden sind. Um Kulturpolitik nachhaltig und resilient zu gestalten, wäre es hingegen nötig, sie stärker an den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Künstlerinnen und Künstler und der freischaffend Tätigen auszurichten.

Autor*innen

Wibke Behrens, Sven Sappelt, Janet Merkel und Henrik Adler führen gemeinsam das Institute for Cultural Governance, ein unabhängiges Denklabor für Kulturpolitik, in Berlin. https://institute-for-cultural-governance.org/