Kulturinfarkt revisited?

Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz

25. November 2020
PDF

»Es wird die gleiche Welt sein, nur ein wenig schlimmer«

Michel Houellebecq

»Unsere Kultur geht auf keine Kuhhaut«

Hans Magnus Enzensberger (1997)

Die Corona-Pandemie hat Gesellschaft und Ökonomie weltweit erschüttert. Wie weiter? Die einen wollen so schnell wie möglich zurück zu einer wie immer definierten früheren ›Normalität‹ – die anderen fragen sich, ob diese Krise nicht eher Chancen berge, Neues zu denken und umzusetzen. In der Kulturpolitik laufen solche Überlegungen wie üblich eher verdeckt. Niemand, der am öffentlichen Geldhahn sitzt, soll irritiert werden. So sieht man an der Oberfläche nur das Bemühen der Verbände und ihrer Vertreter, Rettungsprogramme zu aktivieren; gerettet werden soll, was da ist. Und der Bund rettet.

Aber diese Rettungsprogramme lösen die strukturelle Krise, in der sich Kulturpolitik und Kulturfinanzierung schon lange befinden, nicht; sie verlängern sie. Nach dem Auslaufen der Rettungspakete wird die kulturpolitische Überforderung über uns als weitere Welle hereinbrechen. Beim absehbaren Rückgang öffentlicher Ausgaben nach dem ›großen Wumms‹ und dem kleineren im Herbst und dem, was noch kommen mag, besonders bei Kommunen und Ländern, wird sich diese Krise nicht mehr durch öffentliches Geld zugedeckt lassen. Die Vorstellung, dass sich strukturelle Probleme dank immer mehr Geld verflüchtigen, wird sich als die große Illusion entpuppen. Da passt es gerade, dass die Kultur – auch – das Reich der Fiktionen ist.

International, wo der ›Wumms‹ nicht so riesig daherkommt, wird schon jetzt über Kürzungen in der Hochkultur im Abgleich mit anderen Politikfeldern offen diskutiert. Ist Kulturpolitik hierzulande in der Lage, die Zukunft zu gestalten, notwendige Veränderungen und Reformen voranzutreiben, auch zulasten von einer Reihe von Kulturakteuren und -einrichtungen – oder entscheiden dies einmal mehr die Finanzminister und Stadtkämmerer? Im Folgenden sind nur einige der Felder angesprochen, in denen sich Neues denken und tun lässt.

Haushaltskonsolidierungen
Nach der Bazooka kommt das Aufräumen (das haben Militärmetaphern so an sich), eine neue Runde von Haushaltskonsolidierungen. Alte Erfahrungen sagen: Erst werden die Pflichtaufgaben abgedeckt, dann langfristig geschlossene Verträge bedient. Für die Kultur heißt das: Große Einrichtungen, Stadttheater, Museum, Stadtbibliotheken sind besser abgesichert als das Kleine, Experimentelle, nicht institutionell Geförderte. Wer immer schon bekommen hat, wird auch weiterhin bekommen – Neues wird »auf den Markt« verwiesen.

Solche Haushaltskonsolidierung macht alte Fragen wieder aktuell: Nach welchen Kriterien wird gefördert? Welche öffentlichen Zwecke werden verfolgt? Entsprechen die geförderten Strukturen den Kriterien, den kulturpolitischen Zielen? Oder sind die Ziele praktischerweise eine Funktion der gegenwärtigen Verteilmechanismen, ohne auch nur einen Hauch der ideen- und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen eben dieser – gemäß Sprachregelungen – immer »historisch gewachsenen« öffentlichen Haushalte zu diskutieren? Wird die hergebrachte Verteilung der Mittel (98 Prozent gebunden für die großen Institute, 2 Prozent für die Unabhängigen) diesen Kriterien und öffentlichen Zielen gerecht?

Systemrelevanz
Jede kulturelle Einrichtung, Initiative, jedes Projekt und jede und jeder Beteiligte definieren sich heute als systemrelevant. Systemrelevanz wird als Synonym benutzt für den Anspruch auf staatliche Unterstützung und, aktuell, Corona-Nothilfe. Doch so viel Relevanz trübt den Blick auf die Unterschiede. Systemrelevanz bedeutet nicht, dass alles, was zum System gehört, auch relevant ist. Im Gegenteil, Systemrelevanz kann nur jenen Teilen zukommen, ohne die das System zusammenbricht. Anders rum: Vieles könnte weg, und das System als Ganzes würde sogar an Relevanz gewinnen.

Gerade der Corona-Lockdown hat gezeigt, mit wie wenig es ginge … wenn ein wenig auch dank digitaler Surrogate. Und der Lockdown light trifft die performative Kulturszene wie der erste. Die kulturpolitischen Schlüsselfragen lauten deshalb: Was muss das Kultursystem leisten? Welches sind seine – ideengeschichtlich, bildungsbezogenen, sozialpolitisch – relevanten Teile? Gibt es einen »Versorgungsauftrag«, wer formuliert(e) ihn? Wie verhält sich der Auftrag zur wachsenden Mobilität und zum digitalen Medium? Welche Formel finden wir, solche Relevanz periodisch neu zu definieren?

Welche Rolle kommt hier dem Markt zu, der Bereitschaft der Nutzer*innen, angemessene Preise zu bezahlen? Denn es entstehen neue Bereiche wie die digitalen Erlebniswelten, die Zeit und Aufmerksamkeit absorbieren. In der Kultur bleibt das Alte neben dem Neuen bestehen. So wächst das Angebot umgekehrt proportional zum Publikum. Das ist kein Problem, solange das Publikum allein für die Finanzierung aufkommt.

Doch die Kultur ist ein Musterbeispiel für die Verteilung der Lasten auf alle, auch auf die Nicht-Beteiligten. Alte Spitäler reißt man ab, alte Flughäfen werden zu Innovationsparks umfunktioniert. Historisch gibt es nur ein Beispiel, das wie die Kultur funktionierte, und es ist eng verwandt: die Kirche. Auch hier stellte man die neue neben die alte. Was weder die eine noch die andere besser füllte oder ihre Relevanz steigerte.

Woraus sich die Grundfrage jeder Politik ableiten lässt: Ist es ein Naturgesetz, dass der Staat Einfluss und Verantwortung immer weiter ausdehnt und damit die Kultur einer Leistungsplanung unterwirft? Oder ist eine Politik denkbar, die dem freien Spiel der Kräfte mehr Raum gibt und sich auf Kernbereiche und die Festlegung von Regeln beschränkt?

Beschäftigungsverhältnisse
Die Corona-Krise hat es überdeutlich gemacht: In der Kultur Beschäftigte sind nicht gleich, und das in vielerlei Hinsicht. Es gibt Künstler*innen, die in ihrem Wirken stark auf Publikum angewiesen sind: die performativen Künste, alle im Veranstaltungsbereich Tätigen usw. Andere sind nicht in gleichem Maße auf Live-Publikum angewiesen: Schriftsteller*innen, Maler*innen. Doch auch hier ist zu differenzieren: Auftritte und Lesereisen sind für manche in der Literaturbranche wichtiger Teil des Einkommens, andere leben von ihren Buchhonoraren allein. In den Nothilfeprogrammen wurde vieles über einen Kamm geschert. Wo aber ist hier zu differenzieren? Ist es fair, dass Kreative Übergangshilfe bekommen, andere Menschen, die durch die Pandemie in Not geraten sind, aber auf das soziale Netz verwiesen sind? Nach welchem Kriterium wird man hier Künster*in? Kann da jede*r mitmachen?

Und dann gibt es auch in der Kultur gut abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse, etwa im Orchester, im Theater, in den Museen – aber eben auch jene Selbstständigen, die den gut abgesicherten großen Einrichtungen zuarbeiten. Erstere vor allem kommen recht gut durch die Krise; wo der Staat 80 bis 90 Prozent der Kosten deckt, leiden die Beschäftigungsverhältnisse zuletzt, auch wenn Corona-bedingt nicht gespielt wird. Wie aber entstand jener Kreis von freien Berufen rund um die etablierten Institutionen? Geht es hier ähnlich zu wie in der Fleischwirtschaft mit einer Kernbelegschaft und einer Corona von Scheinselbstständigen?

Organisations- und Führungsstrukturen
Kulturbetriebe sind sehr unterschiedlich verfasst – die Skala reicht vom markt- und gewinnorientierten Privatbetrieb, von der Stiftung bürgerlichen Rechts über den e.V. ohne fiskalische Zuschüsse und den e.V. mit solchen. Manche Betriebe bekommen öffentliche Mittel als Projektförderung, andere als institutionelle Förderung, und die Krone der betrieblichen Schöpfungen in öffentlicher Kulturhand sind nach wie vor die Stiftungen öffentlichen Rechts und schließlich auch, immer noch, die Behörde. Das Gipfelamalgam beider Institutionalitäten bildet die Stiftung Preußischer Kulturbesitz – passend zur Pause zwischen den beiden Pandemie-Wellen kam das Gutachten, das die Entschlackung der aufgeblasenen Stiftung empfiehlt.

Doch die auf Bundesebene für Kultur zuständige Staatsekretärin Grütters nutzt ganz offenbar einzig die aus diesem Befund auch erwachsende Chance, persönliche Machtbereiche während der pandemischen Zeiten innerhalb der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ›zuständigkeitshalber‹, auszubauen. Sie vergibt die Chance, die das Gutachten des Wissenschaftsrates an die Hand gibt: über Strukturen und damit verbundene Betriebsformen in der Kultur, hier im größten deutschen Kulturbetrieb, konkret nachzudenken.

Passen bürokratische Betriebsformen und Führungsstrukturen eigentlich zu kulturellen Inhalten? Zum kritischen Auftrag? Theater, aber auch mancher Museumsbetrieb, sind auf die Persönlichkeit einer künstlerischen Leitung, einer Intendanz zugeschnitten: Der kulturelle Zwölfender (das sind inzwischen auch Zwölfenderinnen) tritt auf die Lichtung. Zum Grundverständnis gehört, dass es Führungsprobleme nicht gibt. Diese Position bringt weitgehende Durchgriffsrechte und fast diktatorische Vollmachen mit sich.

Passt das zur Kulturvermittlung, zum Partizipations- und Inklusionsauftrag, der Empathie und Flexibilität des Diskurses voraussetzt? Manche Beispiele zeigen, dass solche Führung schnell problematisch werden kann. Wie also soll ein Kulturbetrieb aussehen? Welche Form, welche Führung passt zu welcher Aufgabe und Kunstsparte im öffentlichen Kulturbetrieb? Wo können unternehmerische Formen eingesetzt werden, wo der öffentliche Betrieb abgestreift werden?

Kulturelle Bildung
Vor ca. zehn Jahren begann die Karriere dessen, was man Kulturelle Bildung nennt. So richtig verstanden hat den Begriff bislang niemand. Kulturpolitisch meint man mit dem Hinweis auf die dringende Erfordernis Kultureller Bildung, dass bildnerisches Gestalten wie gleichermaßen Musizieren, Singen und Tanzen, möglicherweise auch Schauspielern und Rezitieren in allen Sozialisationsprozessen nützlich sind und deswegen keinesfalls vernachlässigt werden dürften.

Die Richtigkeit dieser Einsicht steht in einem merkwürdigen und offenbar irgendwie nicht (jedenfalls bislang nicht mit politischen Mitteln) beseitigbaren Widerspruch dazu, dass der Aus- bis stellenweise komplette Wegfall von Unterricht in musischen Fächern in den Allgemeinbildenden Schulen ohne großen Protest hingenommen wird. Natürlich gab und gibt es Initiativen aller Art, sogar ein Rat für Kulturelle Bildung wurde vor einigen Jahren gegründet, und landauf landab entstehen Initiativen im Umfeld von außerschulischen Bildungseinrichtungen aller Art. Auch die für Kultur zuständigen Minister*innen bemühen sich dann und wann, keine Frage.

Was machen wir da alle zusammen eigentlich? Einerseits wissen alle, dass freiwillig bislang niemand auf Regelunterricht in musischen Fächern in allen europäischen Bildungssystemen der letzten Jahrtausende verzichtet hätte. Andererseits führen wir mit dem Programm zum Ausbau und zur Stärkung außerschulischer Kultureller Bildung vor Augen, dass musische Erziehung ganz offenbar im normalen Bildungsgang keinen Platz hat. Wenn es keine Schimmel mehr gibt, dann müssen eben weiße Schimmel her.

Es gibt jede Menge Antworten auf politischen Ebenen, um den begrifflichen Widerspruch nicht benennen und den offenkundigen Mangel nicht einräumen zu müssen. Von Lehrermangel ist ebenso die Rede wie von unterschiedlichen pädagogischen Ausbildungsgängen, die einerseits in Beamtenverhältnissen, andererseits im Angestelltenstatus oder in Freiberuflichkeit münden sollen. Die Notwendigkeit, sich unbedingt vermehrt um MINT-Fächer zu kümmern, wird massiv ins Feld geführt, und wenn gar keine Argumente mehr vorhanden sind, dann ist der Mangel an Unterricht in musischen Fächern, na klar, der Digitalisierung geschuldet.

Warum nicht in einem ersten Schritt das System (föderal bedingt sehr unterschiedlich strukturiert und öffentlich verankert) der Musikschulen schlank in die Allgemeinbildenden Schulen integrieren? Außerschulische musische Angebote wären dann als wunderbar willkommene Ergänzung eines Kerns von musischem Schulunterricht zu begreifen; das Substitutgezappel ganzer Subsysteme Kultureller Bildung mit allen ihren institutionellen und damit auch administrativen Folgen könnte man beiseite lassen. Und wenn man Ähnliches vielleicht in einem Zusammengehen der Schulen bzw. von deren Trägern mit verbandlichen Strukturen der Bildenden Kunst erprobte?

Ähnlich wäre den weiter extrem gut mit Steuermitteln versorgten öffentlichen Theatern der Auftrag flächendeckend ins Stammbuch zu schreiben, Regelangebote für Schülerinnen und Schüler zu schaffen, die gemeinsam mit Schule zu planen seien.

Digitalisierung
Die letzte Dekade gilt als Jahrzehnt der Digitalisierung. Die Arbeitswelt hat sich für viele radikal verändert, eine neue kreative Klasse ist entstanden, die im Wesentlichen an ihren Laptops Zeichen manipuliert und modelliert und die als Heer von Freiberuflern den Einrichtungen überdies als günstige Lieferanten zur Verfügung stehen. Gleichzeitig hat der Bildschirm als Medium ästhetischer Erfahrung enorm an Bedeutung gewonnen. Die Politik, wo sie nicht mehr weiterweiß, lanciert Digitalisierungsprogramme.

Weil digital nach Zukunft klingt. Schulen werden digitalisiert, jedem Kind ein Tablet ist kein Versprechen mehr, sondern bereits ein teilweises Ärgernis. Denn gerade Corona hat gezeigt, dass Bildung im digitalen Medium die soziale Kluft vergrößert, weil Lernen einen kognitiv förderlichen Kontext benötigt und gerade digitales Lernen essentielle kulturelle Kompetenzen voraussetzt. Digitales Lernen erhöht den Abstraktionsgrad, es verknüpft nur noch Zeichen mit Zeichen, nicht Zeichen mit Objekten, sozialen Kontexten, Erfahrungen. Daraus ergeben sich für die Kultur- wie die Bildungspolitik ganz andere Fragen als noch zu Zeiten der großen Interneteuphorie.

Brauchen wir mehr arbeitsweltbezogenen Ausbildung oder mehr – ganz altmodisch – ganzheitliche Bildung? Welche Rolle kommt dem digitalen Medium im Unterricht zu? Welche in der Kulturvermittlung? Wie nutzen wir Social Media, in denen alle kompetent sind, als Tor zur Kultur? TikTok und Oper – wirklich unmöglich? Gibt es Formen digitaler kultureller Vermittlung, die von unten kommen und nicht von oben, die also nicht zum vornherein der kulturellen Elitenselektion dienen?

Niemand, auch die Autoren dieses Textes nicht, erwartet eine Kulturpolitik, die all diese Fragen kohärent und widerspruchsfrei beantwortet. Aber eine, die sich diesen Fragen stellt und sie nicht einfach mit »mehr Geld« beantwortet. Ständiges Wachstum, abgebildet in wachsenden Zuschüssen, und das Kompensieren von Problemen mit Geld waren schon vor der Krise vorgestrig.

Wachstum löst keine Probleme mehr, sondern schafft sie. Gerne wird eine Haltung, die Selbstverantwortung propagiert und den Markt als Instrument gesellschaftlicher Steuerung anerkennt, als neoliberal abgetan. Was sonst kann komplexe Gesellschaften koordinieren außer Märkten, die in rechtliche und soziale, letztendlich: politische Ordnung eingebettet sind? Die Weisheit kulturpolitischer Strategen reicht garantiert nicht; konzeptbasierte Kulturpolitik ist genauso von gestern.

Kulturpolitik muss das kompetitive Spiel der Kräfte zulassen, ja fördern. Sonst blockiert sie im Interesse der Besitzstandverteidiger jenen Wandel, der Kultur überhaupt ist. Neoliberal im Sinne von kaltherzig hingegen ist eine Kulturpolitik, die im Windschatten der großen und gut alimentierten Institute das Entstehen einer neuen Klasse künstlerischen Proletariats aktiv befördert, indem sie ihm seine Ketten belässt. Tja – immerhin habe es ja seine kreative Würde, bleibt die im Grunde zynische Schlussfolgerung.

Doch, da wäre eine Menge zu tun. Ein dem Status Künstler*in angemessenes Sozialversicherungsrecht, neue Gouvernanz- und Führungsmodelle, Vereinfachung der Strukturen, Deinstitutionalisierung, mehr finanzieller Raum für Unabhängige – volles Programm!

Autoren

Foto: Dirk Heinze

Prof. Dr. Dieter Haselbach, Berlin
Direktor des Zentrums für Kulturforschung

Prof. Dr. Armin Klein, Ettlingen
Professor em. für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement am Institut für Kulturmanagement der PH Ludwigsburg

Pius Knüsel, Zürich
Direktor der Volkshochschule des Kantons Zürich

Prof. Dr. Stephan Opitz
Professor am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien / Universität Kiel Begründer des Kieler Masterstudiengangs Angewandte Kulturwissenschaft