Ein paar Gedanken…
In den letzten Jahrzehnten haben wir über verschiedene Gesellschaften diskutiert. Es ging um die Risikogesellschaft (vgl. Beck 1986), die digitale Gesellschaft, die Kulturgesellschaft, die Kreativgesellschaft (vgl. Florida 209) etc. Und nun sprechen wir über ein neues Thema, eine neue Gesellschaft, die »Next Society».
Aber was ist denn diese »Next Society«? Und wie kommen wir dahin? Müssen wir überhaupt eine »Next Society« anstreben oder passiert dieser Entwicklungs- und Transformationsprozess ohne unser Zutun? In den letzten Jahren habe ich mich auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Kontexten mit der Idee einer Next Society beschäftigt. Und mir scheint es, als wäre der Begriff der Next Society vor allem eine Projektionsfläche für verschiedene Visionen und Ideen.
Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass sich etwas ändern muss. Mit dem Klimawandel stehen wir vor der größten Katastrophe der Menschheit, auf die wir bis heute aber keine adäquate Antwort gefunden haben. Wir sind gescheitert, wollen dies aber nicht anerkennen. Wir wussten seit Jahrzehnten von der drohenden Katastrophe, waren aber nicht bereit, etwas bzw. uns zu ändern. Wir sind immer noch auf der Suche nach dem »richtigen Weg«, und so langsam verstehen wir, dass es nicht um punktuelle Veränderungen, sondern um die komplette Transformation unserer Gesellschaft geht. Meine These ist deshalb, dass wir neu lernen müssen, unseren Lebens- und Kulturraum aktiv zu gestalten.
Der Begriff der »Next Society« klingt wie eine neue, bessere Version unseres Ist-Zustands. So wie wir das Web2.0 und dann das Web3.0 hatten. Aber so einfach ist es nicht. Eine Next Society wäre demnach kein definierter Zielpunkt, kein verheißenes Land, sondern eine Gesellschaft, die in der Lage ist, sich umfassend zu verändern und weiterzuentwickeln, damit sie die großen Herausforderungen wie den Kampf gegen den Klimawandel angehen kann.
Die »Next Society« ist ein Optionsraum, und es geht darum, diesen Optionsraum zu gestalten. Wir entscheiden nicht, ob es die »Next Society« geben wird oder nicht. Wir können aber darüber entscheiden, wie diese »Next Society« aussieht. Zwei Enabler, die dabei eine gewichtige Rolle spielen, sind Nachhaltigkeit und Digitalität. Ich möchte diese beiden Enabler kurz skizzieren:
In den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten ist uns die Endlichkeit unserer Ressourcen immer deutlicher vor Augen geführt worden. Wir müssen uns in unterschiedlichen Situationen und Perspektiven überlegen, wie wir anders, wie wir nachhaltig mit unseren Ressourcen umgehen wollen. Dies betrifft nicht nur ökologische Fragestellungen. Auch der nachhaltige Umgang mit der Zeit oder der eigenen Gesundheit wird immer bedeutender. Nachhaltigkeit betrifft also alle Lebensbereiche. Eine Next Society muss in der Lage sein, nachhaltig zu funktionieren. Sie muss den bewussten Umgang mit allen Ressourcen hervorheben. Das bedeutet aber auch, dass es zu Aushandlungsprozessen bezüglich der Nutzung von Ressourcen kommen wird. Dabei müssen Funktionen von Ressourcen getrennt werden. Wir trennen dann beispielsweise die Funktion Mobilität von der Ressource Automobil. So entsteht eine neuer multifunktionaler Optionsraum. Übertragen auf die Kultur könnte dies beispielsweise bedeuten, dass Konzerthäuser oder Museen in der Zukunft als digital-analoge Gesamtsysteme gedacht werden, die viele verschiedene Funktionen, auch außerhalb der klassischen Aufgaben anbieten, inkl. einer 24/7-Öffnung.
Kommen wir nun zum Enabler »Digitalität«. Ich spreche bewusst von Digitalität und nicht von Digitalisierung. Digitalität meint dabei nicht nur digitale Technologien an sich, sondern auch die damit umgesetzten Funktionen sowie die daraus resultierenden Denk- und Handlungsweisen im Sinne einer digital-analogen Kultur. Durch Digitalität ergeben sich viele neue Optionen für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. So können wir riesige Datenmengen erstellen und analysieren, um Prozesse zu verbessern. Wir können Inhalte visualisieren und so neuartigzugänglich machen. Und wir können Menschen auf nie dagewesene Art und Weise miteinander vernetzen und so immer wieder neue Communitys entwickeln. Wir können die Komplexität unserer Lebensrealität minimieren (vgl. Nassehi 2019). Durch die Nutzung digitaler Technologien entstehen neue Denk- und Handlungsweisen und neue Formen der Partizipation. Viele aktuelle Bewegungen wären ohne digitale Technologien und/oder die damit verbundenen Mindsets nicht möglich gewesen. Digitalität ermöglicht eine neue und erweiterte Form der Öffentlichkeit.
Wenn ich im Kontext des Begriffes »Next Society« von einem Optionsraum spreche, dann möchte ich dies auch bezogen auf die Themen Nachhaltigkeit und Digitalität tun. Dabei muss auch auf die Risiken und offenen Fragen eingegangen werden. Ja, wir können den Enabler der Nachhaltigkeit nutzen, um anders und besser über die Verteilung von knappen Ressourcen nachzudenken. Aber wer entscheidet wie, welche Ressourcen für welchen Zweck genutzt werden? Wie verhindern wir (neue) Ungerechtigkeiten? Welche neuen Muster und Lebensrealitäten sollen entstehen und was ist mit den Menschen, die diese neuen Lebensrealitäten nicht akzeptieren möchten? Sind unsere vorhandenen Formen des Aushandelns in der Lage, die Komplexität der damit verbundenen Fragestellungen zugänglich und transformierbar zu machen? Und welche Rolle kann und/oder soll der Kultursektor darin spielen?
Und auch der Enabler der Digitalität bringt einige Risiken mit sich. Wer darf entscheiden, wie Daten erhoben, analysiert und bewertet werden? Was bedeutet die in Teilen noch immer mangelnde digitale Infrastruktur? Wie können wir Digitalität als Motor neuer Aushandelsprozesse nutzen, wenn gleichzeitig Fake-News und Hate-Speech ihr Unwesen treiben? Wie verhindern wir, dass eine neue digitale Elite entsteht, die diesen Enabler für die Erschaffung ihrer eigenen Vision einer »Next Society« nutzt und dabei ganze Gesellschaftsgruppen ausschließt?
Digitalität und Nachhaltigkeit sind zwei zentrale Enabler für den Optionsraum einer Next Society. Dabei bestehen zwischen beiden weitreichende Wechselwirkungen und Rückkopplungseffekte. Digitalität ermöglicht neue Formen der Nachhaltigkeit, indem beispielsweise Datenmodelle ein besseres Verständnis von Ressourcen ermöglichen oder Optionsräume simuliert und zugänglich gemacht werden können. Zudem können durch digitale Technologien neue Formen des Austausches und der Aushandlung umgesetzt werden. Auf der anderen Seite kann Nachhaltigkeit eine umfassende Wirkung auf die Digitalität haben, indem sie Denk- und Handlungsweisen hinterfragt und somit eine erweiterte Perspektive in die Nutzung digitaler Technologien, aber auch der damit verbundenen Denk- und Handlungsweisen ermöglicht.
Natürlich müssen wir auch über die Rolle des Kultursektors bei der Entwicklung einer »Next Society« diskutieren. Meine These ist hierbei, dass die dort vorhandenen Strukturen, Ressourcen und Mindsets sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene mit einer »Next Society« in der Breite nicht kompatibel sind bzw. die Entwicklung einer solchen Vision eher behindern, anstatt sie zu befördern. Des Weiteren möchte ich behaupten, dass der Kultursektor im Kontext einer »Next Society« selbst vor weitreichenden Transformationsprozessen steht, da er zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachhaltig agiert und letztlich noch immer in der prä-digitalen Ära existiert. Auch der Kultursektor ist ein riesiger Optionsraum.
Was wir feststellen können, ist, dass die Enabler Nachhaltigkeit und Digitalität keine fertigen Werkzeuge sind, die wir nach Belieben für die Entwicklung einer »Next Society« nutzen können. Vielleicht ist das die große Chance: Wir müssen zuerst akzeptieren, dass weder die »Next Society« an sich noch die damit verbundenen Enabler Nachhaltigkeit und Digitalität klar definiert sind. Sicher ist nur, die »Next Society« ist unausweichlich, weil wir uns weiterentwickeln müssen und/oder weiterentwickelt werden. Aber sie muss aktiv gestaltet werden. Wir müssen Verantwortung übernehmen.
Wir möchten dies u.a. in den Future Talks tun. Die Future Talks sind keine Strategiegespräche. Es geht nicht darum, die fünf Parameter für eine erfolgreiche »Next Society« zu definieren. Es geht vielmehr darum, zu überlegen, wie wir diese neue Gesellschaft aktiv gestalten können. Dies bedeutet auch eine Rückschau auf die Formen der Transformation, die wir in unserer Gesellschaft etabliert haben. Wir müssen uns beispielsweise fragen, warum wir bis heute nicht in der Lage waren, den digitalen Optionsraum zu nutzen und zu gestalten? Was passiert mit einer Gesellschaft, die Angst vor ihrer eigenen Weiterentwicklung hat? Ist es nachhaltig, Angst zu haben? Vielleicht basiert die »Next Society« auf einem Gedanken des Komponisten Arnold Schönberg: »Ich bin ein Konservativer – ich bewahre den Fortschritt«. In diesem Sinne freue ich mich auf einen spannenden Austausch, in der Hoffnung, am Ende mehr neue Fragen als Antworten generiert zu haben.
Quellen und Literaturverzeichnis:
Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne.
Florida, Richards (2019): The rise of the creative class.
Nassehi, Armin (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft.
Christoph Deeg bezeichnet sich selbst als Gestalter des digital-analogen Lebensraumes. Der studierte Jazz-Musiker beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Transformation von Organisationen im Kontext der Digitalisierung. In diesem Zusammenhang hat er mehr als 150 Kultur-Institutionen, Organisationen und Unternehmen beraten und begleitet und war dabei in mehr als 20 Ländern aktiv. Ein weiterer Fokus seiner Arbeit liegt auf der Nutzung von Spiel-Modellen und Spiel-Mechaniken im Kontext digital-analoger Transformationsprozesse. Zitat:“Das Internet ist menschlich“ Weitere Informationen unter www.christoph-deeg.com
Förderung
Dieses Projekt wird gefördert durch das Umweltbundesamt und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz. Die Mittelbereitstellung erfolgt auf Beschluss des Deutschen Bundestages.