Wie würde eine Welt aussehen, in der wir bestmöglich ausgestattet sind, gerechte, solidarische und fürsorgliche Zukünfte zu gestalten? In der wir nicht nur mutige Ideen und Visionen haben, sondern auch die Werkzeuge und Methoden, um diese Wirklichkeit werden zu lassen?
Wenn ich darüber spreche, dass wir bei SUPERRR digitalpolitische Themen gesamtgesellschaftlich kontextualisieren, mit dem Ziel, gerechtere und vielfältigere Zukunftsvisionen zu gestalten, tun viele Menschen das als feministische Träumereien und Wunschdenken ab.
Warum eigentlich? Warum sind wir so viel lieber bereit dazu, viel zitierten Gemeinplätzen Glauben zu schenken und aktuelle Zustände zu unverrückbaren Tatsachen zu erklären? Und das, obwohl wir doch tagtäglich sehen und erleben, dass unsere altbekannten Denkweisen und Ansätzen nicht greifen – sie weder wirkliche Lösungen für die viel beschworenen Polykrisen bereithalten noch auf Zukünfte hinwirken, die Sicherheit, Gerechtigkeit und Sorge für und um alle Menschen, unsere Umwelt, unser Ökosystem priorisieren.
Die Erzählungen, die wir als Gesellschaft haben, bestimmen, wie wir auf die Welt blicken, was und wie wir denken und uns vorstellen (können). Umgekehrt bestimmt unsere Denk- und Vorstellungskraft diese Erzählungen – und manifestiert damit auch unsere Realitäten. Statt mutige Visionen zu entwerfen, sehen wir gerade vor allem Erzählungen, die den Status-quo als vermeintlich unausweichliche Kontinuität festschreiben.
Debatten um Digitalisierung und technologische Entwicklungen bedienen häufig einseitige Narrative von Innovation, Effizienzsteigerung und Wirtschaftswachstum. Oft sind es aber genau ebendiese Narrative, die die negativen Auswirkungen von Technologie befeuern und am stärksten marginalisierte Gruppen betreffen – seien es Verletzungen der Privatsphäre oder Datenverzerrungen beim maschinellen Lernen, die Ungleichheiten in der realen Welt reproduzieren.
Digitalisierung muss gesamtgesellschaftlich betrachtet werden, um die oft unsichtbaren Machtstrukturen, unausgesprochenen (Vor)Annahmen und systemischen Zusammenhänge sichtbar zu machen. Das bedeutet auch, Innovationsnarrative in Frage zu stellen. Welche Interessen verfolgen sie, welche impliziten Werte und Weltbilder, Perspektiven und Positioniertheiten haben sie im Blick – und welche werden außen vor gelassen? Auf welche Zukünfte zahlen sie ein? Und: Ist eine technische Lösung wirklich die richtige Lösung? Denn allzu oft stecken Diskurse um Digitalisierung in »Techniksolutionismus« und kleinteiligen Regulierungsversuchen fest, die im Schadensbegrenzungsmodus verharren und das große Ganze nicht im Blick haben. Aber Schadensbegrenzung verspricht weder Heilung noch packt sie Probleme an ihrer Wurzel.
Wie könnte es anders gehen? Wie können wir alternative Visionen und Erzählungen entwickeln, die auf gerechtere Zukünfte hinarbeiten – Zukünfte im Plural, die der Unterschiedlichkeit an Perspektiven, Visionen und Hoffnungen wirklich Rechnung tragen? Wie können wir Allianzen schmieden, die uns erlauben, das Wissen und die Vorstellungskraft unterschiedlicher Disziplinen, Arbeitsfelder und Menschen zusammenzubringen? Und welche Räume braucht es, damit diese Zukünfte bereits im Hier und Jetzt verkörpert – sie spürbar und erfahrbar werden?
Ein Zitat der wunderbaren Wissenschaftlerin und Autorin bell hooks bietet einen Ausgangspunkt: »What we cannot imagine cannot come into being« (»Was wir uns nicht vorstellen können, kann auch nicht Wirklichkeit werden«). Wie also können wir unsere Vorstellungskraft stärken?
»Futures Literacy« ist die Kompetenz, unterschiedliche Zukünfte zu imaginieren, zu antizipieren und zu planen. Sie ermöglicht es uns, unsere Erzählungen über das, was war, ist und sein könnte, kritisch zu befragen und alternative und wünschenswerte Zustände zu imaginieren, die sich in konkrete Maßnahmen und Handlungsmöglichkeiten übersetzen lassen.
Wie eine zivilgesellschaftliche Allianz aussehen könnte, die gemeinschaftlich und strategisch auf wünschenswerte Zukünfte hinarbeitet, haben wir in unserem Pilotprogramm Futures Literacy for Civil Society erprobt. Gemeinsam mit zwölf zivilgesellschaftlichen Organisationen haben wir »Zukünftekompetenz« aufgebaut, Methoden getestet und alternative Zukunftsräume entworfen. Ein wichtiger Schritt war hierbei, sichtbar zu machen, dass dominante Erzählungen nicht einfach so da sind, sondern Interessen verfolgen, bestimmte Werte und Normen, Personengruppen und Positioniertheiten im Blick haben und andere außen vorlassen. Denn das bedeutet auch: Sie sind veränderbar und gestaltbar! Ein machtkritischer wertebasierter Ansatz und das Zusammenbringen unterschiedlicher Perspektiven ermöglicht es, Risiken zu antizipieren, Entscheidungen zu diversifizieren und somit alternative Szenarien zu entwickeln.
Gerade Kunst- und Kulturräume haben ein unglaubliches Potenzial, diese Form der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Imaginierens, aber auch des körperlich Spür- und Erfahrbarmachens zu ermöglichen – sind sie doch per se immer schon Orte des Experimentierens, der ungewohnten Denkpfade und Schöpfungskraft. Denn Zukünftearbeit ist nicht nur Methodenarbeit, sie ist auch somatische Praxis und Verkörperung, die als performativer Akt Wirklichkeit erzeugt – im Hier und Jetzt.
Damit diese Räume Realität werden und wir von der Vorstellung in die Umsetzung kommen, braucht es strukturellen Wandel. Wenn Inklusion und Diversität mehr sein sollen als Buzzwords, braucht es andere Rahmenbedingungen, die diese Art der Arbeit, insbesondere von marginalisierten Communities, explizit fördert. Das bedeutet konkret: ein Umdenken von Förderlogiken in Richtung Verlässlichkeit, Nachhaltigkeit und ernsthafte Beteiligungsprozesse. Mehr Geld, langfristige Planbarkeit für Mitarbeiter*innen, weniger Arbeitsbelastung, Sicherheit und Anerkennung, damit diese Räume der Wissensvermittlung und der gelebten politische Praxis Wirklichkeit werden können. Denn es ist zutiefst politisch, wer über Zukünfte nachdenkt, sie imaginiert, ersehnt, plant und erschafft. Und: Wer überhaupt die Zeit, Ressourcen, Lebensbedingungen hat, Zukünftearbeit zu leisten.
»Where we stand determines what we’re able to see« (»Wo wir stehen [Anm. der Verf.: im Sinne unserer eigenen Positioniertheit, Werte, Normen] bestimmt, welche Blickwinkel/Standpunkt wir einnehmen können«), so die Schriftstellerin Octavia Butler. Im Moment hat vor allem ein kleiner, sehr privilegierter Teil unserer Gesellschaft überhaupt die Möglichkeiten, Zukünfte zu gestalten. Das hat zwangsläufig Auswirkungen auf die Zukunftvisionen und -szenarien, die uns umgeben. Wenn wir wirklich an gerechteren Zukünften bauen wollen, brauchen wir vielfältige Perspektiven, Ideen und Visionen – und die Repräsentation und Sichtbarkeit von marginalisierten Communities, Menschen mit (un)sichtbaren Behinderungen, migrantischen, queeren, nicht-weißen Personen, Menschen mit Fluchterfahrung, Menschen, die prekär leben, aus nicht akademisierten Kontexten kommen.
Zukünftekompetenz fördert eine informierte und gestalterische Haltung – so auch zu digitalen Technologien. Sie ermöglicht es nicht nur, Themen und Fragestellungen zukunftsorientiert und multiperspektivisch zu denken, sondern ist auch eine Grundvoraussetzung, damit sich Menschen kritisch und selbstbestimmt in digitale Räume einbringen. Die Erfahrung, dass Gegenwarte und Zukünfte nicht gesetzt, sondern gestaltbar sind, stärkt die Handlungsmacht, die eigene Wirksamkeit in der Welt und macht damit die Beteiligung und Freude an kritischen Debatten und demokratischen Diskursen erfahrbar. Wie sehen neue und hoffnungsvolle Erzählungen und Ansätze für die Zukunft unserer Gesellschaft aus? Welche gerechteren Szenarien und Visionen können wir imaginieren, wenn wir uns nur trauen? Zeit es herauszufinden!
Nandita Vasanta ist Projektleiterin und verantwortlich für die Zukünftearbeit bei SUPERRR Lab. Als ausgebildete Komparatistin interessiert sie sich besonders für Schnittstellenthemen, die die Expertise und Kollaboration vieler brauchen. In der Vergangenheit hat sie unterschiedliche wissenschaftliche und kulturelle Programme konzipiert und umgesetzt, mit dem Ziel, neue Formen der Beteiligung und der Demokratisierung von Wissen zu ermöglichen. Als zertifizierte Coach und Mediatorin glättet sie die Fallstricke menschlicher Kommunikation und unterstützt Menschen dabei, ihre eigene Form der Wirksamkeit zu finden.