»Ist doch gut, dass sie eingesehen haben, dass sie etwas ändern müssen«

Jenin Elena Abbas

18. Mai 2022

Kulturproduktion in der Migrationsgesellschaft: Über die Überwindung eines Spannungsfeldes

Fragen der Zugehörigkeit und Zugänge im Kulturbetrieb sind bereits seit Jahrzehnten Gegenstand von gesellschaftlichen Debatten. Wenngleich die Anwendung des Terminus Diversität oder Diversity erst in den letzten Jahren Konjunktur erlangt hat, wurde bereits in der Vergangenheit die Exklusivität der sogenannten Hochkultur in Frage gestellt und beispielsweise die Zugänglichkeit von musealen Inhalten thematisiert. So stellte bereits in den 1970er Jahren Pierre Bourdieu den demokratischen Charakter des Museums in Frage, indem er formulierte:

»So wird betont, dass ›Museen schon in ihren geringsten Details ihrer Morphologie und Organisation ihre wahre Funktion verraten, die darin besteht, bei den einen das Gefühl der Zugehörigkeit, bei den anderen das Gefühl der Ausgeschlossenheit zu verstärken‹. Statt zur Öffnung und Demokratisierung Kultur beizutragen, wird durch diese Formen der Vermittlung sozialer Ausschluss symbolisch reproduziert.«[1]

Jedoch scheint sich heute ein Bewusstsein innerhalb sowie außerhalb der kulturellen Institutionen breit gemacht zu haben, dass die Frage nach Teilhabe und der altbekannte Ruf nach »Kultur für alle« in der Migrationsgesellschaft erneut auf dem Prüfstand steht.

Nicht zuletzt habe ich dies in vielen persönlichen Gesprächen mit sehr unterschiedlichen Personen auch außerhalb des Arbeitsalltages als Referentin für Diversität & Outreach am Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg erlebt. So traf in den allermeisten Fällen die Tatsache, dass eine solche Arbeitsstelle allein für diesen Bereich geschaffen wurde, auf erstaunlich wenig Erklärungsbedarf. Unter anderem hörte ich Kommentare, wie »ist doch gut, dass sie eingesehen haben, dass sie etwas ändern müssen«. Dies etwa war ein Kommentar eines pensionierten Arztes aus Norddeutschland, der in Syrien geboren ist.

Das Bewusstsein für Fragen der Teilhabe im Kulturbetrieb scheint also gesellschaftlich weitaus stärker zu sein, als sich die Kulturbetriebe selbst vielleicht eingestehen möchten.

Literatur thematisiert konkrete Problemstellungen der Diversität im Kulturbetrieb

Über ein diffuses Bewusstsein hinaus weist eine Vielzahl an Publikationen darauf hin, an welchen konkreten Stellen sich die Kulturproduktion tatsächlich in einem Spannungsfeld mit der Migrationsgesellschaft befindet.

Beispielsweise kritisiert Vera Allmannritter den teils undifferenzierten Blick auf Menschen mit Zuwanderungsgeschichte im Rahmen von Publikumsentwicklung. Sie weist darauf hin, dass

»[…] das Verständnis, dass Menschen mit MH [Migrationshintergrund] nicht als spezielle, einzeln zu bedienende ›Sonderzielgruppe‹ zu behandeln sind, sondern je nach Zielsetzung der Ansprache (nach Generationen, Geschlecht, sozialer Lage etc.) völlig natürlich und selbstverständlich mit eingeschlossen sein können – was jedoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass migrationsspezifische Aspekte in deren Kulturnutzungsverhalten (beispielsweise Interessen, Kommunikationswege, spezielle Besuchsbarrieren) nicht berücksichtigt werden können […]«

Zudem führt sie aus, dass

»[…] die Ahnung, dass Kulturinstitutionen zukünftig nicht umhinkommen werden, sich auf bislang nicht dagewesene Art und Weise ändern zu müssen, sprich ihre gesellschaftliche Position und ihren Habitus zu hinterfragen, sich umfassender für bislang nicht erreichte Bevölkerungsgruppen zu öffnen sowie ihr (evtl. nicht ausreichend multikulturelles) Angebotsspektrum zu überdenken, um mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt zu halten.«

Ausführlich und anhand empirischer Beispiele weist Natalie Bayer auf eine Reproduktion migrantischer Andersartigkeit durch museale Darstellungsweise hin und stellt bei Migrationsdebatten »eine oft massiv unreflektierte Anknüpfung an den nationalen Integrationsimperativ« fest

Wie schwierig sich eine langfristige Teilhabemöglichkeit an Kulturproduktion gestaltet, besonders für Personen mit Fluchtgeschichte, thematisiert etwa die Studie des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, »Bedingungen und Herausforderungen für Künstlerinnen und Künstler«.

Dies sind nur einige der kritischen Auseinandersetzungen mit kultureller Teilhabe in der Migrationsgesellschaft. Gerade Sammlungen aus kolonialen Kontexten, sollten unter Einbezug einer größtmöglichen gesellschaftlichen Beteiligung behandelt werden.

Hinwendung zur Thematisierung von Diversität aus der Perspektive struktureller Problemstellungen – insbesondere im Sinne von Ethnisierungsprozessen

Bemühungen um eine Beseitigung diskriminierungskritischer und struktureller Benachteiligung im Kulturbetrieb wurden mittlerweile vereinzelt politisch thematisiert und in konkrete Maßnahmen übersetzt. Dazu gehören Initiativen, wie etwa die Herausgabe der Expertise zu Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors von »Vielfalt Entscheidet« sowie die Gründung der Beratungsinstitution für Diversität im Kulturbereich (Diversity Arts Culture) in Berlin. Auch durch das Projekt 360° – Fonds für Kulturen der Neuen Stadtgesellschaft erhalten Debatten um Strukturen sowie deren Wandel eine Vielzahl an neuen Impulsen. So fand erst im Januar des Jahres 2022 eine Konferenz mit dem Titel »Aufbrechen! Ran an die Strukturen« statt.

Hier geht es also nicht nur darum, ausschließlich ein zusätzliches Publikum im Rahmen des »Audience Developments« anzuwerben, sondern auch darum, Organisationen langfristig zu verändern und an die Migrationsgesellschaft anzupassen.

Doch trotz kritischer Analysen und Initiativen, bleiben die Diskurse um Diversität stellenweise unzureichend und umgehen eine Aushandlung von diskriminierenden Strukturen. Insbesondere in Hinsicht auf institutionelle Ausschlussmechanismen, mangelt es in vielen Fällen an Fachwissen und Verständnis. Dabei ist ein strukturelles sowie diskriminierungskritisches Verständnis von Diversität die Basis dafür, den eigenen Handlungsrahmen und die Auswirkungen von individuellen Handlungen vollständig zu verstehen und daraus wiederum die richtigen Lösungsansätze zu entwickeln.

Welchem theoretischen Ansatz liegt die strukturelle Thematisierung von Diversität zu Grunde?

Relevant ist dabei, das Verständnis von Diskriminierung allein im Sinne »sichtbarer« Handlungen, etwa in Form von ausgesprochenen Vorurteilen, zu verlassen und sich einem erweiterten Verständnis »sozialer Prozesse« zu widmen: »Phänomene ethnischer Diskriminierung durchdringen unseren Alltag auf komplexe und oft subtile Weise.«[2] Es gilt also, das Phänomen Diskriminierung, heißt  »das Unterscheiden von Personengruppen, also das Unterscheiden, das Gruppen zu Gruppen macht, Hierarchie zwischen Gruppen herstellt und begründet und damit Menschen ausgrenzt und/oder benachteiligt werden«[3] über das Offensichtliche hinaus erkennbar zu machen.

Der aus dem angelsächsischen Raum stammende Begriff der »institutionellen Diskriminierung« basiert auf der Annahme, dass ein institutionelles Setting an der Herstellung, Verfestigung und Modifizierung sozialer Differenzen beteiligt ist. Untersucht wird dabei hauptsächlich »die Einbettung von Diskriminierung in der ›normalen‹ Alltagskultur von Organisationen und in der Berufskultur der in ihnen tätigen Professionellen«.[4]

Dem Soziologen Stuart Hall zufolge werden die Mechanismen des institutionellen Rassismus in den Organisationstrukturen »auf informellen und unausgesprochenen Wegen durch ihre Routinen und täglichen Verfahren als ein unzerstörbarer Teil des institutionellen Habitus weitergegeben. Diese Art von Rassismus wird Routine, gewohnt, selbstverständlich.«[5]

Benachteiligung am Beispiel Schule

Um ein umfangreiches Verständnis davon zu erhalten, wie Organisationen Orte des Ausschlusses werden, macht es Sinn, ein Beispiel aus einem anderen Gesellschaftsbereich heranzuziehen. Insbesondere in Bezug auf die Frage nach Migrationsgesellschaft und die ethno-kulturellen Differenzsetzungen bietet sich die Schulforschung an, um Vergleiche zum Kulturbereich herzustellen.

Hier wird bereits seit Jahrzehnten debattiert, wieso ein bestimmterUmstand »die Investition von möglicherweise vorhandenem sozialem und kulturellen Kapital der Eltern und ihrer Kinder verpuffen läßt und verhindern kann«[6]. In diesem Ansatz liegt der Versuch, die »hinter den Entscheidungen liegenden Kalküle, denen die Schulen und andere bildungspolitische Akteure im Prozeß der Selektion und Allokation folgen«, zu verstehen.

Eine Studie von hoher Relevanz ist dabei eine von Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke in den 1990er Jahren an Bielefelder Schulen durchgeführte Studie, die im Jahr 2002 veröffentlicht wurde. Als Ergebnis hielten Gomolla und Radtke fest, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund Nachteile erhielten, indem Lehrkräfte von »kulturellen Passungsproblemen« sprachen, auf den monolingualen Charakter der Schule bestanden und durch retroaktives Erklären benachteiligende Entscheidung legitimiert und gerechtfertigt wurden.[7] Auch kann der Kulturbetrieb daraus lernen, den Blick auf weitere Ebenen zu richten, die im Schulsystem laut Gomolla zu Ungleichheit führen:

  • politische Vorgaben,
  • lokale organisatorische Strukturen,
  • organisatorische Handlungszwänge und
  • etablierte Praktiken in einzelnen Schulen sowie
  • ein pädagogischer Common Sense, der stark von defizitorientierten Annahmen und
  • statischen Konzepten kultureller Identität bestimmt ist.[8]

Was bedeutet ein Diversitätsverständnis, welches institutionelle Settings und Benachteiligung anerkennt?

Die Schulforschung gibt somit Hinweise darauf, dass organisationale Diversifizierungsprozesse auf dem Prüfstand stehen. Zudem wird erkenntlich, dass die Verknüpfung von Diversität und dem mittlerweile auch im Kulturbereich angekommenen Change-Management eine besondere Leistung zuteil kommen sollte. So weist Gomolla darauf hin, dass die im »scientific management vermittelte Vorstellung, Organisationen seien technischrationale Instrumente, um organisatorische Aktivitäten effizient zu steuern«, in Frage gestellt werden sollte. Sinnvoll sei demnach eine Kombination von Diskriminierungstheorien mit Konzepten der neueren amerikanischen Organisationsforschung. Dabei seien folgende Theorieangebote von Relevanz: lose Kopplung, verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie und Neo-Institutionalismus.[9]

Auf der anderen Seite bedeutet ein Hinterfragen von Diversität im Sinne von Organisationen, Strukturen und Benachteiligung, eine Anerkennung von sozialen Komplexitäten, die im Alltag regelmäßig zu überprüfen sind und machtkritisch in Frage gestellt werden müssen. In einem Beitrag für DeutschPlus e.V. weist Sohal Behmanesh darauf hin, dass bei Diversity Prozessen die Machtkonstellationen komplexer als in klassischen Change Prozessen sind. Denn die Abwehrhaltung sei nicht nur durch die Anstellungsverhältnisse erklärbar, sondern häufig aus gesellschaftlich privilegierten und damit auch machtvollen Positionierungen zu verstehen

»[…] unlike other change initiatives, diversity change has an added psychological component […]. (T)he field of social psychology suggests that discrimination, or bias in favor of one’s own group to the detriment of others, is a cognitive and motivational phenomenon that, when challenged, is met with psychological resistance«.

Ein kritisches Diversitätsverständnis im Sinne institutioneller Ausschlussmechanismen bedeutet also, dass branchenspezifische Strukturen ausreichend verstanden werden sollten. Es bedarf dafür vertiefter wissenschaftlicher Analysen, die nicht nur die internen Strukturen von Kultureinrichtungen, sondern ebenso den Handlungsrahmen, in dem Kultureinrichtungen agieren, in den Blick nehmen. Dazu gehört die Frage nach dem politischen Setting, den sozialen Netzwerken, in dessen Rahmen Kultur produziert wird, sowie vor allem nach den Organisationsstrukturen von öffentlich geförderten Kultureinrichtungen. Dies ist nur möglich, wenn sich der kulturpolitische Diskurs kritischer mit den Strukturen auseinandersetzt. Sonst wird es schwierig, eine Diversitätsentwicklung umzusetzen, die einer modernen Migrationsgesellschaft gerecht wird. Das Verpuffen von »vorhandenem sozialem und kulturellen Kapital« (siehe Fußnote 6) der Migrationsgesellschaft sollte besonders in Kunst und Kultur eben nicht stattfinden. Denn nur, wenn das Thema Diversität nachhaltige Verankerung in den Organisationsstrukturen findet und gesamtpolitisch als Querschnittsaufgabe verstanden wird, erhalten Menschen mit hybriden Lebensrealitäten gleichberechtigt Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb der Mainstream-Kulturproduktion.

Autorin:

Jenin Elena Abbas ist als Referentin für Diversität und Outreach am Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg im Rahmen des 360° Programms – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft der Kulturstiftung des Bundes tätig. Zuvor war sie unter anderem für das Goethe-Institut Kairo als Projektkoordinatorin der Kulturzeitschrift Fikrun wa Fann (Art&Thought) tätig. 

Sie hat an den Universitäten Osnabrück, der American University in Kairo (Ägypten), an der Hochschule Bremen sowie an der San Jose State University (USA) studiert.


[1] Bourdieu 1974: 198 in Bourdieu / Darbel 2006

[2] Gomolla, Mechthild (2006): »Institutionelle Diskriminierung im Bildungs- und Erziehungssystem«, S. 97

[3] Foitzik, Andreas (2010): »Einführung in theoretische Grundlagen: Diskriminierung und Diskriminierungskritik«, in Foitzik, Andreas / Hezel, Lukas J. (Hrsg.) (2010): Diskriminierungskritische Schule, S. 12

[4] Gomolla, Mechthild (2010): »Institutionelle Diskriminierung. Neue Zugänge zu einem alten Problem«, in: Hormel, Ulrike / Scherr, Albert (Hrsg.): Diskriminierung, S. 77-78

[5] Hall, Stuart (2001): »Von Scarman zu Stephen Lawrence«, in: Schönwälder, Karen / Imke Sturm-Martin, (Hrsg.): Die britische Gesellschaft zwischen Offenheit und Abgrenzung: Einwanderung und Integration vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, S. 154–168, hier S. 165

[6] Radtke, Frank-Olaf (2004): Die Illusion der meritokratischen Schule. Lokale Konstellationen der Produktion von Ungleichheit im Erziehungssystem

[7] Gomolla, Mechtild / Radtke, Frank-Olaf (2002/2009): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule

[8] Mechtild Gomolla, Institutionelle Diskriminierung. Neue Zugänge zu einem alten Problem, in: Diskriminierung, Hormel/Scherr (Hrsg.), 2010, S. 81

[9] Ebd.

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