Wer soll Ihrer Meinung nach ein Theater leiten: ein violetter Oktopus oder ein weißes Pferd? Am Ende dieses Textes finden Sie eine Antwort. Möglicherweise.
2021 ging in den deutschsprachigen Theatern immer mal wieder eine Türe auf, aus der ein Mensch aus den Tiefen des Betriebs in die Öffentlichkeit trat, manchmal vielstimmig orchestriert von einem »Skandal«: Zum Beispiel ein Intendant mit schwerwiegenden Vorwürfen von Machtmissbrauch und sexueller Belästigung im Gepäck, oder ein Schauspieler, der für sich beschlossen hatte, nicht mehr in einem strukturell rassistischen System Stadttheater funktionieren zu wollen. Manchmal öffnete sich diese Back Door auch bloß, um sich gleich wieder zu schließen, nachdem die theaterinteressierte Öffentlichkeit einen kurzen Blick auf das Innenleben des Betriebs werfen konnte, in dem Stimmen laut und nachdrücklich auf Machtmissbrauch, disfunktionale Kommunikation und mangelnden Schutz von Integrität der Mitarbeitenden hingewiesen hatten. Wir reden vom Ex-Volksbühnen-Intendanten Klaus Dörr, vom Schauspieler Ron Iyamu, von der Ikone des postmigrantischen Theaters und Intendantin des Gorki Theaters Shermin Langhoff. Und mit ihnen von Vorfällen in Berlin, Düsseldorf oder Karlsruhe.
Die so genannten »Skandale« haben vor allem etwas geschafft: zu verschleiern, dass eigentlich niemand von ihnen überrascht war. Sie zeigen in der Analyse vor allem eines: einen unüberwindbaren Graben zwischen einer Leitung und den Mitarbeitenden, die sich zusammenschliessen, um Missstände in der Führung und Etablierung einer Betriebskultur aufzuzeigen. Durch die Türen ausgeschleudert werden Einzelpersonen; entweder, weil sie in der Leitung nicht mehr tragbar sind (wie Dörr), oder weil sie als Arbeitnehmer*innen beschließen, nicht mehr Teil solcher Strukturen sein zu wollen (wie Iyamu). Doch während Künstler*innen, Theatermitarbeitende, Journalist*innen und Wissenschaftler*innen seit Jahren Reformbedarf und Transformationsdringlichkeit des deutschsprachigen Stadttheaters aufzeigen, bleibt dieses wider besseren Wissens eine zum Verzweifeln zähe Institution; weiß, bürgerlich und männlich dominiert.
Wenn »der Fisch vom Kopf her stinkt«, wie im Theater so oft und gerne gesagt wird, macht es dann Sinn, die Transformation auch von der Spitze des Organigramms aus zu denken? Neue Intendanzmodelle lassen das vermuten. Größere und kleinere Häuser treten mit Co-Leitungen an, die insbesondere in der Schweiz, dem Land, das ebenfalls von einer 7-köpfigen Exekutive geführt wird, kulturpolitisch mit grossem Elan installiert werden: das Neumarkt Zürich wird seit 2019 von einem weiblichen Dreier-Direktorium geleitet, auch das Theaterhaus Gessnerallee ist mit einer weiblichen Dreier-Leitung gestartet, dasselbe hat das Schlachthaus Bern ab Sommer 2022 vor. Das Schauspielhaus Zürich operiert seit 2019 mit einer männlichen Doppelspitze, und die Leitung Schauspiel vom Theater Basel liegt seit 2020 in den Händen eines Vierer-Direktoriums, das seinem Schauspiel-Ensemble erweiterte Kompetenzen in der Programmation und bei künstlerischen Entscheidungen einräumt.
Mehr als Symbolpolitik?
Doch sind Co-Leitungen mehr als bloße Symbolpolitik und effizientere Arbeitsteilung bei dem immensen Workload, der für eine Theaterdirektion anfällt? Wie verändern sich die Strukturen tatsächlich und erwirken Transparenz, reale Diversifizierung auf allen Ebenen des Betriebs und eine ausgeglichenere Verteilung von Entscheidungsgewalt?
Hier lohnt es sich, den Blick im Organigramm nach unten zu richten und den Bewegungsmelder einzuschalten. Wer die kollektive Agency von Mitarbeitenden mitschneiden möchte, braucht Seismografen und Taschenlampe, denn viele institutionstransformierende Initiativen, Projekte und Verbindungen laufen unter dem Radar einer Leitung. Es lohnt sich, genau hinzuschauen: Wie arbeiten Kolleg*innen an der Transformation ihrer Organisation mit: kollaborativ, eigeninitiativ, informell, anti-patriarchal, diskriminierungskritisch, queer, partikular, konspirativ, feiernd, elaborierend, aktivistisch, empathisch, verbindend, progressiv…?
Vielleicht hilft es hier auch, in einem schnellen Gedankentest den Begriff des (männlichen, weißen) »Intendanten«, der sich auf ungeklärte Weise aus französischen und deutschen Militär- und Verwaltungszusammenhängen in den Bereich der Kunst geschmuggelt hat und in erster Linie Durchsetzung und Direktive meint (und im absolutistischen Frankreich sogar »Steuereintreiber«), mit dem Begriff der »Autor*in« zu ersetzen. Autor*innen einer Institution sind diejenigen Akteur*innen, die diese schaffen, schöpfen, gestalten – und damit zu Urheber*innen eines produktiven Zusammenhangs werden.
Wenn wir nämlich eine Institution nicht als eine in Stein gemeißelte Struktur, sondern als eine von diversen Akteur*innen betriebene stetige Praxis begreifen, lässt sich die Frage nach ihrer Autor*innenschaft stellen: Wer betreibt diese instituierende Praxis, wer ist also der*die Produzent*in der Institution, wer arbeitet an ihrer Veränderbarkeit, wer gestaltet sie mit welchen künstlerisch-kritischen Intentionen? Was, wenn die diversen Akteur*innen eines Theaters die Institution genauso als Werk-in-progress begreifen wie eine Inszenierung oder ihre künstlerische Theaterpraxis generell? Wenn »Theater machen« und »Institutionen machen« keine getrennten Angelegenheiten sind, sondern zum gleichen Tätigkeitsfeld gehören: der Gestaltung eines künstlerischen Produktionszusammenhangs? Hier wird es Zeit für ein, frei nach Leslie A. Fiedler, »cross the borders, close the gaps«.
Ein Theater produziert nicht nur Werke für ein Publikum, sondern auch Kommunikationsstrukturen und Verhältnisse des sich-gegenseitig-aufeinander-Beziehens, des sich-Zeigens, sich-ausgesetzt-Seins, die als politisch zu begreifen sind, weil sie auf die Lebensbedingungen, Fertigkeiten, Potentiale und die psychische Disposition der Mitarbeitenden einer Organisation zurückwirken. In diesem Sinne wird der Betrieb zu einem binnenpolitischen Raum, in dem sich diejenigen bewegen und ihn gestalten, die sich als seine »Autor*innen« begreifen, zu einem »Raum mit Öffentlichkeitsstruktur« (Paolo Virno), der beansprucht, was früher dem Feld der Politik vorbehalten war: das Verhandeln der Bedingungen der Zusammenarbeit und des betrieblichen Zusammenlebens.
»Institutionelle Autor*innen« agieren innerhalb einer Organisation als Doppelagent*innen: Sie sind meist als ausgebildete professionelle Theaterschaffende aus den Bereichen Schauspiel, Regie, Dramaturgie oder Kulturmanagement angestellt – gleichzeitig übernehmen sie informell häufig institutionstransformative Aufgaben. Damit gemeint sind Tätigkeiten, die nicht nur einen kritischen Diskurs über die Verfasstheit einer Institution etablieren und aufrechterhalten, sondern auch in der Verschränkung von strukturellen Maßnahmen und künstlerischen Praxen institutionelle Veränderungen prozessieren. Für diese Tätigkeiten gibt es bis anhin weder Berufsbezeichnungen und noch finanzierte Positionen, sie bewegen sich fluide zwischen künstlerischer und organisatorischer Praxis und sind in einem traditionellen Organigramm nicht lokalisierbar. Trotzdem finden in Theatern gegenwärtig zahlreiche kollaborative, institutionstransformierende Prozesse statt, die diverse Themen, Ziele und Ausprägungsformen haben.
Ein Beispiel: Schauspielhaus Zürich
Fokus Schauspielhaus Zürich: Dort zeigen sich zurzeit verschiedene Formen einer möglichen »institutionellen Autor*innenschaft«. Mit der Intendanz von Stemann/von Blomberg hat 2019 am Schauspielhaus Zürich das Projekt eines Theaters begonnen, das Diskriminierungen jeglicher Art entgegenarbeiten und geschützte Räume für künstlerische Entfaltung jenseits traditioneller Machtverhältnisse schaffen möchte. Ein solches Projekt, das die Betriebskultur und -struktur von Grund auf mit neuen Prämissen unterlegt und ideell durchdringt, ist langfristig angelegt und muss auf vielen Ebenen stattfinden.
Einige der transformativen Ziele des Hauses bedürfen direktiver struktureller Massnahmen: Die Zugänglichkeit für alle Körper zu Positionen, Strukturen und Räumen der Institution kann zum Beispiel top down über eine diskriminierungssensible Einstellungs- und Lohnpolitik, eine fest angestellte Diversitätsagentin, Anpassungen in der Infrastruktur, neue Standards in der Kommunikation und weitere Strategien, die Ungleichheiten aller Art auffangen, vorangetrieben werden. Institutionelle Autor*innen interessiert hingegen, wie diskriminierungssensible Strategien von den Mitarbeitenden selbst initiiert, praktiziert und vergrössert werden und bottom up in eine Institution hineinwachsen können.
Alle hier skizzierten Vorstöße, Projekte und Versuche am Schauspielhaus zeichnet aus, dass sie eigeninitiativ und informell sind, sie entstehen jenseits der offiziell vereinbarten Aufgaben der Mitarbeitenden im Betrieb und außerhalb von Sitzungsstrukturen. Sie sind oft abteilungsübergreifend und kollaborativ organisiert. Einige der Bewegungen diffundieren noch nicht in die Gesamtstruktur des Hauses, erobern sich aber ständig mehr Raum. Ein paar Beispiele:
*Eine Kostümassistentin treibt die Dekolonisierung des Kostümfundus voran und durchforstet die Kostümteile nach tradierten kolonialen, rassifizierten Stereotypen, katalogisiert Bleibendes und entsorgt Überkommenes.
*Die fünf festangestellten Produktionassistent*innen haben ein Manifest verfasst, in dem sie nicht nur ihre Aufgaben neu definieren und ihre Grenzen markieren, sondern sich auch von der traditionellen Rolle als Dienstleistende der Regie verabschieden. Das Manifest ist für Probenprozesse am Haus mittlerweile bindend.
*Produktionen mit sensiblen Themen, die sich um Intimität, Sex, Machtmissbrauch und Körperbilder drehen oder auf der Zusammenarbeit mit nicht-professionellen Spieler*innen basieren, erhalten nun auf Initiative der Dramaturgie eine Begleitung durch diskriminierungssensible Coaches und/oder eine*n Intimacy Coordinator, die*der verantwortlich ist für die Schaffung eines diskriminierungsarmen Probenraums. So werden Produktionen nicht nur körpersensitiv begleitet, sondern auch der hausinterne Diskurs über die Themen Safer Spaces und Consent, Verletzlichkeit und Vertrauen abteilungsübergreifend vertieft.
*Eine Gruppe von Dramaturg*innen, Assistent*innen und Ensemblemitgliedern erarbeitet zur Zeit eine »Praxis der Fürsorge«, ein kollaboratives Projekt, das sich zum Ziel setzt, für die Mitarbeitenden des Hauses ein Bündel von Strategien zu entwickeln, die einen bewussten und sorgsamen Umgang mit unterschiedlichen Körpern, anti-diskriminatorisches Sprechen und machsensitives Handeln im Betrieb nachhaltig verankern. Sie fragen, wie Praktiken der Fürsorge alle Körper mitdenken und ihrer Verletzlichkeit und Gefährdung durch Krankheit, Erschöpfung und Diskriminierung gerecht werden können; wie sich ein sorgsames Sprechen in Arbeitssituationen – zum Beispiel in Proben, Sitzungen, im Austausch mit dem Publikum – an einem Haus etablieren kann. Wie aktiv ein Selbst-Bewusstsein für das eigene Handeln, die eigenen Grenzen, das eigene Sprechen und das der anderen entwickelt und in Proben- und Arbeitssituationen Consent hergestellt und abgelehnt wird. Wie Mitarbeitende eine gegenseitige Sorgfaltspflicht wahrnehmen können. Das Team bietet Räume für Erfahrungsaustausch und gemeinsames Lernen und entwickelt ein regelmässiges Angebot an Übungen, Trainings und Tools für den Berufsalltag.
Fazit
In all diesen Projekten wird eine »institutionelle Autor*innenschaft« sichtbar, die ein Theater als Organisation als veränderbar begreift und im Rückgriff auf tradierte Strukturen kritisch beleuchtet und transformiert. So wirken die Initiativen auf Produktions- und Kommunikationsstrukturen ein, denken Repräsentationspolitiken mit – und prägen eine neue Kultur des Produzierens und Zusammenarbeitens am Theater. Der Begriff der »institutionellen Autor*innenschaft« eröffnet demnach ein neues Terrain innerhalb der Institution (und der konkreten Organisation), den es auszuloten gilt. Mit ihm treten die Mitarbeitenden eines Theaters auf neue Weise in die Sichtbarkeit. Indem sie Handlungsmacht auf institutioneller Ebene erlangen, Prozesse initiieren und gestalten und ihre Potentiale besser ausschöpfen können, verändern sich ihr Status und ihre Handlungsfähigkeit in einer Organisation und damit traditionelle Berufsbilder. Das Bündel dieser institutionstransformierenden Prozesse steht für ein emanzipatorisches Theater, das es, wie alles am Theater, kollaborativ zu erproben und nachhaltig in der entlohnten Arbeitszeit zu verankern gilt.
Und weil es wichtig ist, steht es am Ende: Ohne Geld und ohne Zeit gibt es keine institutionstransformierenden und emanzipatorischen Vorgänge – egal, auf welcher Ebene eines Betriebs sie stattfinden. Nur wenn Praxen des Instituierens, wie auch immer sie aussehen und wo auch immer sie stattfinden, Teil der Berufsbilder am Theater und anerkannter Teil vertraglich vereinbarter Aufgaben werden, kann »institutionelle Autor*innenschaft« tradierbares Wissen generieren und nachhaltig wirksam und sichtbar sein.
Darum ist dieser Text ein Plädoyer für den Oktopus statt für das weiße Pferd, auf dem ein meist männlicher Ritter-Intendant die Zügel straff in der Hand hält. Für den Oktopus, bei dem der eine Arm vielleicht nicht weiß, was der andere macht, einen violetten Oktopus, wie er seit Antritt der neuen Leitung als Maskottchen in der Zürcher Gessnerallee lebt. Und damit ein Plädoyer für eine Institution, die in ihrem Kopf Platz für neun Gehirne hat und viele Arme braucht, um mit der Wirklichkeit ihrer Mitarbeitenden in Berührung zu kommen. Theater ist ein wildes Tier mit mehr als einem pulsierenden Herzen.
Autorin
Fadrina Arpagaus, geboren in Zürich, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Berlin und schloss mit einem Master of Arts ab. Sie war als Dramaturgin u.a. am Theater Basel, am Theater Neumarkt Zürich und am Konzert Theater Bern engagiert und leitete mehrere Jahre das Programm der Zürcher Kulturinstitution »Karl der Grosse«.
Seit der Spielzeit 2019/20 ist Fadrina Arpagaus Teil des Dramaturgie-Teams am Schauspielhaus Zürich. Sie ist zudem Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste und co-leitet den »Dramenprozessor«, das Schweizer Förderprogramm für junge Dramatiker*innen.