Ich beginne mit einer Frage. Sie ahnen es vielleicht schon. Sie lautet: Ist Kultur systemrelevant? Kulturschaffende und Politiker*innen sind seit Beginn der Pandemie in schier unendlichen Debatten gleichsam an ihr kleben geblieben wie ein vertrockneter Kaugummi an einer Museumswand. Es wurde gerufen, debattiert und geschrieben. Aber kaum jemand kam auf die Idee, eine wichtige Gegenfrage zu stellen: Welche Kultur ist überhaupt gemeint?
Für welches System relevant?
Denn es gibt nicht bloß eine Kultur, der diese oder jene Eigenschaft zukommt. Ich beobachte in unserer Gesellschaft Kulturen. Und ich beobachte, dass manche von ihnen äußerst systemrelevant zu sein scheinen, wie beispielsweise das Humboldt-Forum. Selbst die Pandemie sollte die für Dezember 2020 angesetzte (digitale) Eröffnung im wiederaufgebauten Berliner Schloss nicht verhindern. Die notwendigen Hygiene- und Schutzmaßnahmen für die planmäßige Fortführung der Baumaßnahmen ließen laut Bundesinnenministerium die Gesamtkalkulation von 644 Millionen auf 677 Millionen Euro steigen.
Warum ist das Humboldt-Forum also systemrelevant? Zumindest in dem Maße, dass die politisch Zuständigen 33 weitere systemrelevante Millionen Euro zur Verfügung stellen? Und für welches System ist es relevant? Eine Antwort lautet: Das Humboldt-Forum fügt sich nahtlos in ein System kolonialer Kontinuitäten und weißer Vorherrschaft ein. Und legitimiert sie im Gegenzug. Dazu gehört die Weigerung Deutschlands, sich mit der eigenen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen (oder aus ihr Konsequenzen zu ziehen). Bei vielen Exponaten, die auf den 1.500 Quadratmetern ausgestellt werden, handelt es sich um koloniale Raubkunst.
Auf der anderen Seite existiert eine Vielfalt an offensichtlich nicht-systemrelevanter Kulturen, die von solch einem Geldregen nur träumen können: Festivals, Kulturstätten, Initiativen und Veranstaltungsreihen, die sich queer, feministisch, inklusiv oder dekolonial verorten und jährlich um Förderzusagen bangen. Diese Kulturen adressieren kein breites bürgerliches, weißes und anders dominanzgesellschaftliches Publikum. Sie hinterfragen rassistische oder sexistische Kontinuitäten. Nicht systemrelevant also: Die freie, alternative, marginalisierte Kulturszene – und marginalisierte Künstler*innen. Die prekäre Situation vieler Solo-Selbstständigen hat sich in den vergangenen Monaten verschärft. Daran haben auch die halbgaren Hilfen durch Bund und Länder kaum etwas geändert. Und mehrfachmarginalisierte Kulturschaffende sind auch in der Corona-Krise mehrfachbelastet. Geflüchtete oder behinderte Künstler*innen fallen ebenso häufig aus dem Raster solcher Zuschüsse heraus wie ihre Arbeit oftmals von der Künstlersozialkasse nicht anerkannt wird. Von der ungerechten Verteilung von Ressourcen in unserer Gesellschaft – von etwa Geld, Sicherheit und Zeit – ist die Kulturbranche nicht ausgenommen.
Relevanz über das System hinaus
Dabei war 2020 nicht nur das Jahr der Corona-Krise. Es war auch das Jahr des anti-feministischen, antisemitischen und rassistischen Terrors, der am 19. Februar in Hanau seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Auch deswegen brauchen wir die Perspektiven marginalisierter und machtkritischer Künstler*innen für den Entwurf eines neuen, solidarischen Miteinanders dringender denn je. Sie sind konstitutiv für die Pluralität in unserer Gesellschaft. Etwa, weil sie Diversität nicht nur als Marketing-Gag und optischen Trend verstehen, sondern als Ausgangspunkt und Ziel ihres Handelns setzen. Sie sind vielleicht nicht-systemrelevant. Doch gerade deshalb umso wichtiger. Sie gefährden vorgezeichnete Grenzen, ritualisierte Handlungen und althergebrachtes Relevanzdenken von Systemen. Und deshalb sind sie umso gefährdeter.
Wie kann also eine machtkritische Kulturpolitik aussehen? Das ist die Leitfrage dieses Essays. Und die Antwort ist so einfach wie komplex: Wir brauchen eine Kulturpolitik, die sich den Schutz und die Förderung marginalisierter Kulturen und Künstler*innen als Maxime setzt.
Eine machtkritische Kulturpolitik
Ich verstehe unter Macht nicht nur die bereits erwähnte Akkumulation ökonomischer und sozialer Ressourcen. Macht wirkt auch im Hintergrund, sie naturalisiert diskriminierende Ausschlüsse und Hierarchien und erhebt sie zu einer scheinbar unumstößlichen Norm. Eine machtkritische Kulturpolitik spürt daher zwangsläufig nach, wie diese Ausschlüsse zustande kommen. Wie wirken Kapitalismus, Sexismus, Ableismus, Rassismus, koloniale Kontinuitäten und andere Diskriminierungsstrukturen in der Kulturbranche zusammen? Welchen Anteil haben sie an der Gestaltung von Inhalten? An der Repräsentanz von Künstler*innen? Welche Themen werden durch diese Machtstrukturen legitimiert? Und welche gelten als irrelevant?
Diversität kommt in der Führungsriege des Humboldt-Forums übrigens nicht einmal als Marketing-Gag vor. Intendanz, Kuration und Leitung verantworten vier weiße Männer. Und damit befinden sie sich in der Kulturbranche in bester Gesellschaft. Ein Blick auf die Theaterhäuser zeigt etwa, dass rund drei Viertel in (meist weißer) Männerhand sind, während laut Zahlen des Deutschen Kulturrats Niedriglohnjobs wie des Soufflierens zu 80% weiblich besetzt sind.
Eine machtkritische Position darf sich jedoch nicht auf der Frage ausruhen, wie mehr nicht-weiße oder nicht-cis-männliche Personen etwa in die Führungsriege des Humboldt-Forums aufsteigen. Sie muss weiterbohren, unbequem werden: Warum strukturieren sich Kulturinstitutionen überhaupt derart hierarchisch? Entsteht so die beste Kunst? Die wichtigsten Diskurse? Die relevanteste Kultur? Überhaupt: Ist es gerechtfertigt, ein Projekt in kolonialer Tradition mit so viel Geld zu subventionieren?
Relevante neue Systeme
»Wie positionieren wir uns [als marginalisierte Künstler*innen] gegenüber von Macht?« Diese Frage stellte die bildende Künstlerin Moshtari Hilal kürzlich in einer Podiumsdiskussion. Das Gespräch drehte sich um Ausschlüsse marginalisierter Künstler*innen aus Institutionen. Um Fremdzuschreibungen und die Instrumentalisierung von rassifizierten Künstler*innen für rassistische Debatten. Um den Umgang mit antisemitischen, kapitalistischen Strukturen innerhalb der Kunstwelt. Auch Galerien, Theaterhäuser und andere Bühnen müssen sich positionieren. Sie brauchen eine konsequente Auseinandersetzung und einen konsequenten Bruch mit rassistischen, antisemitischen, heteronormativen, sexistischen, ableistischen, klassistischen Strukturen und Logiken. Sie müssen sich neuorientieren, vorgezeichnete Grenzen verlassen, ritualisierte Abläufe neu choreografieren und ihr eigenes System überdenken. Diese Arbeit kann nicht wie ein weiterer vertrockneter Kaugummi an marginalisierten Künstler*innen kleben bleiben.
Wenn Künstler*innen wie Hilal sich fragen, wie sie sich gegenüber von Macht positionieren – etwa mit welchen Institutionen sie zusammenarbeiten und wem sie ihre Kunst verkaufen wollen – müssen sie eine Chance haben, sich positionieren zu können. Sie brauchen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsmacht. Das erfordert einerseits ein Mitspracherecht auf allen Ebenen der Kulturpolitik, in den Institutionen, Jurys und Ministerien. Hilals Frage lässt sich jedoch andererseits kaum ohne den Blick auf ökonomische Freiheiten und Zwänge beantworten: Eine machtkritische Kulturpolitik braucht Allianzen, um die materiellen Verhältnisse in unserer Gesellschaft von Grund auf anders zu denken. Die Corona-Krise habe bewiesen, dass es höchste Zeit für ein bedingungsloses Grundeinkommen sei, kommentierte der Theatermacher Milo Rau in einem anderen Podiumsgespräch. Es sind Ideen wie diese, die Teil kulturpolitischer Reflexionen sein müssen, damit nicht nur Künstler*innen selbstbestimmt auf diese Fragen antworten können: Wie positionieren wir uns gegenüber von Macht? Welche Ausstellungen wollen wir? Welche Kunsträume brauchen wir? Wer gehört aktuell zum System? Und was ist für eine pluralistische Gesellschaft wirklich relevant?
Autorin
Şeyda Kurt schreibt und spricht über Kultur, Politik und intersektionalen Feminismus. Als freie Journalistin arbeitet sie für unterschiedliche Print- und Onlinemedien (ZEIT Verlag, taz.die tageszeitung) sowie fürs Radio. Als Kuratorin war sie unter anderem für das Goethe-Institut und verschiedene Kulturveranstaltungen tätig. Sie gibt regelmäßig Workshops, etwa zum journalistischen Schreiben und zu diskriminierungssensibler Sprache. Im Frühjahr 2021 erscheint ihr Sachbuch Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist (HarperCollins).