»Queeres geht nur Queere etwas an«

Donat Blum

28. März 2022

Ein queeres 1 Mal 1 für den Literaturbetrieb

Ich sitze am Schreibtisch, arbeite an Glitter und ärgere mich, dass sich schreibende Kolleg*innen nicht stärker kulturpolitisch engagieren. Ich ärgere mich, weil auch ich lieber an meinem Roman arbeiten würde und weil ich mich allein fühle im Kampf für mehr (queere) Vielfalt in der deutschsprachigen Literatur.

In manchen dieser Momente bin ich wohl vor allem neidisch. Neidisch, dass sich meine Kolleg*innen auf ihre Kunst konzentrieren und ihre Energie ganz in ihre eigenen Bücher stecken können

Aber: Warum schreibe ich »können«? 

Wer sagt denn, dass ich das nicht genauso tun kann? Ist es nicht meine Entscheidung, wie ich meine Prioritäten setze? Kann ich nicht ganz frei entscheiden, wie sehr ich mich aufs literarische Schreiben konzentrieren möchte und wie sehr auf Kulturpolitik?

Ich könnte sowohl mit Ja als auch Nein antworten. Die richtige Antwort dürfte folglich wohl in der Mitte liegen oder noch wahrscheinlicher: im Sowohl-als-auch. Natürlich kann ich meine Prioritäten frei setzen. Aber genauso natürlich gibt es neben meiner Sozialisierung auch Strukturen, die mich (in meiner Wahlfreiheit) einschränken: 

Heterosexuelle cis Lektor*innen und Journalist*innen glauben sich mit queeren Texten nicht identifizieren zu können: Wenn queer, dann vielleicht wenigstens bisexuell? Natürlich werde ich mit einem queeren Roman nicht in ländliche Gegenden eingeladen, wenn dort nicht gerade eine queere Person federführend organisiert. Natürlich sagt die Buchhändlerin der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, einem Bekannten vor wenigen Tagen beim Kauf meines Buchs Opoe ins Gesicht: »Dieses Gender-Thema interessiert mich nicht. Und ich sage Ihnen eines: Ich habe gegen die Ehe für Alle gestimmt.« Und natürlich wurde ich von Eltern, der Schule, Jugendorganisationen und dem öffentlichen Diskurs erzogen, meine Queerness nicht an die große Glocke zu hängen.

Lauter Einzelbeispiele. Subjektive Erfahrungen. 

Viel lieber würde ich denn auch schlagkräftige Statistiken oder Forschungsergebnisse anführen. Aber selbst da wirkt die strukturelle Diskriminierung von Queerness: 

Natürlich scheint kein Mensch im Literaturbetrieb auf die Idee zu kommen oder sich dafür zuständig zu fühlen, in kulturpolitischen Untersuchungen – noch nicht mal in Studien zu Geschlechtergerechtigkeit – auch Autor*innen, Figuren und Narrative außerhalb eines binär-heteronormativen Schemas zu berücksichtigen. Rundherum scheint zu gelten: Queeres geht nur Queere etwas an.

 »Queer« kann als Sammelbegriff für die Identitäten aller LGBTIQ+-Personen verwendet werden. Noch viel mehr beschreibt queer aber den Akt, Strukturen und Normen zu reflektieren und hinterfragen. In der schriftstellerischen Arbeit. Im privaten (das Private ist politisch!) Tun. Und im folgenden Versuch eines Queering des literaturpolitischen Diskurs:

Beginnen wir beim Begriff »natürlich«.

Natürlich ist es nicht natürlich, dass queere Menschen und Themen ausgeschlossen werden. Nicht nur aus moralischen Gründen sollte es grundsätzlich nie natürlich sein, Menschen aufgrund von tatsächlicher oder fiktionaler Gruppenzugehörigkeit auszuschließen. Menschen sind Rudeltiere, soziale Wesen, veranlagt zu Solidarität und Gemeinschaft. Menschen wollen Teil sein, geliebt werden und dazugehören.

Sagen aufgeschlossene cis-heterosexuelle Menschen »natürlich«, meinen sie in der Regel auch eher »normal«. So normal, wie es sein sollte, dass ich als queere*r Schriftsteller_in künstlerische Entscheidungen eigenständig nach meinem inneren Kompass fällen kann, so sehr ist es unserer Gesellschaft über Jahrhunderte zur Norm geworden, queere Menschen daran zu hindern, sich und ihre Narrative zu entfalten. 

An dieser Stelle ein kleiner realpolitischer Exkurs, der hier genau so queer zur Norm stehen soll, wie die einzelnen Gesetze im allgemeinen Bewusstsein stehen dürften:

Der Paragraph 175, der homo- und bisexuelle Männer in nationalsozialistischer Tradition für »widernatürliche Unzucht« kriminalisierte, wurde in Deutschland erst 1994 und in Österreich sogar erst 2002 abgeschafft. Das bevormundende sogenannte Transsexuellen-Gesetz ist in Deutschland noch immer in Kraft. Und in der Schweiz wurde die Geschlechtsidentität erst letztes Jahr absichtlich aus dem neuen Antidiskriminierungsgesetz gestrichen.

Um Normen zu hinterfragen, müssen sie zuerst erkannt und benannt werden.  Zum Beispiel die konservativen Einstellungen, die das Wesen des Literaturbetriebs bestimmen:

Der Literaturbetrieb ist eine der letzten gerade noch wirksamen gesellschaftlichen Institutionen, die über Jahrhunderte gewachsen ist. Nicht wenige Verlage blicken auf eine mehr als 150 Jahre alte Tradition zurück. Und das Buch als Medium presst (Sprach-)Kunst in eine stark reglementierte Form, die sich Zeit ihres Bestehen kaum verändert hat: Entsprechend hinkt heute im Literaturbetrieb progressives Denken in aller Regel selbsterhaltenden Maßnahmen hinterher. 

Selbst Publikumsverlage müssen zunächst an ihre finanzielle Existenz denken und wagen der bedrohlichen Zukunft entsprechend nur ein Minimum an Risiko

Genauso sind Feuilletonist*innen, Buchhändler*innen und Autor*innen ganz damit beschäftigt, für den Erhalt ihres Wirkungsbereiches zu kämpfen. Die Zeit zum Schreiben, den Erhalt der Buchläden, die Finanzierung des Kulturressorts. Hier bleibt wenig Raum für Wagnisse, selbst für Wagnisse, die nicht größer sind, als über den eigenen binären, heteronormativen Tellerrand hinaus zu blicken. 

Die meisten Leute, die ich im Literaturbetrieb kennen gelernt habe, meinen es im Grunde gut. Sie wollen aufgeschlossen sein und sind es oft auch stärker, als es ihnen der Betrieb in der Umsetzung erlaubt. Bei Queerness endet allerdings bei den Meisten die Fantasie – um absolut aus dem Zusammenhang gerissen und nur sinngemäß Christian Lindner zu zitieren. Es fehlt an grundlegenstem Wissen:

  1. »Queer« ist eine politische Selbstbezeichnung. Die LGBTIQ+-Community hat sich die einst abwertend gemeinte Fremdzuschreibung in einem Akt der Selbstermächtigung angeeignet.
  1. »Queer« kann als Sammelbegriff alle LGBTIQ+-Identitäten beschreiben oder aber die gesellschaftspolitische Haltung beziehungsweise den politischen Akt, aus einer marginalisierten Position heraus binäre Heteronormen infrage zu stellen, mit ihnen zu spielen oder sie über den Haufen zu werfen – insbesondere, was gesellschaftliche Reglementierung von Liebe, Sexualität, Beziehungen und Geschlechtsidentität angeht.
  1. Spreche ich von »queerer Literatur« ist insbesondere Letzteres gemeint. Und damit sind wir bei der Ursachen allen Übels angelangt: Bei der vorherrschenden Vorstellung, Queeres gehe nur Queere etwas an. 

Wird die Queerness eines Buches oder einer Autor*innenstimme ignoriert, wie es letzten Herbst wieder in geschätzt neun von zehn Besprechungen von »Blaue Frau«, mit dem Antje Rávik Strubel den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, getan wurde, wird eine zentrale sozialpolitische Dimension des Werkes ausradiert.

»Blaue Frau« ist nicht nur ein Buch über die »feine Linie zwischen Ost und West« (Die ZEIT). »Blaue Frau«, wie Strubels gesamtes Werk, ist auch wesentlich davon geprägt, dass es gegen großen Widerstand angeschrieben wurde: gegen oder trotz des Patriarchats und der ihm immanenten Queerfeindlichkeit. 

Gegen die Ignoranz der Dominanzgesellschaft Queerness und uns queeren Menschen gegenüber. 

Glücklicherweise hat sich Antje Rávik Strubel als eine der wenigen öffentlich queeren deutschsprachigen Autor*innen von dieser Gleichgültigkeit nie abschließend einschüchtern lassen. Im Gegenteil: Sie hat sich jahrzehntelang immer wieder Raum erkämpft – auch wenn dieser weder von der Gesellschaft und erst recht nicht vom Literaturbetrieb für sie als queere Frau, ihren queeren Blick und ihre erzählten queeren Lebensrealitäten so vorgesehen war. Und falls doch, dann höchstens in der Nische und dem bekannten LGBT-Regal hinten in der Schmuddelecke des Buchladens neben den Erotika oder den Psychische Gesundheits-Themen. 

Sie hat gekämpft. Sich mit der Hilfe von wenigen Verbündeten immer wieder selber ermächtigt. Und schon vor 20 Jahren gemacht, was Michelle Obama heute in der Netflix-Dokumentation »Becoming« marginalisierten Jugendliche rät: »[…] share our stories, our real stories, that’s what breaks down barriers. But in order to do that you have to believe it has value

Dass heterosexuelle cis Männer Bücher schreiben ist selbstverständlich. Sie sind vom Wert ihrer Geschichte überzeugt und kriegen das täglich so bestätigt: Ob sie stehend oder sitzend pinkeln entscheidet über das Glück dieser Welt. Ob sie sich durch einen Gender-Stern im Lesefluss gestört fühlen oder es anstrengend finden, Menschen nach ihren bevorzugten Pronomen zu fragen, erst recht.

Dass wir queeren Menschen schreiben und uns von all den Widerständen – insbesondere der vorherrschenden Gleichgültigkeit – nicht abschrecken lassen, ist es nicht. 

Dabei geht es aber längst nicht nur um (Selbst)ermächtigung von uns Queers. 

Die Annahme »Queeres gehe nur Queere etwas an« stimmt auch schlicht und einfach nicht. Wir alle leben im Patriarchat und werden von Normen bestimmt, die unserem persönlichen Glück im Weg stehen und uns als Gesellschaft auseinanderdividieren statt aufeinander zu zuführen. Das aber ist eine der herausragendsten gesellschaftspolitischen Stärken von Literatur: Sie vermag es erwiesenermaßen, Empathie zu fördern für Perspektiven, die mensch aus dem eigenen Leben nicht kennt. Sich in die Situation des Gegenüber versetzen zu können ist die Grundlage jeglicher Verständigung. Queere Literatur verhandelt alternative Geschlechter- und Beziehungsnormen – das geht uns alle etwas an. Und es gibt noch ein Zückerchen oben drauf: Wir Queers wissen aus Erfahrung zu berichten, dass sich von Normen zu lösen und immer wieder Platz für das Leben zu schaffen, das zu einem passt, sich befreiend und ausgesprochen lustvoll anfühlt.

Würde der deutschsprachige Literaturbetrieb in Zukunft vermehrt mit diesem Wissen an queere Konzepte, Manuskripte und Bücher herantreten, würde sich nicht nur uns queeren Autor*innen endlich mehr Spielraum für Selbstermächtigung und Zeit zum literarischen Schreiben (statt kulturpolitischem Rechtfertigen unserer Existenz) eröffnen. Die deutschsprachige Literatur würde – davon bin ich überzeugt – auch wesentlich bereichert: Um weitere Dimensionen von Historizität, von Verbindungen, gesellschaftlicher Relevanz und vor allem um tiefgreifende, leidenschaftliche, ungehörte Geschichten.

Autor

Donat Blum, 1986 geboren, hat am Schweizerischen und Deutschen Literaturinstitut sowie an der Universität Bern studiert. Sein Debüt-Roman «OPOE» ist 2018 bei Ullstein und 2021 als Hörbuch bei Bookstream erschienen. Er ist mit verschiedenen Stipendien und Werkbeiträgen ausgezeichnet worden, ist Gründer und Herausgeber von Glitter – die Gala der Literaturzeitschriften, Initiator und Veranstalter der Reihe »Skriptor« und Organisator der Werkstattgespräche »Teppich«. 2020 hat er das online Literaturfestival VIRAL gegründet und kuratiert.