Kein Interesse an Kultur?

Stefan Lüddemann

9. Juni 2021

Neuer Konsens für die Künste gefragt

Sitzen in den Parlamenten, in den Verwaltungen lauter Kulturverächter*innen? Anne-Sophie Mutter sieht das offenbar so. »Das Leben von Künstlern ist in diesem Jahr so eingeschränkt worden, dass man von einem Kulturverbot sprechen kann«, sagte die Stargeigerin der Welt am Sonntag. Politik verachtet Kultur: Was die weltberühmte Virtuosin radikal äußert, fasst das Lebensgefühl vieler Künstler*innen in der Corona-Pandemie zusammen. Sicher, nicht nur Kulturmacher*innen leiden unter dem Lockdown. Jetzt geht es aber um mehr als um den Protest einer Branche. Die Corona-Pandemie hat offengelegt, dass ein Konsens erodiert sein muss, der das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft in Deutschland getragen hat. Die Kultur ist zu und Politiker*innen kümmert das nicht. Wie ernüchternd.

Aber kann das sein, im Land der Dichter*innen und Denker*innen? »Kultur ist kein Luxus, den man sich nur in guten Zeiten leistet. Sie gehört zum Wesenskern unserer Gesellschaft«, hatte Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) im Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung gesagt. Ein schönes Bekenntnis, das Risse bekommen hat. Die Kulturhäuser sind seit langer Zeit zu. Erst nach und nach sollen sie wieder öffnen. Wenn Lockdowns und Notbremsen verkündet wurden, war von Kultur oft nicht einmal mehr die Rede. Zudem hallt der Basta-Spruch von Isabel Pfeiffer-Poensgen nach. Nordrhein-Westfalens Kultusministerin hatte im letzten November gesagt, die Kultur dürfe sich in Corona-Zeiten keine Extrawurst braten lassen. Ein Warnschuss für den Kulturbetrieb? Ein verstörender Moment zumindest in einem Land, in dem klar zu sein schien, wofür Kultur und Künste da sind – für Sinn und Zusammenhalt.

Für Sinn und Zusammenhalt

Das versteht sich offenbar nicht mehr von selbst. Die Klage der Initiative Aufstehen für die Kunst klagt gegen die Schließung von Kulturhäusern. Musiker*innen wie der Dirigent Hansjörg Albrecht oder der Bariton Christian Gerhaher kritisieren die Lethargie der Kulturszene und sehen die Kunstfreiheit verletzt. Der Streit wird grundsätzlich, weil es nicht mehr nur um Zuschüsse geht, sondern um den Kern der Kultur – ihre Bedeutung. Welchen Stellenwert hat Kultur in Deutschland? Diese Frage muss neu beantwortet werden. Die Kommunikation zwischen Kultur und Politik scheint versiegt zu sein, aller wortreichen Bekenntnisse zum Trotz. Die Pandemie hat die Gesellschaft entlang der Linie des Geldes gespalten. Kultur findet sich auf der abgewandten Seite der Aufmerksamkeit wieder, gleich neben Bildung und Familie. Der Dienst des Menschen am Menschen, er zählt offenbar nicht viel.

Dabei sollte Kultur für so vieles gut sein. Die siebziger Jahre propagierten die Kultur für Alle, die Achtziger die Konjunktur des Festivals, die Neunziger Kultur als die eigentliche Sozialarbeit. Kultur als Marketing und Standortfaktor, schließlich als Medium für Inklusion und Diversität – die Inflation der kulturpolitischen Leitbegriffe ist zu einer Beliebigkeit der Zuschreibungen ausgefranst, die Kultur und Künste für alles und jedes in Anspruch nehmen wollen. Dieser Schulterschluss zwischen Politik und Kultur, Staat und Kunstbetrieb hat seine historischen Wurzeln. »Ich hoffe, Sie zu überzeugen (…), daß man, um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muss, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.« In seinem Text »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« formulierte Friedrich Schiller den sehr deutschen Weg von jener künstlerischen Befreiung, die der politischen vorangehen sollte. Spuren von diesem Denken finden sich noch immer, zum Beispiel in fast jedem Spielzeitheft eines Stadttheaters.

Das Sinnfundament der Gesellschaft

Die Pandemie öffnet nun die Augen. In Deutschland werden eher Baumärkte als Opernhäuser geöffnet. Kultur firmiert im offiziellen Diskurs seit dem Beginn der Corona-Zeit als Freizeitbetrieb. Warum ist das bestürzend? Weil das zeigt, dass durch das Sinnfundament der Gesellschaft ein Riss geht, der lange unbemerkt geblieben ist. Höchste Zeit – ja, wofür? Mit dem Pflaster auf der Wunde ist es nicht getan. Die Corona-Zeit beschleunigt nur, was ohnehin anstand: Die Debatte um Kultur und Künste, Migration, Klimakrise und Digitalisierung machen klar, dass das Bespieltheater der Angebotskultur aus der Zeit gefallen ist. Programm, Publikum, kurz, das Projekt der Kultur, muss neu debattiert, ja, erstritten werden. Die Gesellschaft verhandelt sich gerade neu. Das betrifft gerade den Bereich, der ihr Sinnprogramm reproduziert: die Kultur.

Die Klage der Initiative Aufstehen für die Kunst ist ein guter erster Schritt, auch wenn das Projekt juristisch scheitern mag. Es geht darum, dass Künstler*innen ihre Interessen artikulieren und nicht wieder darauf warten, dass ihnen Politiker*innen soziale Funktionen zuschreiben. Viele Kulturhäuser und Kulturmacher*innen gehen bereits diesen Weg, indem sie konsequent digital arbeiten und Menschen erreichen, die vorher nicht zu ihrem Publikum gehörten. Die Gesellschaft braucht diese Aktivität ebenso wie die Energie der Künste selbst. Wie sehr sie als Medium und Erlebnisraum fehlen, zeigt die große Gereiztheit, in die viele Menschen gefallen sind. »Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet«, so noch einmal Friedrich Schiller. Klingt das nicht ungemein aktuell in einer Zeit, in der sich Menschen neu finden müssen?



Dieser Text erschien bereits in der Neuen Osnabrücker Zeitung vom 21.05.2021.



Autor

Dr. Stefan Lüddemann leitet die Kulturredaktion der Neuen Osnabrücker Zeitung und lehrt als Honorarprofessor an der Universität Osnabrück. Aktuelle Publikationen: Die neue Kunst der Gesellschaft. Wiesbaden. 2021, Kultur. Eine Einführung. Wiesbaden. 2019. www.stefan-lueddemann.de