Die 2020er-Jahre stehen im Zeichen der Transformation: Übergänge in die »Twin Transition« oder »Next Society« beschreiben kulturpolitische Gestaltungsvisionen, in denen die Zukunftsaufgaben Digitalität und Nachhaltigkeit Hand in Hand verlaufen. Was bedeutet das für den Kultursektor? Welche Kompetenzen brauchen wir? Und welche Rolle kann die Kulturelle Bildung dabei spielen?
Naturkatastrophen, Pandemie, Krisen und Krieg werden europäische Realität und erschüttern unser Verständnis von Normalität. Zwischen Schock und Sorge wecken Krisenzeiten gleichermaßen ein neues Problembewusstsein sowie den Wunsch, Zukunft aktiver zu gestalten. Wurden die großen Zukunftsaufgaben, digitaler Wandel und Transformation zu einer ökologisch-nachhaltigen Gesellschaft, zunächst noch separat, als unabhängige Entwicklungen, betrachtet, so wird inzwischen der Ruf nach einer systemischen Perspektive laut: »Twin Transition« nennen die Vereinten Nationen und die Europäische Union diese Transformationsoffensive mit dem Ziel, Lösungsansätze künftig wechselseitiger zu betrachten und stärker aufeinander abzustimmen. Es geht um eine Vision, die das große Ganze in den Blick nimmt.
»Twin Transition« im Kultursektor: Synergieeffekte & Zielkonflikte
Digitale Innovationen können in vielen Bereichen gezielt zur Lösung von Nachhaltigkeits-Herausforderungen eingesetzt werden, indem sie Daten als Schlüsselressource nutzen: Instrumente für Monitorings, Analysen, Matchings, Mappings, Simulationen, Prognosen oder Kollaborationen vermehren Wissens-, Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten gravierend. Damit liefert die »Digitalisierung« – in ihrer technisch-funktionalen Lesart verstanden – einen innovativen Werkzeugkasten zur Steigerung von Effizienz, Konsistenz und Suffizienz in Kultureinrichtungen. Die »Digitalität« – verstanden als gesellschaftliche Lesart der Transformation – bringt wiederum neue, kulturelle Praktiken, Formen des Miteinanders, Wissens, Teilens und Erzählens hervor, die uns bei der Gestaltung einer Nachhaltigkeitskultur unterstützen können.
Zielkonflikte treten besonders im Spannungsverhältnis von »Lang- vs. Kurzlebigkeit« und »Weniger vs. Mehr« zutage: Entgegen dem Suffizienz-Gedanken der Nachhaltigkeit unterliegt die digitale Transformation einer rasanten Wachstumslogik. Auch wenn sie mit dem Versprechen von Dezentralisierung und Entmaterialisierung einhergeht, ist die materielle Basis von Bits und Bytes problematisch. Hinter den scheinbar schwerelos in der Cloud schwebenden Angeboten verbergen sich stromintensive Netzwerkinfrastrukturen, die sich noch immer überwiegend aus fossilen Energien speisen. Gegenwärtige KI-Entwicklungen lassen nur erahnen, welche technologiegestützten Wege wir künftig beschreiten werden. Es stellen sich Fragen nach neuer Verantwortung bezüglich digitaler Infrastrukturen, Konsummustern, Machtstrukturen, Inhalten und Kommunikationsformen, die im Ordnungsrahmen der globalen Nachhaltigkeitsziele zu verhandeln sind.
Das Projekt »Digitalität als neuer Treiber einer Kultur der Nachhaltigkeit« der Kulturpolitischen Gesellschaft formulierte den dringenden Auftrag an den Kultursektor, diese Prozesse »auf seinem Weg in eine Next Society« strategisch zusammenzuführen, um zukunftsfähige Wege für eine globale Nachhaltigkeitsagenda im (post-)digitalen Zeitalter zu beschreiten. Fakt ist jedoch: Die Angelegenheit ist komplex, die Zukunft ungewiss und die Lösung(en) für »wicked problems« in unserer »VUCA-Welt« uneindeutig. Was braucht’s also?
Transformationskompetenzen als Voraussetzung
Es wird um neue Formen der »Wahrnehmung« und der »Gestaltung« gehen, konstatiert Christoph Deeg im ersten »Next Society-Future Talk«. Transformation im Außen braucht Transformation im Innern. In der Transformationsforschung wird die »Innere Transformation« als ein zentraler Hebelpunkt (»Deep Leverage Point«) behandelt. Neben dem spezifischen Fach- und Transformationswissen gilt es also, fachübergeifende Transformationskompetenzen zu stärken. Als Fähigkeiten, Denkweisen und Haltungen, die es ermöglichen, konstruktiv, vorausschauend und selbstwirksam in Veränderungsprozessen zu agieren, umfassen sie – je nach Kontext z.B.: Adaptabilität, Kreativität, Resilienz, Selbstreflexion, Empathie, Ambiguitätstoleranz, Vorstellungsvermögen, Kommunikationsfähigkeiten, die Bereitschaft zur Zusammenarbeit oder systemisches Denken.
Es muss also ein essentieller Baustein sein, strategische Weichenstellungen im Bereich (Fort-/Weiter-)Bildung zur »Qualifizierung kultureller Infrastrukturen im Hinblick auf Transformationskompetenzen« vorzunehmen, wie auch Henning Mohr es in »Digitalität als neuer Treiber einer Kultur der Nachhaltigkeit« (S. 73) fordert. Wir alle dürfen uns in diesem Zusammenhang als lebenslang Lernende begreifen, die sich immer wieder neu ins Verhältnis zu ihrer ständig verändernden Welt setzen (müssen). Diese Fähigkeiten können, anders als Wissen, nicht diskursiv angelesen werden, sondern erfordern praktische Anwendungs- und Experimentierfelder. In dem Kontext bricht Dr. Hilke Marit Berger in ihrem Blogbeitrag eine Lanze für die transformative Kraft der Künste und macht sich für eine »Gestaltende Verantwortung« als gesellschaftliche Notwendigkeit stark, denn »[i]m Entwerfen der Zukunft entsteht Zukunft eben auch ein Stück weit.«
Transformation & Kulturelle Bildung
Beschrieben werden transformative Bildungspotenziale, die im gestalterischen Zusammenspiel von Kunst, Digitalität und Nachhaltigkeit entstehen können. Diesen Faden weiterspinnend soll hier die besondere Rolle der Kulturellen Bildung, als das vermittelnde und pädagogische sowie ästhetisch-bildungstheoretische und -praktische Feld des Kultursektors, hervorgehoben werden. Sie umfasst die breiten Felder formaler, non-formaler und informeller Bildung, für Kinder und Jugendliche sowie für Erwachsene, und befähigt diese, sich mit Ausdrucksformen der Kunst und Kultur zu sich selbst und zu der sie umgebenden Welt zu verhalten.
Angebote Kultureller Bildung sind gewissermaßen die Einladung an alle, in Resonanz mit den Künsten zu treten, sie als Ausdrucksmöglichkeit zu erkennen und mittels ästhetischer Praktiken in einen Dialog mit sich selbst und der Welt zu gehen. Es entstehen Prozesse des sinnstiftenden (Ein-)ordnens. In ihren Räumen kann eine interessenorientierte Gestaltungspraxis in der eigenen Lebenswelt entwickelt und als selbstwirksam wahrgenommen werden – sich selbst als »erfinderisch […] zu erleben, fördert den Mut, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Kulturelle Bildungstärkt das Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten.« Ausgehend von einer selbstwirksamen Gestaltungspraxis auf der persönlichkeitsbildenden Ebene entstehen Chancen für gestaltende Teilhabe auf gesellschaftlicher Ebene.
Im Artikel »Kulturelle Bildung und gesellschaftliche Transformation. Eine Zustandsbeschreibung« zeigt Prof. Dr. Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss sowohl bildungstheoretische wie auch -praktische Potenziale der Kulturellen Bildung auf, »um sich als Subjekt in einer Gesellschaft, die derzeit einen massiven Transformationsdruck spürt, zu orientieren und zur Transformation gestaltend beizutragen.« Die ästhetische Auseinandersetzung bietet besondere Möglichkeiten für transformatorische Bildungsprozesse, »da es häufig nicht-sprachliche Formen sind, die diesen Erfahrungen zugrunde liegen und die leiblich vermittelt eine besondere Kraft entfalten können.«[1] In ihrer offenen Grundhaltung kann sie uns dazu befähigen den Umgang mit Heterogenität und Unschärfe zu üben und neue Perspektiven auf (Um-)Welten zu entwickeln.
Hat Kulturelle Bildung den Anspruch, Bildung für Zukunft zu sein, so formuliert sie wiederum auch den Auftrag an ihre Träger*innen, sich immer wieder neu mit den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung und den Neukonfigurationen einer (post-)digitalen Lebenswelt in Einklang zu bringen und zu prüfen, inwiefern ihre Diskurse, Programmatiken und Praktiken die Teilhabe- und Gestaltungsversprechen für kommende Generationen tatsächlich fördern. Ebenso kann sie untersuchen, welche neuen Bildungsräume an den Schnittstellen zu Digitaler Bildung, Medienpädagogik, Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), politischer Bildung, Globalem Lernen, »Futures Literacy« oder etwa Design-Praxen (Transformation Design, Design Futuring, Speculative Design, etc.) entstehen. So kann die Kulturelle Bildung Räume eröffnen, um einen kreativ-künstlerischen und zugleich diskursiv-kritischen Zugang zu Transformationsthemen zu ermöglichen und eine gestaltende Auseinandersetzung des Subjekts anzuregen.
Fazit
Es mag auf den ersten Blick zaghaft, abstrakt oder vielleicht sogar pathetisch erscheinen, bei den Anforderungen an eine »Next Society« über Potenziale sinnlicher (Selbst-)Bildungsprozesse nachzudenken. Angesichts drängender Problemlagen bieten diese kein schnelles Rezept. Dahinter steckt die Überzeugung, dass Transformation, anders als Veränderung, eine fundamentale Neukonfiguration unserer selbst verlangt – eine Kalibrierung hinsichtlich unserer Wahrnehmungsfähigkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten, einen Mindshift.
Kulturpolitik – als Gesellschaftspolitik – hat die Aufgabe, Samen für langfristige, transformative Bewegungen zu säen, wenn sie den komplexen Fragen unserer Zeit gerecht werden und die Weichen für einen zukunftsfähigen Kultursektor stellen möchte. Es braucht neue Kompetenzen. Die Stärkung und zeitgemäße Weiterentwicklung unserer eigenen, kulturellen Bildungspraxen, kann uns dabei, im Sinne einer lebhaften und lebenslangen Bildungskultur, als ein weiterer Baustein helfen – im Umgang mit Kultur und den Künsten – diese Kompetenzen auszubilden, alternative Zukünfte zu entwerfen und dem uneindeutigen Morgen mit einer neugierigen, selbstreflexiven, -wirksamen und gestaltenden Haltung zu begegnen. Die Künste berühren uns, irritieren uns und fordern uns heraus, disruptiv zu denken.
Die sich aufdrängende Komplexität der nächsten Jahre fragt nach einem Durchbrechen von Pfadabhängigkeiten und Silos, einem offenen, ganzheitlichen Blick, nach Mut und Experiment, um Synergien der »Twin Transition« zu stärken und einen Umgang mit Zielkonflikten zu finden. Die Kulturelle Bildung, als transformative Bildung, kann eine sinnhafte und produktive Rolle in der kulturpolitischen Vision und Gestaltung einer »Next Society« spielen.
[1] Das dazugehörige Dossier, auf das vertiefend hingewiesen sei, widmete sich zuletzt strukturellen Transformationsfragen und den Potenzialen Kultureller Bildung hinsichtlich der Entwicklung von Wahrnehmungsfähigkeiten und Gestaltungsmöglichkeiten.
Julia Valerie Zalewski, geboren 1995, ist Kunst-/Medienwissenschaftlerin (HBK/TU Braunschweig), »Transformationsmanagerin Nachhaltige Kultur« (Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit) und studiert »Kulturvermittlung, Kulturpolitik und Transformation im Kontext der Künste« (Uni Hildesheim). 2021/22 war sie als Projektreferentin für die »dive in«-Qualifizierung an der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel tätig. Seit 2023 betreut sie dort die »SIN-Beratung. Start in die Nachhaltigkeit für Kulturinstitutionen«.