Wir brauchen Utopien!

Theresa Hannig

24. April 2024

Nicht nur für Kultur und Kulturpolitik sind Utopien gefragt: Jede und jeder sollte sich an Utopien heranwagen, sich trauen und die Verantwortung übernehmen, die Zukunft zu gestalten. Ludwig Wittgenstein hat einst gesagt: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« Ohne Sprache keine Kommunikation, kein Austausch, kein Konkurrieren und Vermischen verschiedener Weltsichten, Interpretationen und Argumente. Aber nicht nur die Sprache ist eine fundamentale Grundlage für das Verständnis der Welt, sondern auch, welche Geschichten wir uns mit ihr erzählen. Damit meine ich einerseits die größeren gesellschaftlichen Narrative, die unser Sein und Handeln einrahmen, aber auch ganz explizit erzählte Geschichten in Form von Büchern, Theaterstücken, Filmen, Songs und Computerspielen.

Wir sind alle Teil einer Geschichte

In dem Maße, in dem viele westliche Gesellschaften immer offener und liberaler werden und das Bedürfnis für Diversität und Vielfalt anerkannt wird, verändert sich auch das Storytelling, das den Zeitgeist widerspiegelt und ihm gleichzeitig seine Form gibt. War es in den 90er Jahren noch problemlos möglich, Männer vom Mars und Frauen von der Venus kommen zu lassen und dies als Beweis für die vermeintlich unüberbrückbaren Differenzen der Geschlechter zu postulieren, sind »wir« heute, schon wesentlich weiter. Es geht nicht mehr darum, die Geschlechter voneinander abzugrenzen. »Wir« verstehen das Geschlecht als Kontinuum, in dessen Spektrum sich viele unterschiedliche Eigenschaften, Wünsche und Identitäten manifestieren. Dies ist das Selbstverständnis der modernen Gesellschaft zu der ich mich zähle – deshalb das »wir« in Anführungszeichen.

Gleichzeitig sehe ich, dass es ganz andere Gesellschaften gibt, die zwar nicht örtlich, aber dafür perspektivisch von meiner Lebenswelt abweichen. Ein Blick in die Instagram- oder TikTok-Reels zeigt Männer, die sich gerne selbst als »Alphas« bezeichnen und ein Geschlechterverständnis propagieren, das alttestamentarischen Texten entspringen könnte: Der Mann als unangefochtener, mächtiger, selbstwirksamer Herr über Weib und Kind; darunter die Frau als unterwürfige, minderwertige Dienstleisterin von Sex- und Sorgearbeit. Diversität und Queerness: Fehlanzeige. Und während wissenschaftliche Fachgesellschaften eine neue Leitlinie für den Umgang mit transgender Kindern und Jugendlichen erarbeiten, verbietet der Bayerische Ministerpräsident seinen Beamt*innen das Gendern.

Die Gegenwart ist unübersichtlich: deal with it!

Manchmal tun mir die Schüler*innen leid, die in Zukunft die Geschichte des 21. Jahrhunderts lernen müssen. Ich sehe schon wütende Elternbriefe, in denen gefragt wird, wie die Kinder denn bitte all diese widersprüchlichen Fakten lernen sollen. Waren die Menschen zu Beginn des KI-Zeitalters jetzt liberal oder konservativ, religiös oder atheistisch, demokratisch oder autoritär, wie sollen die Kinder diese Fragen in der Schulaufgabe des Jahres 2124 bloß richtig beantworten? Tja, liebe Eltern aus der Zukunft, da kann ich auch nicht weiterhelfen. Offenbar sind wir alles gleichzeitig. Das mag frustrierend sein. Es zeigt aber auch die unbändige Variabilität der menschlichen Vorstellungskraft, und wie stark Narrative – also sinnstiftende Erzählungen für eine Gruppe oder Kultur – unsere Interpretation der Welt und unsere eigene Position darin beeinflussen. Gerade in der heutigen Zeit, in der sich ein immer größerer Teil des Alltags digital abspielt, stellen wir fest, wie stark uns über das Internet und die Sozialen Medien geteilte Inhalte zu einer Community zusammenschweißen. So fühle ich mich einer Schwarzen amerikanischen Feministin oder einer nichtbinären Autor*in näher als meinem biodeutschen Nachbarn, der auf der Heckscheibe seines SUVs frauenfeindliche Aufkleber spazieren fährt.

Meine Community prägt mich

Der Austausch mit meiner Community, die geteilten Informationen, die Diskussionen und persönlichen Erfahrungsberichte prägen mich und meine Sicht auf die Welt. Wenn ich dann im realen Leben neue Menschen kennenlerne, ist es immer spannend zu sehen, ob und wie stark sich unsere Online-Communities überschneiden, welchen Accounts wir gegenseitig folgen oder welche Influencer*innen, für einige prägend sind und von anderen überhaupt nicht wahrgenommen werden. Lange Zeit war so ein clash of Filterbubble der Anfang von Streit, weil man die Unwissenheit des Gegenübers als Provokation und die unterschiedliche Sprache als Affront auffasste. Mittlerweile wissen wir, wie sehr uns die digitale Umwelt prägt und dass unterschiedliche digitale Lebenswelten verschiedene Verhaltensweisen erzeugen, die nicht notwendigerweise feindselig, sondern einfach anders sind. Und es ist ein absoluter Mehrwert, mit offenen Augen und Ohren solche Gespräche zu führen, nicht um den eigenen Standpunkt als Pflock in den Boden zu rammen um seinen Turf abzustecken, sondern um zu erkunden, welche Sichtweisen parallel zur eigenen existieren.

Je mehr wir in der Lage sind die Gleichzeitigkeit und manchmal auch Widersprüchlichkeit verschiedener Kulturen und Narrative auszuhalten, desto eher sind wir auch bereit, neue Ideen für zukünftige Gesellschaften und Lebensweisen anzunehmen. Denn die Geschichten, die wir uns heute erzählen, prägen unsere Vorstellung von der Zukunft.

Wir erzählen uns eine düstere Zukunft

Erinnern Sie sich doch bitte mal an das letzte Zukunftsszenario, das Sie gesehen, gelesen oder gehört haben. Und damit meine ich ausnahmsweise nicht den letzten IPCC Report oder die Nachrichten über Artensterben, Mikroplastik, oder dräuende Pandemien, sondern fiktive Geschichten. Erinnern Sie sich bitte an Buchcover, Serien oder Blockbuster und vielleicht fällt Ihnen auf – wir haben die Welt schon unzählige Male untergehen sehen: Meteoriteneinschlag, Vulkanausbruch, Atomkrieg, Monsterwelle, Ewiges Eis, Alien Invasion, Pandemie, you name it … ! Und jetzt vergegenwärtigen Sie sich bitte all die erfolgreichen Filme, Bücher und Geschichten, in denen die Welt gerettet wurde. Und ich meine jetzt keine einsamen Held*innen, die gegen Supervillains kämpfen oder einen Ring in einen Vulkan werfen mussten, sondern eine komplette Rettung, eine komplette Heilung, so wie das Armageddon oder der Deep Impact oder die Zombie Apokalypse, die die komplette Zerstörung unserer Zivilisation bedeutet haben. Und, fällt Ihnen was ein?

Vielleicht geht es Ihnen wie mir und Sie merken: da ist nicht viel. Da sind nicht viele Geschichten, die Hoffnung machen, wenig Visionen, wenig Utopien, kaum Konzepte für eine bessere Welt. Egal wo wir hinschauen: Wenn wir uns fragen, wie die Zukunft wird, lautet die Antwort meist: Düster. Und seien wir ehrlich: Wenn wir uns die oben genannten Nachrichten und wissenschaftlichen Fakten vor Augen führen, dann scheinen diese den Weg in den Untergang zu bestätigen.

Der Untergang ist nicht unvermeidlich

Und dennoch: Es muss nicht notwendigerweise so kommen! Unser Schicksal als Menschheit ist nicht besiegelt. Niemand sagt, dass wir morgen genauso weitermachen müssen wie heute. Kein physikalisches Gesetz bedingt unseren Untergang. Im Gegenteil. Gerade in pluralistischen und demokratischen Gesellschaften können wir neue Gesetze, neue wirtschaftliche Systeme, neue Schutzmechanismen und neue Strategien entwickeln, um eine nachhaltige Zukunft zu gestalten. Das geht aber nur, wenn wir eine Vorstellung davon haben, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte. Und das geht nur, wenn wir nicht nur unsere eigene Geschichte immer wiederkäuen, sondern den unzähligen anderen Stimmen, die heute schon ihre Geschichte, ihre Version der Realität und Zukunft erzählen, zuhören! Wir müssen uns trauen, mit neuen positiven Geschichten von der Zukunft einen Möglichkeitsraum in den Köpfen der Menschen zu schaffen, der zuvor nur von pessimistischen Aussichten und Untergangsszenarien besetzt war.

Sich aktiv für positive Zukünfte entscheiden

Wir können nur das tun, was wir vorher gedacht haben, was wir uns gegenseitig erzählt haben, wofür wir eine Sprache gefunden haben. Und deshalb ist es so wichtig, sich aktiv mit neuen positiven Perspektiven zu beschäftigen, damit wir nicht nur düstere Stereotype und destruktive Erzählungen kennen, sondern hoffnungsvolle Alternativen in Betracht ziehen. Denn wer immer nur schwarzgesehen hat, kann sich keine Farben ausdenken. Und wir müssen die Zukunft erst denken, bevor wir sie erschaffen können. Das Schöne ist: Es gibt sie bereits. Die Utopien, oder wie Kim Stanley Robinson sagt, die Anti-Dystopien. Denn echte Utopien sind verdammt schwer zu finden und stehen – zu Recht – immer im Verdacht, verkappte Diktaturen zu sein. Aber Anti-Dystopien, also Geschichten, in denen zwar nicht alles perfekt zugeht und nicht alle Probleme der Welt gelöst sind, aber Vorschläge gemacht werden, wie wir aus der fehlerhaften Realität eine bessere, nachhaltigere Welt machen könnten, sind vielleicht der Schlüssel zu einer besseren Zukunft.
Sie finden diese Geschichten unter verschiedenen Labeln: Als Afrofuturismus, als Hopepunk, als Climate Fiction oder Solarpunk. Überlassen Sie es nicht dem Zufall, aus Versehen über diese Geschichten zu stolpern. Entscheiden Sie sich absichtlich für sie, um einen neuen Blick auf die Zukunft zu bekommen, um neue Ideen zu entwickeln und Hoffnungen zuzulassen.

Aber ich muss Sie warnen. Die Beschäftigung mit positiven Zukunftsszenarien könnte ungeahnte Nebenwirkungen haben. Nicht nur könnte es sein, dass Sie Freude daran empfinden, sich absichtlich mit positiven anstatt negativen Zukünften zu beschäftigen. Es könnte auch sein, dass Sie Ihre eigene Rolle überdenken und plötzlich Möglichkeiten sehen, über privates, politisches oder gesellschaftliches Engagement die bessere Zukunft mitzugestalten. Denn für eine gute Zukunft gilt das gleiche wie für gute Politik, gutes Essen und gute Literatur: Sie ist Handarbeit.


Theresa Hannig studierte Politikwissenschaft und arbeitete als Softwareentwicklerin, bevor sie sich hauptberuflich dem Schreiben zuwandte. In ihren Texten beschäftigt sie sich mit der Zukunft unserer Gesellschaft in Hinblick auf Kapitalismus, KI und Klimawandel. Hannigs Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie auf der Leipziger Buchmesse für ihren Roman Pantopia den Phantastik Literaturpreis Seraph für das Beste Buch 2023. Für ihr Engagement, schreibende Frauen in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen, wurde sie 2023 mit dem Tassilo-Kulturpreis der Süddeutschen Zeitung ausgezeichnet.