Was Kulturhäuser auf Social Media gewinnen können
Was tun, wenn man das Gute retten will, und plötzlich ein Böser zur Hilfe eilt? In dieser seltsamen Lage befindet sich im Moment die Buchbranche. Seit vielen Jahren wird geklagt über die negativen Folgen der Digitalisierung – die Jugend kaufe keine Bücher mehr, lese kaum noch, könne sich nicht länger als fünf Sekunden konzentrieren. Und dann gibt es plötzlich eine sehr populäre digitale Plattform, auf der das Lesen von gedruckten Büchern euphorisch gefeiert wird. Menschen unter dreißig filmen sich mit zerlesenen Ausgaben von ihren Lieblingsromanen, berichten von ihren Lektüreerlebnissen, posieren vor liebevoll sortierten Bücherregalen. Unter dem Hashtag #booktok hat sich auf dieser Plattform die größte Lese-Community gebildet, die es jemals gab. Dass es sich bei dieser Plattform um TikTok handelt, erscheint wie eine böse Pointe – ausgerechnet eine chinesische App, von intransparenten Interessen angetrieben und eigentlich eher bekannt für leichten Content, hat eine Renaissance des Lesens sichtbar gemacht und teilweise ausgelöst.
Konnte man zu Anfang #booktok noch als Code für leichte Teenager-Romane betrachten, verbindet der Hashtag inzwischen viele Arten von Literatur miteinander. Das Franz-Kafka-Jahr 2024 wurde nicht zuletzt auf TikTok gefeiert. Die User*innen fanden bei Kafka Sätze, Bilder und Motive, zu denen sie sich dann selbst in Beziehung setzten. Ob aus Werk oder Leben war dabei zweitrangig, eine Briefstelle konnte genauso so zum Stoff werden wie ein Foto, eine Romanpassage oder eine allgemeine Vorstellung der Figur.
Längst hat sich diese von TikTok geprägte Kultur auf andere Plattformen ausgeweitet. Auf Instagram wurde der Kölner Antiquar Klaus Willbrand seit Ostern dieses Jahres zum Influencer, er ist 83 Jahre alt. In sympathisch spröden Clips gibt er Einblicke in die Literaturgeschichte, und erzählt von seinem Leben als Antiquar – derzeit mit 140 00 Followern. Verlage und Buchläden haben auf die Entwicklung reagiert. In vielen Filialen gibt es ganze Regale und Tische zum Stichwort #booktok.
In der restlichen Kulturwelt werden solche Phänomene meist skeptisch registriert. Kaum ein Museum oder Theater kann eine nennenswerte Reichweite oder eine lebendige Community vorweisen. Einen Klaus Willbrand der Kunstwelt gibt es nicht, egal ob auf TikTok oder anderswo. In der Regel werden die Plattformen genutzt, um Ausstellungen und Premieren anzukündigen, die Texte und Fotos erinnern noch immer an Pressemitteilungen. Von einem großen deutschen Opernhaus erfährt man, dass es 500 Menschen fest angestellt hat – eine halbe Stelle ist für Social Media vorgesehen.
Dahinter stecken nicht nur die berühmten »knappen finanziellen Ressourcen«. Auch wenn mittlerweile etwa Instagram eine wichtige Plattform für den Kunstbetrieb geworden ist, gehört es in großen Teilen der Kulturwelt immer noch zum guten Ton, sich abfällig über digitale Kommunikation zu äußern. Etablierte Kulturakteure sind normalerweise weit älter als dreißig, sie verbringen ihre Zeit nicht auf TikTok, haben sogar in vielen Fällen noch keinen persönlichen Kontakt mit dieser oder anderen Social-Media-Plattformen gehabt.
Während etablierte Kurator*innen, Dramaturg*innen und Direktor*innen dieses Mindset stoisch aufrechterhalten, erschließt sich eine neue Generation künstlerische Inhalte über TikTok, Instagram und YouTube und geht deswegen vielleicht seltener ins Museum oder ins Theater. Der Schaden, den die digitale Ignoranz vieler Häuser verursacht, hat auch eine politische Dimension: Kulturinstitutionen werden zur Zielscheibe von heftigen identitätspolitisch getriebenen Online-Debatten oder gar Shitstorms, und zeigen sich hilflos, seit dem 7. Oktober 2023 hat sich die Lage noch zugespitzt. In der Politik nehmen etablierte Parteien die digitalen Medien nicht ernst genug, derweil erzielt die AfD dort große Reichweiten.
Im Jahr 1962 stellte Jürgen Habermas in einer großen Untersuchung den »Strukturwandel der Öffentlichkeit« dar: Er beschrieb die Entstehung der heute schon teilweise historisch gewordenen »bürgerlichen Öffentlichkeit«, ihrer Massenmedien und der damit verbundenen Verkehrsformen [1]. Heute erleben wir erneut einen Strukturwandel: die Digitalisierung. Sie greift viel umfassender in unser Leben ein, als es den meisten bewusst ist; ihre besonderen neuen Bedingungen zu verkennen, kann für Kulturakteur*innen und öffentliche Institutionen gefährlich werden. Nicht Verächter des digitalen Gesprächs, sondern kompetent Teilnehmender zu sein, erscheint als Ziel für die Kulturinstitutionen unabdingbar.
Eine mangelnde Vertrautheit mit digitalen Medien ist dabei gar nicht das Problem. Auch im Kulturmilieu trifft man sich in WhatsApp- oder Signal-Gruppen und postet seine Gedanken und Eindrücke auf Instagram oder Facebook. Was die meisten daran hindert, ihre Inhalte mit Online-Communitys zu verbinden, ist eher eine Reihe von negativen Annahmen über das Digitale. In Ihnen verfestigt sich das Bild einer trivial gesagt »bösen« Welt, mit der man nur den allernötigsten Kontakt pflegen sollte. Drei besonders stark verbreitete Annahmen sollen hier angesprochen werden.
Erstens: Das Digitale ist eine Erweiterung des Bestehenden.
Die Idee, die Digitalisierung sei zur früheren Medienwelt quasi hinzugekommen, ist noch immer sehr verbreitet – gerade in der Kultur, wo die Institutionen so alt und traditionsreich sind. Doch spätestens mit den großen Social-Media-Plattformen, die sich um 2010 etabliert haben, hat sich aber der Umgang mit Medien und die Selbstverortung des Einzelnen im digitalen Raum grundlegend geändert. Als User*in ist der heutige Nutzende nicht mehr länger Konsument eines vorgefertigten Angebots, sondern immer auch Co-Produzent. Jede Reaktion verändert den Status und den Verknüpfungsgrad eines Postings – vom bloßen Anklicken über den Like bis zum Kommentar oder Repost.
Mediennutzer*innen sind keine passiven Rezipienten, sondern sie verändern mit ihren Interaktionen immer auch den Inhalt selbst – wie jemand der einen Raum voller Menschen betritt, und dort allein durch seine Anwesenheit Unterschiede produziert. Die Veränderung ist so grundlegend, dass sie das gesamte Weltverhältnis der Nutzenden betrifft und damit, weil wir alle Nutzende sind, die Gesellschaft als Ganzes. Hinzu kommt, dass die metrische Logik des Digitalen schon in der anlogen Welt existierte, und sich jetzt noch fundamentaler verbreitet hat. Metrische Logik heißt: Wir erfassen die Welt über Zahlen und Zahlenverhältnisse, nicht nur an Wahlabenden, auf dem Fußballplatz und beim Einkaufen. Weil uns an vielen Stellen, auch im Digitalen, die qualitative Maßstäbe zunehmend unklar sind, orientieren wir uns stattdessen an Reichweiten und anderen quantitativen Zuschreibungen. Ein Account mit vielen Followern kommt uns interessanter vor als einer mit wenigen. Und ohne dass wir es immer bemerken, verknüpfen wir qualitative Urteile damit. Das Digitale als Erweiterung zu betrachten, verkennt also die tiefgreifende Veränderung unserer Welt. Sie macht vor nichts Halt. Markus Müller spricht in seinem Nachruf auf den legendären Kurator und Museumsdirektor Kasper König vom »Ende der Zeitenwende von der analogen zur digitalen Welterfahrung«[2].
Zweitens: Das Digitale befördert Filterblasen und damit Abschottung.
Die Filterblasen-These gehört zu den liebsten Allgemeinplätzen intelligenter Menschen über die Social-Media-Plattformen. Sie beruht auf dem Gedanken, dass man früher plurale Medien hatte, in denen unterschiedliche Standpunkte diskutiert wurden, während sich heute Menschen in Filterblasen treffen, in denen alle die gleiche Meinung haben. In Wahrheit ist die digitale Kommunikation in vieler Hinsicht komplexer als der Austausch in der alten Medienwelt. Das Community-Building produziert feste und fluide Gemeinschaften, die man als Filterblasen bezeichnen kann, wenn man möchte – diese sind aber bei weitem nicht so homogen, wie man vielleicht annimmt. Das hängt mit der komplexen Struktur der Gesellschaft selbst zusammen. Wenn ein linksliberaler Angler in seiner Anglergruppe auf Facebook aus den Kommentarspalten erfährt, dass einige der Mitglieder Donald Trump gut finden, wird er entsetzt sein, und der Frieden in der Angler-Bubble ist gestört. Solche Zusammenstöße und Friktionen produzieren die Plattformen laufend, da jede Community Zugänge, Übergänge und offene Flanken hat, durch die sie mit anderen Kontexten in Berührung kommt. Der Soziologe Christian Stegbauer führt denn auch die Entstehung von Shitstorms auf das »Zusammenprallen von unterschiedlichen Kulturen«[3] im Internet zurück. Man könnte sogar sagen, dass der Reiz digitaler Kommunikation gerade darin besteht, dass sowohl Gleichgesinnte als auch Andersgesinnte in großer Menge zur Verfügung stehen, und man ständig pendelt zwischen Ingroup und Outgroup.
Drittens: Das Digitale frisst das Analoge.
Diese Annahme tritt häufig in dem Vorwurf zutage, jüngere Leute schauten ja »nur noch« auf ihr Handy. Das Aufs-Handy-Schauen bildet in dieser Aussage eine Leerstelle, als sei das Handy ein schwarzes Loch, in dem es keine Inhalte mehr geben könnte. Dabei findet dort alles statt: Medienkonsum, Kontakt mit Freunden, intimer Austausch, Speichern von Erinnerungen. Oft wird das Verhältnis von Digital und Analog in der Struktur des »Entweder-Oder« beschrieben: Entweder der junge Mensch schaut aufs Handy, oder er geht ins Museum. Dabei zeigt der Hashtag #booktok eindrucksvoll, wie unter der digitalen Prämisse auch analoge Erlebnisse wieder einen neuen Stellenwert bekommen. Der Saunabesuch, das Stöbern im Buchladen oder das Bergwandern werden von User*innen liebevoll inszeniert – nicht als Ersatz des Erlebnisses, sondern als Kommunikation darüber. Während man wandert, wird die Kommunikation darüber immer schon mitgedacht – das heißt aber nicht, dass das Wandern weniger intensiv empfunden wird, es ist nur viel stärker als früher Teil der Eigenrepräsentation und des Austauschs mit anderen. Dieser Akt wiederum wird häufig als reiner Akt der Selbstüberhöhung interpretiert – »alle machen nur noch Selfies« – während es in Wirklichkeit gerade darum geht, sich mitzuteilen, bei anderen Resonanz zu finden, und dann auch selbst Resonanz zu geben. Wer Social Media aufmerksam betrachtet, kann viel darüber lernen, wie Gruppenbildung und Gruppenstörungen bei Menschen funktionieren – und immer schon funktioniert haben.
Neben diesen drei Annahmen gibt es Einwände gegen Social-Media-Plattformen, die man kaum entkräften kann. Wenn viele Millionen Menschen ihre Daten einem chinesischen Konzern anvertrauen oder die Plattform X von Elon Musk benutzt wird, um die rechtspopulistische Agenda voranzubringen, sind Skepsis und Kritik, vielleicht auch Rückzug angebracht. Das sollte aber nicht zu bequemer Ignoranz der neuen technologischen und kulturellen Formen führen, die hier enstehen, und die nicht wieder verschwinden werden. Digitale Communitys wird es auch noch geben, wenn X und TikTok längst Geschichte sind. Das Beispiel #booktok könnte durchaus belebend auf andere Kultursparten wirken: Wer Kunst und Kultur produziert, dem sollte die Leidenschaft und die Hingabe der entsprechenden Communitys etwas wert sein – mehr jedenfalls als eine halbe Stelle.
[1] Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 1962
[2] Markus Müller: Kasper König (1943 – 2024), in: Texte zur Kunst, https://www.textezurkunst.de/en/articles/markus_mueller_nachruf-kasper-koenig/
[3] Christian Stegbauer: Shitstorms. Der Zusammenprall digitaler Kulturen. Wiesbaden 2018, S. 23
Foto: Joshua Hoven
Ralf Schlüter ist Kulturjournalist und Berater. Von 2006 bis 2020 war er Stellvertretender Chefredakteur des Kunstmagazins »Art«. Er produzierte den Podcast »Zeitgeister« und betreute das Handbuch der documenta fifteen in Kassel. Zusammen mit Karin Bjerregaard Schlüter gründete er 2022 die Agentur Kulturbotschaft. Von beiden ist aktuell das Buch »Krisenkommunikation für den Kulturbetrieb« erschienen.