Kunst ist ein Testfall unserer Kultur.
Kultur ermöglicht Verbreitung und Dauer der Künste.
Kulturpolitische Debatten bedürfen sinnvoller Unterscheidungen von Kunst und Kultur.
Auf der Website von kulturrat.de lese ich Kunst und Kultur als Lebensnerv. Stellungnahme des Deutschen Kulturrates zur Kulturfinanzierung vom 08.10.2010. Fast zehn Jahre vor Anbruch des Coronazeitalters beginnt der Text mit den Zeilen: »Kunst und Kultur haben eine herausragende Bedeutung für die Gesellschaft. Sie spiegeln gesellschaftliche Debatten wider, sie bieten Reibungsflächen zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, sie weisen über das alltägliche Geschehen hinaus.«
Kunst und Kultur werden hier gleichermaßen auf Vergangenheit mit überlieferten Werten und auf Visionen einer künftigen Gesellschaft bezogen. Kurz darauf folgt der Satz: »In einer multiethnischen Gesellschaft gewinnen Kunst, Kultur und kulturelle Bildung eine zunehmende Bedeutung, um Integration zu befördern und die positiven Elemente kultureller Vielfalt herauszustellen.« Die Bereitstellung der kulturellen Infrastruktur für Bund, Länder und Gemeinden möchte der Deutsche Kulturrat sichergestellt wissen.
Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008–2009 mit sinkenden Steuereinnahmen kommt man zum Schluss: »Insgesamt ist zu befürchten, dass die Schließung von Kultureinrichtungen und ein weiterer Beschäftigungsabbau im Kulturbereich drohen.«
Außerdem heißt es, das »Staatsziel Kultur muss im Grundgesetz verankert werden«.
Kultur als Staatsziel im Grundgesetz zu verankern, wird schon viele Jahrzehnte immer wieder diskutiert. Auch Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, bekannte sich zu dieser Zielvorgabe. Nachzulesen beispielsweise in der Wochenzeitung Das Parlament vom 15.10.2018: »Es wäre eine Selbstverpflichtung des Staates, die die fundamentale Bedeutung der Kultur für das Gemeinwesen betont.«
Auf kulturrat.de lese ich den Text Mut zur Zukunft. Die Kultur in der Coronakrise von Gerhart R. Baum vom 30.11.2020. Er beginnt mit einer aktuellen Lockdown-geprägten Essenz: »Kunst ist kein beliebiges Freizeitvergnügen.« Kurz darauf der Satz: »Kultur ist Lebenselixier der Demokratie.« Was ich hierbei immer wieder vermisse, ist eine zeitgemäße Unterscheidung zwischen Kunst und Kultur. Was versteht man unter Kunst und was unter dem Begriff Kultur? Macht es wirklich Sinn, beides in einem Atemzug nebeneinanderzustellen oder böte sich hier eine fruchtbare Chance der Differenzierung?
Noch einmal sei Gerhart R. Baum ein paar Zeilen weiter zitiert: »Kunst und Kultur geben Orientierung, sind anstößig und stoßen an, sind zukunftsorientiert und weltoffen. Gustave Flaubert hat es einmal wunderbar auf den Punkt gebracht mit den Worten, Kultur sei eine subventionierte Revolte.«
Kunst und Kultur werden oft völlig gleichrangig in Anspruch genommen und eine möglicherweise bedeutende Differenz mit dem schönen Zitat von Gustave Flaubert verdeckt. Meiner Meinung nach sollte sich eine Revolte mit ästhetischen Mitteln auf die Künste beziehen, nicht aber auf unsere kulturellen Rahmenbedingungen. Kunst darf überraschen, irritieren und als Testfall mit ästhetischen Mitteln Kultur und Kulturen in Frage stellen.
Wäre es nicht sinnvoll, unter Kunst beziehungsweise den Künsten das Differenzierende, das Singuläre, das Individuelle und das möglicherweise innovative Moment zu begreifen?
Etwas, das auch scheitern darf. Wäre es nicht ebenso sinnvoll, unter Kultur(en) etwas die Gesellschaft Verbindendes zu verstehen, zumindest im Sinne einer gemeinsam funktionierenden Streit- und Debattenkultur? Ich denke an eine pluralistische Gemeinsamkeit kultureller Rahmenbedingungen und Erfahrungen. Dann wäre es auch kein Widerspruch, wenn Kultur Menschen in Krisenzeiten und im Alltag Trost spendet und einzelne Äußerungen der Kunst verstörend und irritierend daherkommen – als Probehandeln oder als Interventionen innerhalb der Gesellschaft mit ästhetischen Mitteln. Der Prüfstand für Dauer wäre unsere Kultur, die sich wiederum in einem stetigen Wandel befindet!
Auch die Spielfelder der Dynamiken von Kunst und Kultur sollten meiner Meinung nach deutlicher unterschieden werden. In der Generaldebatte im Bundestag am 30.09.2020 äußerte Monika Grütters: »Das ist, finde ich, das Mindeste, das wir Künstlerinnen und Künstlern schuldig sind; denn Kultur ist keine Delikatesse für Feinschmecker, sondern Brot für alle. (…) Kunst, Kultur und Medien sind unverzichtbar für Verständigung.« Ich frage mich nun: Wäre es nicht eine große Chance zur besseren Verständigung und Gemeinschaftsfindung, wenn man verbindende kulturelle Elemente zum Zwecke stabilisierender Rahmenbedingungen und künstlerische Mittel sowie Strategien individueller Äußerungen benennbar unterscheidet?
Kurze Zwischenbemerkung: Abgesehen von der Tatsache, dass hinreichende Absicherungen von Soloselbstständigen in Krisenzeiten wie der Coronapandemie fehlen, sollte nicht vergessen werden, dass Künstler*innen wie viele andere Soloselbstständige nicht nur sehr unterschiedlich hohe Betriebsausgaben haben, sondern auch für ihren Lebensunterhalt aufkommen müssen. Es bleibt zusätzlich zu bedenken, dass ein Vermögen beispielsweise von 60.000 Euro oftmals nicht ausreicht, um Einkommensschwankungen auszugleichen, unvorhersehbare Rechnungen zu bezahlen und gegebenenfalls auch noch investitionsfähig zu bleiben.
Das Verhältnis der Kulturpolitik zu den Künsten bzw. Künstler*innen wird durch die Anforderungen einer offenen Gesellschaft mit ständig sich verändernder Relevanz zu bewerten sein.
Von wem stammt eigentlich die Idee, Künste und Künstler*innen dem Freizeitsektor zuzuordnen und nicht der Bildung?
Was erwartet unsere plurale Gesellschaft, die sich in ständigem Strukturwandel befindet, von den Künsten?
Sucht sie einen verbindlichen Halt, um ihre eigenen fortgeschrittenen Individualisierungstendenzen auszugleichen?
Haben einsame Lockdown-Erfahrungen im Coronazeitalter uns der separierenden, fortgeschrittenen Singularisierung überdrüssig gemacht? Entsteht aus dieser Monologisierung eine Dialogarmut? Sprechen die Künste für sich weiter ausdifferenzierende Identitäten an? Oder helfen sie uns wiederzuvereinen im Rahmen einer inklusiven demokratischen Gesellschaftsordnung? Sichert Kulturpolitik monadische Freiheiten einst autonomieverhafteter selbstbestimmter Künstler*innenträume – oder soll sie Steuervorteile für einige äußerst erfolgreiche Monopolisten eines übersättigten Kunstbetriebs verschaffen?
Nach welchen Kriterien werden Mittel verteilt, Stipendien vergeben? Wie viele Künstler*innen wollen wir? Regelt sich das über Angebot und Nachfrage oder nach staatlichen Förderungen? Sollten wir eine Inzidenzrate für Künstler*innen pro 100.000 Einwohner festlegen und uns dann ihren Angeboten und Einflüssen bereitwillig öffnen?
Wenn wir uns fragen, wie wir das Verhältnis von Kulturpolitik und den Künsten beziehungsweise Künstler*innen zeitgemäß anpassen und weiterentwickeln wollen, dann sollten wir uns auch fragen: Was wollen wir von den Künsten? Diese Frage stellen wir analog auch täglich in Bezug auf die Wissenschaften und den Sport. Warum sollten wir Zeit mit etwas verbringen und Geld ausgeben, wenn wir nicht wissen, was wir davon haben? Wenn jetzt die Antwort lautet: Wir möchten unsere Kulturpolitik von künstlerischen Angeboten überraschen lassen, dann dreht sich die Geschichte im Kreis. Das verstünde kein echter Sportsfreund.
Autor
Dr. Roland Schappert
arbeitet als Künstler und Autor, erforscht die Bildwerdung der Schrift zwischen Poesie und Politik und veröffentlicht Essays über einen zeitgenössischen Kunstbegriff. 2005 erhielt er zusammen mit Michael Ebmeyer den Videonale-Preis 10 im Kunstmuseum Bonn. Ausstellungen und Interventionen im In- und Ausland. 2007–2010 Gastprofessur für Malerei an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Veröffentlichungen, Vorträge und Lehre über Aspekte eines zeitgenössischen Kunstbegriffs, Kunst & Wirtschaft. Zuletzt erschienen: Unsichtbarkeit Bildender Künstler*innen, Essay, Kunstforum International, Bd. 272, 2020; YOU, Künstlerbuch, Salon Verlag, 2020; Du fällst mir leicht, Gedichte, parasitenpresse, 2020.