Die vierte Ebene der Beteiligung. Ein Essay über Demokratie und Sinnlichkeit

Parisa Hussein-Nejad

15. Oktober 2025

Ich schreibe diesen Text aus einer persönlichen Perspektive. Ich bin in Zwischenwelten zuhause, mit Wurzeln, die sich in verschiedene Richtungen verzweigen, und mit Blicken, die nie nur von einer Seite aus sehen. Aus diesem Dazwischen ist ein Zugang entstanden, der viele Seiten kennt. Aus dieser Erfahrung beschreibe ich die vierte Ebene der Beteiligung.

Uns eint, dass wir – so unterschiedlich wir sind – alle eine Substanz tragen, eine eigene innere Wahrheit. Auch wenn die Sprache manchmal bricht, auch wenn Formen fehlen oder ungewohnt sind: Was wir einbringen, bleibt wirklich. Es ist mehr als Ausdruck; es ist das Gewicht gelebter Verständigung.

Die Stimmen, die wir mit anderen teilen oder austauschen, folgen einem tiefen menschlichen Bedürfnis: uns ausdrücken zu wollen, uns entwickeln und weiterentwickeln zu wollen. Genau darin liegt die Kraft, die Menschen verbindet. Und vielleicht habe ich deshalb Menschen erreicht, die sonst kaum vorkommen – weil wir in diesem Bedürfnis einander erkannt haben. Auch wenn wir unterschiedliche Hintergründe haben und keine homogene Gruppe sind, hat uns dieses Bedürfnis zusammengeführt.

Ich habe viele Jahre in Räumen gearbeitet, die aussahen wie Wohnzimmer: in einem Stadtteilzentrum, dessen Türen offenstanden, wo Kinder Hausaufgaben machten, Mütter Kaffee tranken, Nachbarn auf dem Flur ins Gespräch kamen. Dort habe ich verstanden: Demokratie beginnt nicht im Rathaus, sondern zwischen Küchentisch und Hinterhof. Sie beginnt im Erzählen, im gemeinsamen Tun, im Lachen und im Streit.

Die klassischen Formen demokratischer Beteiligung kenne ich ebenfalls. In meiner Zeit als Regionsabgeordnete habe ich über ein Jahrzehnt Abstimmungen erlebt, Diskussionen geführt, Gremienarbeit gemacht – drei Ebenen, die unser Verständnis von Demokratie lange getragen haben: die Abstimmung, die Diskussion, die strukturierte Verhandlung. Sie sind notwendig, aber sie erreichen nicht alle. Wer sprachlich nicht geübt ist, wer nie gelernt hat, Anträge zu stellen oder sich durch Redelisten zu kämpfen, bleibt draußen. Deutschland ist längst eine postmigrantische Gesellschaft (Foroutan 2019). Vielfalt ist Alltag, aber nicht automatisch Teilhabe. Noch immer leben wir in Blasen – nach Milieu, Herkunft oder Bildung (bpb 2022).

Die Vereinskultur galt einmal als »Schule der Demokratie«. Dort lernten Menschen, Verantwortung zu übernehmen und Mehrheiten zu organisieren (Putnam 2000; van Deth 2014). Aber diese Schule erreicht längst nicht mehr alle. Die Zahlen bestätigen, was ich in der Praxis gesehen habe: Menschen mit Migrationserfahrung oder Jugendliche finden sich dort seltener wieder (ZiviZ 2017; BMFSFJ/DZA 2021; Quade 2024). Demokratie kann sich nicht allein auf diese Strukturen verlassen. Sie braucht neue Räume.

Meine eigene Erfahrung ist dabei nicht die einer Beobachterin von außen. In den Projekten, die ich gestaltet habe, waren es nicht die »üblichen« Teilnehmenden, sondern Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensrealitäten – mit Brüchen, mit Sprachen, mit Erinnerungen, die in vertrauten Strukturen keinen Platz fanden. Wenn ich heute Linien ziehe und Felder ordne, dann spiegeln sich darin auch diese Spannungen.

Und doch haben wir etwas Gemeinsames erlebt: Viele von uns tragen eine Vertrautheit mit dem Erzählen, mit dem Hören, mit Rhythmen und Bildern, die in Familien, Nachbarschaften und alltäglichen Situationen weitergegeben wurden. Für manche von uns ist dies der erste Zugang, beinahe selbstverständlich. Für andere, deren Sozialisation stärker im Bildungsbürgertum liegt, ist es nicht der bevorzugte Weg – und doch können auch sie ihn finden, wenn er geteilt wird.

Dieser Zugang bedeutet nicht, dass andere ausgeschlossen würden. Auch die Menschen, die schon in Vereinen oder Institutionen teilhaben, lassen sich so erreichen. Aber der Weg führt nicht zuerst zu den tradierten Strukturen, sondern zunächst zu den Menschen selbst: zu ihren Stimmen, ihren Geschichten, ihren Gesten. Und es ist wichtig, dass Stimmen wie diese, wenn sie erklingen, auch wirklich gehört werden. Zu oft weicht das Gespräch dann wieder auf abstrakte Beteiligungsverfahren aus – als ginge es darum, noch einmal alle zu fragen, obwohl jemand bereits spricht und Erfahrung mitbringt. Wir sind vielleicht weniger präsent in der Öffentlichkeit, unsere Projekte haben nicht denselben institutionellen Klang. Doch wir sind viele – mehr als ein Drittel der Gesellschaft. Wir bleiben unterrepräsentiert, nicht weil wir fehlen, sondern weil die Wege zu uns selten gesucht werden.

Unsere Prägung ist eine andere. Viele von uns sind in Elternhäusern aufgewachsen, in denen das Bildungsbürgertum fern war, in denen Schrift nicht selbstverständlich war. Wir haben gelernt, indem wir mitliefen, zuhörten, nachahmten indem wir handelten, während uns etwas erklärt wurde. Unsere Ordnung ist keine Ordnung der Linearität, sondern der Gleichzeitigkeit: Stimmen, Bilder, Gesten, Geräusche, die nebeneinanderstehen wie Fäden in einem Gewebe. Wir lernen nicht nur im Kopf, sondern im Körper, im Rhythmus, im Klang, im Blick. Was anderen wie Unruhe erscheint, ist für uns vertraut. Es ist eine Ordnung der Sinne – visuell, haptisch, oral – und sie trägt eine eigene Wahrheit. Gerade darin liegt eine andere Form der Demokratie: eine, die nicht erst Papier braucht, um zu tragen, sondern schon Stimme und Körper trägt (vgl. Ong 1982; Zumthor 1990).

Hier öffnet sich die vierte Ebene der Beteiligung. Sie ergänzt die bisherigen Formen um Resonanzräume, die auf Alltag, Biografie und Sinnlichkeit beruhen – Orte, in denen Demokratie nicht durch Verhandlung entsteht, sondern durch Erzählen, Zuhören und gemeinsames Erleben.

Solche Orte sind nicht zufällig. In der internationalen Diskussion heißen sie »Dritte Orte« (Oldenburg 1999) – Cafés, Friseurläden, Treffpunkte jenseits von Arbeit und Zuhause. In Deutschland nehmen Bibliotheken, Volkshochschulen und Stadtteilkultureinrichtungen diese Rolle zunehmend ein (Keim 2018). Aber: Ein offenes Wohnzimmer allein genügt nicht. Räume füllen sich zwar mit Angeboten, mit Kursen, mit Veranstaltungen – doch Resonanz wächst daraus nicht von selbst. Oft bleibt die Begegnung unbegleitet: Menschen teilen den Raum, aber nicht das Gespräch. Sie sind nah und doch noch schüchtern, jede und jeder in einer eigenen Blase. Damit aus bloßer Anwesenheit wirkliche Teilhabe wird, braucht es ein Medium, das Fremdheit trägt – ein gemeinsames Erzählen, ein Ritual, ein künstlerisches Verfahren. Erst dort, wo solche Brücken entstehen, verwandelt sich ein Raum in einen Resonanzraum der Demokratie.

Ich erinnere mich an eine Küche in einem Nachbarschaftshaus: fremde Gewürze, vertraute Gesten, dampfende Töpfe. Zwischen Kochen und Lachen entstanden Geschichten, die sonst nie erzählt worden wären. Niemand nannte es »Beteiligung« – und doch war es genau das: Teilhabe im Tun.

Ich erinnere mich an Kreise, an Story-Circles, in denen jede Stimme gleich viel Zeit bekam. Am Anfang war es ungewohnt, später fast magisch: das Gewicht des Zuhörens, das Vertrauen, dass auch die eigene Geschichte Platz haben würde. Demokratie wurde dort nicht erklärt, sondern geteilt (Müller 2018).

Und ich erinnere mich an Bühnen: Jugendliche, die zum ersten Mal laut vor Publikum sprachen; Frauen, die Szenen aus ihrem Leben spielten, verkörpert, nicht erzählt. Demokratie war hier spürbar – im Herzklopfen, im Applaus, in der Erfahrung, Teil eines größeren Geschehens zu sein.

Schon die Griechen kannten dieses Gefühl. Der Chor war die Stimme der Polis: kein einzelner Sänger, sondern viele Stimmen, die miteinander eine Gemeinschaft hörbar machten (Fischer-Lichte 2004; Butler 2015). Wenn ich selbst in Chören stand, sei es in Theaterprojekten oder improvisierten Gesangsrunden, habe ich verstanden, wie Demokratie klingen kann: nie einstimmig, nie perfekt, aber getragen von Gleichzeitigkeit.

Solche Erfahrungen öffnen Räume der Differenz. Ein fremder Tanzschritt, ein irritierendes Bild, eine ungewohnte Geste – sie schaffen Distanz. Doch gerade diese Distanz ist wertvoll. Sie lehrt uns, dass Demokratie nicht bedeutet, Unterschiede zu glätten, sondern sie auszuhalten, zu verhandeln und produktiv zu wenden (Reinwand-Weiss 2021; Welsch 1996).

Und noch etwas zeigt sich: Verständigung geschieht nie unmittelbar. Was ich sage, ist nicht identisch mit dem, was andere hören. Sprache, Gesten, Bilder – sie alle sind Medien, die Sinn erzeugen und verändern (Habermas 1981; Bourdieu 1991). Beim Schauspiel zeigt sich das deutlich: Die Form selbst ist Teil der Botschaft. Solche Erfahrungen lehren Medienkompetenz nicht durch Belehrung, sondern durch Erleben.

Und schließlich ist da die Musik. Wenn viele zugleich klatschen oder singen, wenn sich Körper im gleichen Rhythmus bewegen, entsteht eine gemeinsame Zeit – ein geteiltes Jetzt. Das ist Resonanz – eine Erfahrung, die tiefer geht als Worte (Turino 2008; Rosa 2016). Augusto Boal hat gezeigt, wie daraus politische Kraft erwächst: Sein »Theater der Unterdrückten« machte Machtverhältnisse sichtbar und eröffnete Handlungsmöglichkeiten (Boal 1979).

All dies verweist auf eine kulturgeschichtliche Bewegung: Mal galten die Sinne als Schatten, mal als Tor. Ich glaube nicht an das Gegeneinander. Es ist gut, mit den Sinnen zu schauen – und ebenso, jenseits der Sinne zu schauen. Erst in dieser Verschränkung von Nähe und Distanz, von Haut und Gedanke, von Atem und Begriff wird erfahrbar, was Demokratie bedeuten kann.

Seit ich die Stadt nicht mehr nur aus einem einzelnen Haus heraus sehe, sondern mit einem Blick, der sich geweitet hat, erkenne ich neue Linien. Es ist, als öffnete sich der Horizont, als lägen die Bewegungen in größerer Tiefe vor mir. Ich sehe Stimmen und Hände, Menschen, die handeln, die etwas in Bewegung setzen. Und ich spüre Dankbarkeit: Wie stark die Sehnsucht nach Demokratie ist, wie viel Wunsch nach Teilhabe sich zeigt.

Doch im Geflecht zeigen sich auch Lücken. Da sind die offenen Türen, die Räume der Kreativität. Menschen malen, musizieren, spielen. Hier ist der Zugang leicht, das Ankommen selbstverständlich. Aber die Stimme, das Erzählen, die orale Kultur bleiben leise, fast im Hintergrund. Resonanz flackert auf, doch sie bleibt oft Moment, kein tragender Rhythmus.

Da sind die Abende des Dialogs: Kochrunden, Sprachcafés, Foren. Sie lassen Menschen einander begegnen – Kulturen, Religionen, Lebensweisen. Differenz wird hier spürbar, manchmal kraftvoll. Doch der Dialog wird oft geglättet, damit er nicht weh tut. Ambiguität bleibt nur kurz im Raum, bevor sie gezähmt wird. Resonanz klingt an, aber nicht immer durch.

Da sind die Projekte für bestimmte Gruppen: Kinder, Jugendliche, Migrantinnen, Seniorinnen. Sie sind klar organisiert, verlässlich, fast pädagogisch in ihrer Struktur. Sie leisten Wichtiges – und doch bleibt das Erzählen funktional, Resonanz ein Nebenprodukt.

Und da sind die Demokratieprogramme: Planspiele, Simulationen, Parlamente. Sie lehren Verfahren, sie trainieren Strukturen. Aber sie berühren den Körper nicht. Demokratie wird dort gelernt wie ein Verfahren, nicht erfahren wie ein Klang.

Und schließlich die Häuser selbst: Bibliotheken, Kulturzentren, Stadtteilorte – stabil, verlässlich, großzügig gedacht. Oft aber bleibt die Begegnung noch leise, der Funke springt nicht immer über. Damit aus Verlässlichkeit auch Lebendigkeit wird, braucht es die Wärme der Stimme, die Tiefe der Resonanz und den Mut zur Mehrdeutigkeit.

All dies zeigt kein Scheitern, sondern eine Fülle, die noch kein Band hat. Wir haben Inseln der Resonanz, wir haben Momente von Stimme und Begegnung. Aber sie sind nicht verbunden. Die Aufgabe liegt darin, diese Inseln zu einer Kette zu fügen – die offenen Türen, den Dialog, die Gruppen, die Demokratieformate und die Räume selbst nicht nur nebeneinander stehen zu lassen, sondern sie mit einer Linie zu verweben.

Eine solche Programmatik würde die Vielfalt nicht glätten, sondern ihr Halt geben. Sie könnte dafür sorgen, dass das Erzählen nicht zufällig bleibt, dass Resonanz nicht verglüht, dass Ambiguität nicht sofort gezähmt wird. Sie würde die Lebendigkeit bewahren und zugleich den Faden spannen, der aus vielen einzelnen Projekten eine Erzählung macht: die Erzählung einer Demokratie, die sinnlich, resonant und gemeinsam erfahren wird.

Systematik heißt nicht, alles gleichzumachen. Sie entsteht dort, wo Räume wiedererkennbar werden – wie Routinen, die tragen: ein Kreis, der sich wiederholt, ein Ritual, das verbindet, ein Jahresthema, das durch viele Häuser wandert und sie füreinander öffnet. Bibliotheken, Stadtteilkultur, Schulen, Freizeitorte – sie alle könnten durch solche Rahmen in Resonanz treten. Nicht als starres Netz, sondern als Rhythmus, der die Vielfalt verdichtet und ihre Kraft verstärkt.

Sinnlichkeit ist also kein Beiwerk. Sie ist Bedingung. Sie verankert Teilhabe emotional, macht Vielfalt erfahrbar und schult die Fähigkeit zur Vermittlung. Sie schafft Resonanz, Differenzfähigkeit und Medienkompetenz zugleich – drei Dimensionen, ohne die Demokratie heute nicht tragen kann.

Hilmar Hoffmann hat mit »Kultur für alle« in den 1970er-Jahren den entscheidenden Schritt gemacht: Kulturinstitutionen sollten geöffnet werden – Museen ebenso wie Theater, aber auch Volkshochschulen, Bibliotheken, freie Gruppen und Stadtteilzentren. Kultur sollte kein Privileg bleiben, sondern Teil des Alltags für alle.

Doch Öffnung allein reicht heute nicht mehr. Räume zur Verfügung zu stellen, ist wichtig – aber Demokratie entsteht erst, wenn in diesen Räumen Resonanzangebote gemacht werden: Erzählkreise, biografisches Arbeiten, künstlerische Verfahren, gemeinsame Rhythmen. Das Sinnliche ist dabei nicht Beiwerk, sondern Programm.

Das unterscheidet die vierte Ebene auch von der Popkultur. Popkultur lebt von Intensität und Selbstinszenierung (Hebdige 1979; Schulze 1992). Sie stiftet starke Momente, bleibt aber auf das »Ich« zentriert.

Soziologisch wird Popkultur zudem eng mit dem Aufstieg des Individualismus verbunden. Gerhard Schulze (1992) beschreibt in seiner »Erlebnisgesellschaft«, wie ästhetische Vorlieben und Lebensstile zunehmend auf Selbstverwirklichung und individuelle Distinktion ausgerichtet sind. Andreas Reckwitz (2017) spricht von einer »Gesellschaft der Singularitäten«, in der kulturelle Ausdrucksformen dazu dienen, die eigene Einzigartigkeit sichtbar zu machen. Dieser Fokus auf das Individuelle ist produktiv, erzeugt aber zugleich eine Logik des Rückzugs: ein »Lazismus« im Sinne von Konsumhaltung und Vereinzelung, der gemeinschaftliche Resonanzräume schwächt.

Die vierte Ebene dagegen ist halbstrukturiert, gemeinschaftlich und auf das »Wir« gerichtet: Persönliche Erzählungen sind Einstieg, aber sie führen in kollektive Resonanzräume und eröffnen politische Gestaltungsräume.

Volkshochschulen, Bibliotheken, Stadtteilzentren – sie alle dürfen nicht nur Orte sein, an denen Begegnung »auch« stattfinden kann. Sie müssen so ausgestattet sein, dass Resonanz- und Differenzerfahrungen ausdrücklich Teil ihres Auftrags sind: halbstrukturiert, offen, aber verlässlich. Demokratie entsteht nicht nur durch geöffnete Türen, sondern durch Formate, in denen Menschen ihre Stimme erfahren, Unterschiede wahrnehmen und Atmosphären teilen.

Und genau das muss auch im Monitoring sichtbar werden. Es genügt nicht, zu zählen, wie viele Stühle besetzt sind. Erfasst werden muss, wer wirklich teilhat: Wer hat zum ersten Mal erzählt? Wer hat Resonanz gespürt? Wo sind Differenzerfahrungen produktiv geworden? Monitoring wird so zum politischen Instrument: Es zeigt, ob Volkshochschulen, Bibliotheken oder Stadtteilzentren nicht nur geöffnet, sondern transformiert werden – hin zu Orten, an denen Demokratie leiblich erfahrbar wird.

Monitoring braucht dafür neue Leitlinien: Es muss Resonanz sichtbar machen, Differenz anerkennen, Vielfalt der Methoden nutzen und als Lernprozess verstanden werden – nicht als Kontrolle. Erst dann wird die vierte Ebene tragfähig.

Und so schließt sich für mich der Kreis. Ich habe zehn Jahre als Abgeordnete erlebt, wie Demokratie auf den ersten drei Ebenen funktioniert: in Abstimmungen, in Diskussionen, in Gremien. Alle drei sind unverzichtbar, denn in ihnen zeigt sich das Herzstück der repräsentativen Demokratie: Entscheidungen werden legitim, weil sie im Namen vieler getroffen werden.

Aber ich habe ebenso gesehen, dass das nicht reicht. Denn diese Räume sind zwar besetzt, doch nur von einem Bruchteil der Gesellschaft. Die Menschen, die dort sprechen und entscheiden, repräsentieren oft nicht die Vielfalt, die unsere Städte und Regionen prägt. Viele, die längst Teil unserer Gesellschaft sind, erscheinen dort gar nicht – weil sie auf diesen Wegen nicht erreicht werden. So bleibt die Demokratie formal legitim, doch sie verliert an Tiefe, weil ihre Repräsentation die gesellschaftliche Realität nicht widerspiegelt.

Genau hier wird die vierte Ebene der Beteiligung systemrelevant. In Küchen, Kreisen, auf Bühnen und in Chören haben wir erlebt, wie Menschen erreicht werden, die in den klassischen Strukturen unterrepräsentiert bleiben. Dort entstehen Differenzerfahrungen und Zugehörigkeit. Und dort wächst das Fundament, das auch die repräsentative Demokratie braucht, um Zukunft zu haben.

Dass wir auf diese Weise sprechen, heißt nicht, dass andere Stimmen verstummen müssten. Aber es bedeutet, dass auch jene Erfahrungen Platz haben, die bislang unscheinbar blieben. Wir sind viele – und gerade in dieser leisen, geteilten Praxis liegt eine Kraft, die Demokratie erneuern kann.

Die Zukunft der Demokratie liegt nicht in der Abschaffung der alten Formen, sondern in ihrer Ergänzung. Sie braucht alle vier Ebenen – und die vierte vor allem, weil wir hier Brücken schlagen, wo andere Wege ins Leere laufen. Demokratie ist mehr als ein Verfahren. Sie ist eine gemeinsame Erfahrung. Und sie trägt nur dann, wenn wir sie auch sinnlich teilen.


Literatur

• Boal, Augusto (1979): Theatre of the Oppressed. London: Pluto Press.

• Bourdieu, Pierre (1991): Language and Symbolic Power. Cambridge: Polity Press.

• Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) / Deutsches Zentrum für Altersfragen (DZA) (2021): Engagementbericht 2020. Berlin.

• Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) (2022): Gesellschaftliche Milieus in Deutschland. Bonn.

• Butler, Judith (2015): Notes Toward a Performative Theory of Assembly. Harvard: Harvard University Press.

• Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

• Foroutan, Naika (2019): Die postmigrantische Gesellschaft. Ein Versprechen der pluralen Demokratie. Bielefeld: transcript.

• Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bände. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

• Hebdige, Dick (1979): Subculture: The Meaning of Style. London: Routledge.

• Keim, Wolfgang (2018): Dritter Ort. Bibliotheken im Wandel. In: Büchereiperspektiven, 40(2).

• Müller, Hans-Ulrich (2018): Storytelling und Demokratie. Narrative als soziale Praxis. Wiesbaden: Springer VS.

• Oldenburg, Ray (1999): The Great Good Place. New York: Marlowe & Company.

• Ong, Walter J. (1982): Orality and Literacy. The Technologizing of the Word. London: Methuen.

• Putnam, Robert D. (2000): Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community. New York: Simon & Schuster.

• Quade, Sarah (2024): Engagement und Teilhabe in postmigrantischen Gesellschaften. Berlin: De Gruyter.

• Reinwand-Weiss, Eva (2021): Kulturelle Bildung und Differenzerfahrung. München: kopaed.

• Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.

• Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp.

• Schulze, Gerhard (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M.: Campus.

• Seel, Martin (2003): Ästhetik des Erscheinens. München: Hanser.

• Turino, Thomas (2008): Music as Social Life: The Politics of Participation. Chicago: University of Chicago Press.

• van Deth, Jan W. (2014): Politische Partizipation. In: Kaina, Viktoria / Römmele, Andrea (Hg.): Politikwissenschaft als Beruf. Baden-Baden: Nomos.

• Welsch, Wolfgang (1996): Grenzgänge der Ästhetik. Stuttgart: Reclam.

• Zumthor, Paul (1990): La lettre et la voix. De la »littérature« médiévale. Paris: Seuil.

• ZiviZ im Stifterverband (2017): Zivilgesellschaft in Zahlen. Engagementlandschaft in Deutschland. Berlin.


Parisa Hussein-Nejad

Foto: privat

Parisa Hussein-Nejad arbeitet im Dezernat für Bildung und Kultur der Stadt Hannover, wo sie die Projektleitung für das Haus der Demokratie verantwortet – ein dezernatsübergreifendes Vorhaben, das Bibliotheken, Volkshochschulen, Erinnerungskultur, das Kulturbüro, Stadtteilkultur und Bildungsarbeit miteinander verbindet.

Zuvor gründete Parisa Hussein-Nejad 2010 das Label Culture Codes, tourte niedersachsenweit mit dem Tanztheaterstück How I Met my neighbour- on Stage.  2014 übernahm die Geschäftsführung des Vereins IKJA e.V. ( Interkutureller Kultureller Jugendaustausch) bis 2018 und leitete anschließend 7 Jahre das interdisziplinäre Stadtteilzentrum KroKuS in Hannover. Projekte wie das Get2gether Jugendtheater, Generation Transkulturell, WIR2.0 – Prozess oder das Fluid2.0 – Festival prägten ihren Weg und bilden bis heute den Resonanzboden für ihre Texte.

Der vorliegende Essay öffnet einen weiteren Blick: Er verbindet persönliche Beobachtungen und Erfahrungen aus vielen Jahren kultureller Praxis mit einer Reflexion über Demokratie. Dabei entsteht kein fertiges Modell, sondern ein tastendes Nachdenken, das Sinnlichkeit, Resonanz und Systematik als Leitfäden nutzt – um Demokratie als lebendige, gemeinsame Erfahrung sichtbar zu machen.