Auf die Couch!

Martin Zierold

18. Dezember 2020

Wenn in einer Beziehung einer der beiden Partner zutiefst gekränkt »mehr Wertschätzung« vom anderen verlangt, dann sollten die Alarmglocken läuten. Zum einen, weil es nie ein gutes Zeichen für eine Partnerschaft ist, wenn sich (mindestens) eine Seite nicht wertgeschätzt fühlt. Zusätzlichen Grund zur Sorge gibt zudem, dass die einseitige Forderung nach Wertschätzung so wenig aussichtsreich ist. Wertschätzung auf Befehl, das ist eine geradezu paradoxe Forderung: Schließlich möchte ich von meinem Partner, meiner Partnerin ja gerade nicht zähneknirschend, schuldbewusst oder halbherzig auf Verlangen geschätzt werden, sondern unbedingt, unaufgefordert und aus innerster Überzeugung. Wenn es soweit ist, dass Wertschätzung eingefordert werden muss, dann ist es höchste Zeit für die Paarberatung.


So gesehen gehören (öffentlich geförderte) Kulturakteur:innen und (Kultur-)Politik, ja womöglich der Kulturbetrieb und die Gesellschaft im Ganzen gemeinsam auf die Couch. Da ist einerseits die Kulturseite, die sich gekränkt und unverstanden fühlt, als »Freizeit« und »Unterhaltung« herabgewürdigt empfindet und unter zornigen Tränen mehr Wertschätzung als bedeutsamer Faktor im Gemeinwesen verlangt. Und auf der anderen Seite stehen politische Entscheider:innen (in ihrer Funktion als Vertretung dieses Gemeinwesens), die gestresst versprechen, beim nächsten Lockdown aber ganz bestimmt »die Kultur« als eigene Sphäre zu benennen, und ansonsten bitte in Ruhe gelassen werden möchten: Es ist so viel los gerade und so wenig Zeit…


Und da die Kulturcommunity weiß, dass sie spätestens übermorgen sehr dringend auf weiteren Zugang zum Geldbeutel der Politik angewiesen sein wird, nörgelt sie noch gerade so viel weiter, dass das schlechte Gewissen der Regierenden befördert wird – aber auch nicht mehr, damit sich die Politik bitte nicht völlig abwenden möge aus der gemeinsamen Beziehung. Geklärt ist nichts, und die in die Jahre gekommene kriselnde Partnerschaft wird aus einer Mischung aus alter Gewohnheit, Abhängigkeit und Ideenlosigkeit möglicher Alternativen betreffend fortgeführt.

Es ist Zeit, alte Muster zu durchbrechen

Es ist höchste Zeit, dieses traurige und vor allem unproduktive Muster zu durchbrechen. Dazu wäre es nötig, nicht nur – fraglos berechtigte – Kritik an der mindestens bedenklich unbedachten wenn nicht erschreckend ahnungslosen Kommunikation des zweiten Lockdowns zu üben, sondern auch sich selbst bzw. das eigene Selbstbild kritisch zu befragen. Wie in wohl jeder Beziehung ist der Blick in den Spiegel vielversprechender als eine ultimative Forderung an das Gegenüber (»mehr Wertschätzung«). Doch zumindest die Lautstärkeren der Interessenvertreter:innen der geförderten Kultur sehen bei einem solchen Blick in den Spiegel anscheinend wenig Anlass zur kritischen Reflexion der eigenen Praxis. Sie forderten in ihren ersten Statements vor allem eins: die uneingeschränkte Wertschätzung der eigenen Relevanz, gern zugespitzt auf den Begriff der »Systemrelevanz«.


Oft waren es dieselben Personen, die der Politik Denk- und Sprachversagen vorwarfen, weil sie Kultur als »Freizeitprogramm« degradiere, die mit der »Systemrelevanz« selbst einen Begriff im Mund führten, der in vielerlei Hinsicht fragwürdig ist. Im öffentlichen Diskurs ist der Begriff der »Systemrelevanz« zunächst untrennbar verknüpft mit der Finanzkrise ab 2007. Damals bezog er sich auf strauchelnde Banken, die eigentlich pleite waren, jedoch staatlich gerettet werden sollten, weil ihr Untergang das Finanzsystem selbst mit in den Abgrund hätte reißen können. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die gleichen Sprecher:innen der öffentlichen Kultur, die sich vehement beklagten, mit vermeintlichen Niederungen der Lebenswelt wie Fitnessstudios und Bordellen in einen Topf geworfen zu werden, sich in unmittelbarer rhetorischer Nachbarschaft zu taumelnden Großbanken recht wohl zu fühlen scheinen.

Relevant – für wen?

Was uns direkt zu der Frage der »Relevanz« führt – die ja immer eine Zuschreibung ist, keine Tatsache, sondern eine beobachter:innenabhängige Bewertung: Nichts ist an und für sich relevant, Relevanz gibt es immer nur für etwas oder für jemand. Doch für wen genau ist »die Kultur« relevant? Und wie zeigt sich diese Relevanz? Wie etwa Birgit Mandel in ihrem Essay in dieser Reihe betont, ist es eine deutliche Minderheit der Gesellschaft, für die die Relevanz von öffentlich geförderten Kulturangeboten so groß ist, dass sie dafür – vor Corona – freiwillig und regelmäßig die eigenen vier Wände verlassen hätte. Doch solchen Zahlen zum Trotz pocht die geförderte Kultur auf ihre Bedeutung, die sich nicht nach ihrer konkreten Nutzung durch einzelne Personen – seien es viel oder wenig – bemesse: Ihre Relevanz ziele schließlich auf das große Ganze, eben auf das »System«.

Es soll ausdrücklich nicht bestritten werden, dass eine demokratische, freiheitliche, schlicht eine lebenswerte Gesellschaft ohne freie Kunst und Kultur nicht vorstellbar ist – und dies durchaus unabhängig von der konkreten Zahl ihrer aktiven Nutzer:innen. Aber das heißt noch lange nicht, dass es klug ist, seine eigene gesellschaftliche Rolle in der rhetorischen Figur der »Systemrelevanz« zu definieren, die die große Gefahr birgt, sich zu einer affirmativen Forderung nach Systemerhalt zu verdichten. Und um die kann und darf es doch ausgerechnet dem gesellschaftlichen Feld, dessen Funktion man gemeinhin unter anderem mit Reflexion, Kritik, ja auch potentiell der Subversion verbunden hätte, gerade nicht gehen.

Fragen stellen – auch an sich selbst

Gerade Kunst und Kultur haben die besondere Fähigkeit, die Fragen der Zeit auf zeitgemäße Art zu stellen und auch der Zeit voraus zu sein bzw. ihr voraus zu denken, zu fantasieren, zu spielen. Gerade auch dafür brauchen wir sie, gerade auch dafür dürfen wir Künstlerinnen und Künstler in dieser Krise nicht allein lassen, gerade auch dafür müssen wir die Vielfalt unserer kulturellen Institutionen verteidigen. Doch es ist höchste Zeit, dass wir die Fragen, die Kunst und Kultur der Gesellschaft stellen kann, auch auf die Kulturinstitutionen selbst beziehen und uns selbst den Fragen stellen – mit mehr Offenheit für schmerzhafte Antworten und mehr Bereitschaft zu konkreten Veränderungen als in der Vergangenheit.

So ist denn immerhin eine Facette der Entlehnung des Begriffs der Systemrelevanz aus der Finanzkrise durchaus stimmig: Von Systemrelevanz spricht man erst, wenn alles auf dem Spiel steht. Und in den nächsten Monaten und Jahren wird nicht nur für die Kultur, sondern für unser gesamtes Konzept von Gesellschaft tatsächlich viel auf dem Spiel stehen. Die Corona-Pandemie ist dabei aber eher ein beschleunigender, als ein allein bestimmender Faktor: Herausforderungen wie der menschgemachte Klimawandel, die digitale Transformation und die Krise der Demokratie und gesellschaftlicher Teilhabe werfen fundamental die Frage auf, wie wir gesellschaftliches Zusammenleben lokal, national und global so gestalten können, dass lebenswerte Zukunftsperspektiven erhalten bleiben.

Und in all diesen Bereichen waren es in den letzten Jahren nicht unbedingt die Kulturinstitutionen, die mit Blick auf ihre eigene Praxis hier von besonderer Neugierde, Erfindungsreichtum und Wagemut bzw. von dorther gebildeter Relevanz geprägt waren. Zudem wird zunehmend deutlich, dass die Dissonanz, ja der häufig bestehende diametrale Widerspruch zwischen den auf den Vorderbühnen propagierten Werten und der tatsächlichen eigenen Praxis auf den Hinterbühnen von vielen Kulturschaffenden nicht mehr länger hingenommen werden und auch hier zusätzlicher Veränderungsdruck entsteht, der auf mehr Stimmigkeit in den Kulturorganisationen abzielt, die heute von einem »practice what you preach« noch zu oft weit entfernt sind.

Neue Relevanz braucht neue Ansätze

An der Schwelle zu etwas Neuem machen sich notwendig Sorgen, Ängste, Verunsicherung breit – die alten Handlungsmuster funktionieren bereits spürbar nicht mehr, neue sind noch nicht oder nur in Teilen gefunden. Genau das ist eine basale Definition von »Krise«: Krise ist, wenn unsere etablierten, routinierten, vermeintlichen »normalen« Verhaltensweisen nicht mehr tragen.

Ich würde mir wünschen, eine wirklich selbstkritische Debatte der Kultur und der Kulturinstitutionen über ihre eigene Bedeutung und Rolle für eine Gesellschaft in Transformation zu hören, die ebenso lautstark ist, wie die Forderungen an die Politik. Ich würde mir wünschen, dass Kultur ihre Relevanz nicht nur reflexhaft behauptet, sondern dass diese Relevanz eine Erfahrung möglichst vieler und vielfältiger Menschen in ihrem konkreten Alltag ist. Ich würde mir zudem wünschen, dass Kulturorganisationen ihre eigene Organisationskultur überdenken und nach Wegen suchen, mehr Stimmigkeit zwischen Werten und Praxis zu erreichen.  Ich würde mir auch wünschen, dass Kulturakteur:innen und politische Verantwortungsträger:innen tatsächlich gemeinsam »auf die Couch« gehen, sich neu und anders zuhören, die reflexhaften rhetorischen Formeln hinter sich lassen und in einen echten Dialog treten. Wie in jeder Beziehungskrise würden davon beide Seiten profitieren. Und beide Seiten brauchen es, so dringlich wie seit Jahrzehnten nicht.

Das sind doch wieder nur Forderungen an Dritte, denken Sie jetzt? Was ich selbst tue, fragen Sie mich? Als Hochschullehrer muss ich mir tatsächlich ebenso fundamentale Fragen stellen: Bilden wir die nächste Generation richtig aus für die Herausforderungen, die vor uns liegen? Welches Wissen, welche Kompetenzen, welche Haltungen braucht es? Wie lehrt und lernt man angemessen in Zeiten dramatischer Transformation? Auch Hochschulen sind dringend gefordert, sich kritisch von der Gesellschaft befragen zu lassen und sich selbst kritisch zu befragen. Sehen wir uns vor dem Spiegel?

Autor

Martin Zierold

Professor für Organisationstheorie und Change Management am Institut für Kultur und Medienmanagement (KMM) Hamburg