Von der Nachhaltigkeit und der begrenzten Freiheit der Kunst
Die Verfassung spricht Klartext: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Selbst die Bindung an die Verfassungstreue bezieht sich nur auf die Lehre, benennt für die Kunst jedoch keinen Gesetzesvorbehalt. Innerhalb der Verfassung ist diese Maxime hochrangig angesiedelt: Sie findet sich in Artikel 5, also ganz an der Spitze der grundgesetzlichen Konkretisierung von Menschenwürde und persönlicher Freiheit und zählt damit zu den am höchsten geschützten Grundrechten.
Dennoch ist auch dieses Versprechen Ergebnis sowohl einer historischen Negativ-Erfahrung als auch einer politischen Diskussion und Produkt gesellschaftspolitischer Normierung. So ist die Freiheit der Kunst nicht ihr originäres Merkmal, sondern schon bei ihrer Kodifizierung durch gesellschaftliche Setzung bedingt. Das Bundesverfassungsgericht hält die Kunstfreiheit für eines der wesentlichen Merkmale einer demokratischen Ordnung. Ob sie auch ein Wesensmerkmal ihrer selbst ist, ist damit jedoch nicht gesagt. Zudem schützt das Recht auf Freiheit die Kunst zwar vor staatlichen Eingriffen, nicht aber vor ihrer gesellschaftlichen Verortung und interdependenten Wirkung.
Kultur in der Politik
Die Freiheit der Kunst, so es sie denn im von ihr angestrebten umfassenden Sinn je gab, war schon immer dadurch begrenzt, dass sie politischen Zwecken zugeordnet war. Das Theater der Antike sollte bilden und Werte vermitteln, aber es sublimierte auch die politische Aktivität durch künstlerische Rahmung. Die Poeten des höfischen Mittelalters stilisierten eine adelige Kultur, von deren Höfen sie abhängig waren. Der Vormärz bezog viel von seinem Optimismus in den Gesängen von Heine, Büchner, Fallersleben und ihren Genossen aus den Anfangserfolgen der politisch Aktiven. Und in der jungen Bundesrepublik hatte die auswärtige Kulturpolitik (wenn auch nicht direkt die Kunst) weniger die Aufgabe, unterschiedliche Perspektiven zu fördern, wie es dann seit Willy Brandt Leitlinie für das Goethe-Institut war. Vielmehr folgte sie dem politischen Auftrag, das ramponierte Deutschlandbild im Ausland – im Rückgriff auf den Begriff der »Kulturnation« des 19. Jahrhundert – wieder ansehnlich zu machen. Auch die Praxis der Kulturförderung nimmt faktisch Einfluss auf die Kunstproduktion, deren materielle Basis sie bis zu einem gewissen Grad darstellt.
Die Liste politischer Implikationen von Kunst lässt sich beliebig verlängern, aber schon die wenigen Schlaglichter zeigen: Die Freiheit der Kunst bezog sich jeweils nur auf ihre ästhetischen Ausdrucksformen, auf den Schutz vor staatlichen Eingriffen und auf die Freiheit von externen Zweckvorgaben. Sie bedeutete keine Freiheit von gesellschaftlichen und politischen Funktionen. »Ars gratia artis« ist ein begehrter Traum – schön, aber illusionär. Erst wenn Kunst gesellschaftliche Wahrnehmung erreicht, wird sie kulturell bedeutsam.
Wenn wir heute über das Verhältnis von Kunst, Kultur, Ökologie und Nachhaltigkeit nachdenken, sollten wir diese historischen Pattern im Auge behalten, denn der eingangs genannte Antagonismus kehrt in der aktuellen Diskussion mit neuer Schärfe wieder.
Im Konflikt der Prioritäten
Der Blick auf die globale Bedrohung durch den Klimawandel und seine Folgen legt die Forderung nahe, ökologische Orientierung müsse in allen Lebensbereichen Vorrang haben, um die viel beschworene Wende in Produktion, Verkehr und eben auch allen anderen gesellschaftlichen Bereichen rasch und nachhaltig möglich zu machen. Künstler*innen, Kunst und Kultureinrichtungen werden dann aufgefordert, ihr Tun diesem Primat der Ökologie unterzuordnen. Auch wenn das nur wenige so apodiktisch formulieren, erfordert die eindeutige Priorisierung doch zwangsläufig eine Posteriorisierung der anderen Bereiche. Allerdings: Auch wenn niemand vernünftig leugnen kann, dass Ökologie heute zu den zentralen Herausforderungen jeder Gesellschaft gehört, ist die Funktionalisierung aller Handlungsfelder – und gerade auch der nach Freiheit strebenden Kunst – zu bloßen Transmissionsriemen nachhaltiger Transformation verfehlt.
Natürlich kann und soll auch Kunst ökologische Themen aufgreifen – in den Bedingungen ihrer Produktion und ihrer Institutionen ebenso wie in ihren Themen und deren ästhetischen Gestaltung. Aber die Forderung, sie müsse das in allen Bereichen tun, verkennt ihre Funktion ebenso wie die Bedingungen der eigenen Arbeit. Die Auswahl künstlerischer Materialien – vom Instrumentenbau über die Staffelei bis zur Bühnentechnik –, die Organisation kultureller Veranstaltungen, Auswahl und Darstellung der Themen und Formen – all das kann so wenig völlig losgelöst sein von gesellschaftlicher und damit auch ökologischer Verantwortung wie es nicht allein oder primär durch deren Vorgaben determiniert sein darf.
Ethische Bindung und Freiheit der Kunst
Gerade weil Kunst und Kultur nicht bedingungslos frei sind, sondern Funktionen von Gesellschaft, kann die Frage nach diesen Funktionen nicht in bloßer Instrumentalisierung enden. Die Wahrheit, der die Kunst verpflichtet ist, ist nicht der Vollzug von Forderungen, die Gruppen der Gesellschaft, und seien sie noch so relevant, für notwendig halten. Zugespitzt: Die Ästhetik steht nicht unter dem Diktat der Ethik. »Wir wissen«, wie Pablo Picasso einmal sagte, »dass Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt.«
Dieser »Umweg« von Begreifen und Bewusstsein ist umso wichtiger, als es zwar keinen Weg in die Zukunft gibt ohne ökologische Entwicklung, ein Konsens über den richtigen Weg dahin jedoch in den gesellschaftlichen Antagonismen verhaftet bleibt. Je gewisser einzelne Gruppen glauben, den einzig richtigen Weg zu kennen, umso deutlicher zeigt das Abgleiten in unterschiedliche Rigorismen, dass die Gewissheit des richtigen Wegs eine Illusion ist – und eine gefährliche dazu, weil sie einem Monismus predigt, der leicht die Tür zum demokratiefeindlichen Fundamentalismus öffnet. Die Kunst mit ihrer Offenheit für Interpretationen und Alternativen, für Möglichkeiten also jenseits beschränkter Gewissheit, hat ihre zentrale Bedeutung im Wandel von Gesellschaft, Werten und Bewusstsein gerade deshalb, weil sie sich jeder Instrumentalisierung – auch der durch Ökologie – entziehen kann und soll. Ihre Nachhaltigkeit entspringt ihrer eigenen Wirkung, nicht der Übernahme von Vorgaben.
Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Kunst und Natur, von gestalterischer Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung erfordert Antworten, die so divers sind wie die Kunst selbst und ihre Interpretation. Die Ungewissheit über den richtigen Weg, die damit verbunden ist, gehört zu den Kernelementen von Ästhetik, in der es um Wahrnehmung und Handlungen geht, nicht aber um die Kategorien von »richtig« und »falsch«. Mit dieser Qualität trägt Kunst auch zur Entwicklung einer Resilienz bei, die gerade in Zeiten von Krise und Umbruch von essentieller Bedeutung ist. Kunst ist grundsätzlich politisch, aber sie ist keine bloße Funktion von Politik, und sei diese noch so gut gemeint und essentiell. Kulturpolitik befasst sich mit den Rahmenbedingungen für künstlerische Tätigkeit und Wahrnehmung, ermöglicht die Reflexion über deren Bezugssysteme, aber sie exekutiert nicht einfach einen politischen Mainstream oder die Forderungen gesellschaftlicher Influencer*innen. Die »balanced scorecard« der Bindung von Kunst zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und der Freiheit von Ästhetik und Zweckrationalität auszutarieren sowie ihre Balance zu sichern ist eine der wichtigsten kulturpolitischen Aufgaben. Sie macht, wenn sie gelingt, die Gesellschaft sowie ihre Kunst und Kultur nachhaltig.
Autor
Dr. Dieter Rossmeissl, *1948, studierte Geschichte, Politische Wissenschaften und Germanistik an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Von 2000 bis 2017 leitete er als Berufsmäßiger Stadtrat (Dezernent) das Ressort Bildung, Kultur und Jugend in Erlangen. Daneben hatte er weitere Funktionen inne, etwa als Vorsitzender des Kulturausschusses des Bayerischen Städtetags, Mitglied im Kultur- und Schulausschuss des Deutschen Städtetags, Mitglied im Deutschen Bühnenverein und Geschäftsführer des Kulturforums der Metropolregion Nürnberg. Er ist seit 2015 Sprecher der Landesgruppe Bayern der Kulturpolitischen Gesellschaft.