Kunst kann Barrieren versetzen

Katrin Bittl

25. März 2021

Die Kunst brauche ich wie ein Fisch das Wasser. Einige Jahre hat es mich gekostet herauszufinden, weshalb das so ist. Weshalb es für mich keine andere Möglichkeit gab, als Künstlerin zu werden. Lange glaubte ich, ich könnte nur durch eine soziale Tätigkeit die Inklusion von Menschen wie mir verbessern, für meine Rechte als Frau mit Behinderung einstehen. Vor meiner Zeit an der Akademie der Bildenden Künste München war ich blind für die Rolle der Kunst im Zusammenhang mit Behinderung und Inklusion. Ich war den offensichtlichen Weg gegangen und hatte mich verirrt. Das Studium der sozialen Arbeit wurde zur Sackgasse. Ich erlebte die meiste Diskriminierung und Ausgrenzung genau dort, wo ich es am wenigsten erwartete: Unter Sozialarbeiter*innen und solchen, die es werden wollen. Unter diesem Druck brach ich mein Studium ab, kehrte zur Kunst zurück.

Die Kunst, der Mensch als kulturelles Wesen und das Thema Behinderung stehen im Inklusionsdiskurs in einem engen Bezug zueinander.

Weshalb schafft Kunst eine Brücke in eine inklusive Welt, die dennoch so utopisch und fern erscheint? Welche Rolle nehmen Künstler*innen mit Behinderung hierbei selbst ein und welche Aufgaben müssen der Kulturpolitik zugeschrieben werden?

Ich erinnere mich noch sehr genau an meine Anfänge an der Akademie der Bildenden Künste. Voller Ungläubigkeit, aber auch mit einer großen Portion Verbitterung war ich damals aufgenommen worden. Mit all meinen diskriminierenden Erfahrungen aus dem Sozialarbeitsstudium im Gepäck kam ich an und zweifelte an meiner Entscheidung, mich der Kunst hinzugeben: »Wie komm ich bloß dazu, Kunst zu studieren? Wieso habe ich alles hinter mir gelassen, um Künstlerin zu werden?«.

Schon zu meinen Förderschulzeiten hatte man mir mit der Kunst keine rosige Zukunft vorausgesagt. Meine übermäßige Ehrfurcht und Respekt vor diesem Ort spiegelten sich auch in dem wider, was ich damals von der Kunst und mir selbst hielt. Eine Mischung aus »Wahnwitzig, sein Hobby zum Beruf machen zu wollen« und »Was habe ich als behinderter Mensch schon zu verlieren?«.

Zunächst musste ich mich also einleben und meinen Platz an der Akademie, in einem kleinen Universum voller Freigeister, Provokateur*innen und voller Andersartigkeit finden. Meine Behinderung trat in dieser Welt schnell in den Hintergrund, denn ich war nichts Besonderes mehr, lediglich eine von vielen Verschiedenen. Und obwohl ich mich in meinen Arbeiten mit meiner Behinderung beschäftigte, erhielt ich überwiegend Aufmerksamkeit für meine Fertigkeiten. Von Kindesbein an hatte ich mich über meine Behinderung definiert und wollte ein Augenmerk auf meinen politischen Kampfgeist legen.

Doch niemand interessierte sich für meine defizitäre Selbstwahrnehmung oder meine politischen Absichten.

Was mir zunächst unheimlich widerstrebte, wurde später zum Schlüssel dafür, was ich heute über mich, meinen Körper, aber vor allem über mein Leben als Künstlerin mit Behinderung denke.

Mein Kunststudium befreite mich gewissermaßen davon, mich selbst um das immerwährende Thema meiner Behinderung zu drehen. Meine Behinderung, zentrales Merkmal meiner selbst, abzuschaffen, ist mir durch meine künstlerische Tätigkeit gelungen. Was in den Fokus geriet, war mein Können, weil meine Behinderung zur Selbstverständlichkeit wurde. Mein Alleinstellungsmerkmal war plötzlich nicht mehr mein Körper mit seinen Defiziten, sondern meine künstlerische Tätigkeit.

Und genau das ist es, was die Kunst zu so einem starken Mittel gegen all die toxischen Vorurteile über Menschen mit Behinderungen macht. Vor dem Hintergrund der Ressource, die Kulturschaffende mit Behinderungen mitbringen, tritt die Behinderung in den Hintergrund. Der Mensch hinter der Behinderung wird sichtbar.

Sichtbarkeit öffnet Türen in das Verständnis jener Menschen, die keine Berührung mit dem Thema Behinderung haben.

Ein gutes Beispiel hierfür ist, dass mein Nummer-eins-Eisbrecher meine Homepage ist. Lerne ich jemanden kennen, der*die mir gegenüber Berührungsängste zeigt, ist meine Homepage ein wahres Heilmittel. Ein kurzer Blick auf meine Leidenschaft und mein Gegenüber begreift, dass es keinen Grund gibt, mich zu bemitleiden: Es gibt hinter meinem Erscheinungsbild plötzlich mehr als das eindimensionale und flache Bild einer Behinderung.

Die Sängerin mit Glasknochen und der Schauspieler mit Downsyndrom wären also ein wahrer Katalysator für ein neues Menschenbild. Es ginge dann beispielsweise um deren Musikalität oder darum, dass der Schauspieler die Rolle eines erwachsenen Familienvaters spielen könnte, ohne dass sein Downsyndrom zwingendermaßen Inhalt seiner Rolle sein muss. Die Kunst ist also durchaus in der Lage, Einblicke in den tatsächlichen und wahren Alltag dieser Menschen zu geben. Frei vom »Behindertenfilter«, der sich auf alles legt und vom ersten Augenblick an die Wahrnehmung verzerrt!

Während im sozialen Bereich immer noch allzu oft ein medizinischer Blick von oben auf Menschen mit Behinderung geworfen wird, könnte man unter Kulturschaffenden gerade jetzt Morgenluft schnuppern.

Die Vernetzung von Künstler*innen mit Behinderung und Institutionen nimmt zu. Das Selbstbewusstsein von Menschen mit Behinderungen wächst und die sozialen Medien richten ihre Aufmerksamkeit immer stärker auf sie. Es wirkt geradezu, als würde die Stunde der Behindertenbewegung schlagen, weil die Solidarität untereinander ebenfalls steigt. Es täte sich also was!

Wäre da nicht dieser täuschende Konjunktiv. Haben Sie ihn bemerkt? Er hat sich über die letzten Abschnitte hinweg eingeschlichen. Denn in den ausschlaggebenden Punkten hinken wir noch immer hinterher. Das Attribut ›inklusiv‹ geht zu leicht über die Lippen und bedeutet eben nicht ›all inclusive‹. Die Trägheit der Barrieren scheint schier endlos, sie selbst: stählern und betonschwer. Der Hype um Inklusion hat keinen langen Atem, denn die Mühe muss ernst gemeint sein! Die Kluft zwischen dem Selbstverständnis von Menschen mit Behinderungen und der Anpassung ihrer Umwelt wird immer größer.

Nirgends bin ich auf mehr Offenheit, Bereitschaft an Veränderung mitzuwirken und auf Verständnis getroffen als im Kunstkontext.

Leider reine Glückssache, denn oft hängt der gute Wille an Einzelpersonen. Die Benachteiligungen, behindert und Künstlerin zu sein, wiegen doppelt schwer. Viele Menschen, die eine Behinderung haben, sind gewohnt, sich im Alleinkampf ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Eine unterstützende Familie, Bildung und finanzieller Rückhalt sind dabei absolute und entscheidende Privilegien, über die nur wenige verfügen. Genau hier muss sich politischer Einsatz noch deutlicher zeigen. Denn der Wille seitens der Institutionen zeigt sich durchaus! Aber eben viel zu selten.

Künstlerin mit Behinderung zu sein, birgt also ein großes Gefühl der Unsicherheit, fordert viel Mut und kommt mir manchmal geradezu dekadent vor. Seinen Traum durchzusetzen, benötigt Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein, das mehr Zuspruch und weniger Bürokratie verlangt. Denn die Untiefen der Kunst bergen unfassbares Potential und viel Raum für noch viel mehr Inklusion!

Autorin

Katrin Bittl ist Studentin an der Akademie der bildenden Künste in München. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit schreibt sie Kolumnen für Raúl Krauthausen, hält Vorträge zum Thema Kunst und Inklusion und verwirklicht eigene Projekte und Malworkshops in Zusammenarbeit mit den Netzwerkfrauen-Bayern.