Als es noch möglich war, sah ich den Darsteller*innen in Kay Voges’ »Don’t be evil« dabei zu, wie sie sich in der Volksbühne mal so richtig übers Internet auskotzten und dabei eine Reihe männlicher Medientheoretiker zitierten. »Das ist eine schlechte Parodie darauf, wie man sich in den 10er-Jahren Digitalität vorgestellt hat«, resümierte meine Begleiterin.
Ein Jahr später sitze ich verzweifelt in einem Anfänger*innen-Kurs für die Programmiersprache Python. Ich weiß nicht, was das sein soll: ein Datentyp, eine Variable oder eine Schleife. Ich brauche eine Stunde, um meinen Namen zu schreiben. Beide Erfahrungen sind eng verknüpft – und sie sagen etwas darüber aus, mit welchen Vorannahmen wir uns dem sogenannten Digitalen nähern.
Mythos Big Tech
Dass ich Berührungsängste vor Coding habe, liegt auch an den Mythen rund um digitale Technologien. Die ehemalige Google-Mitarbeiterin Meredith Whittaker kämpft für die Demystifizierung von Big Tech. Dazu zählt Whittaker den Mythos vom (zumeist männlichen) Genie. Oder magische Formeln, die normale Menschen (und besonders Frauen) niemals begreifen können. Oder sogar eigenständige Entitäten, die menschliche Arbeitskraft überflüssig machen.
Zur digitalen Mythenbildung passt, dass sich auch Kulturarbeiter*innen von digitalen Technologien allzu oft Rettung oder Untergang erhoffen. Und während sie in der semantischen Unschärfe zwischen AI, Algorithmus und Robotics versacken, produzieren sie staatlich gefördert eine Vielzahl sehr unterschiedlicher digitaler Produkte auf der Skala von »Kolonialwarenladen als digitales Erlebnis« bis zu einem von »tief lernende[n] Algorithmen und Künstliche[r] Intelligenz (KI) generierte[n] Tanzstück«.
Dabei ist die Lernkurve in Sachen Tech-Mythen überraschend steil. So weiß ich schon nach ein paar Wochen Python-Kurs, dass Code != Algorithmus ist. Ich weiß, dass die Künstliche Intelligenz in Wahrheit ziemlich dumm ist und extrem viele Ressourcen braucht, um am Ende gefährliche sexistische und rassistische Muster zu reproduzieren. Und ich weiß, dass wir uns gegen die privatwirtschaftliche Vereinnahmung von Informationen stemmen1 und miteinander solidarisieren müssen.
Irgendwas mit Digitalität
Vielleicht sollte Monika Grütters auch mal einen Python-Kurs besuchen. Die Kulturstaatsministerin steht der Digitalität jedenfalls hoffnungslos emotional gegenüber. Im letzten Jahr warnte sie beim Digital-Gipfel der Bundesregierung vor der »Allgegenwart der Algorithmen« und der daraus folgenden »Verrohung des öffentlichen Diskurses«. Einen ganz anderen Tonfall schlug sie Anfang Dezember in einer Pressemitteilung an, in der sie forderte, »jetzt künstlerische und künstliche Intelligenz zusammenzudenken«. Von Kultur und Medien erwarte sie »wichtige Impulse für die Debatte über Chancen und Grenzen dieser so vielversprechenden Technologie.«
Um diese Pläne in die Tat umzusetzen, sind in Grütters’ Haushaltsplan für 2021 weniger als 20 Millionen Euro für »Aufträge und Dienstleistungen im Bereich Informationstechnik« eingeplant. Gemeint ist hiermit die Digitalisierung im engeren Sinne, also die Verfügbarmachung der Bestände in den Museen und Archiven, und die digitale Struktur (WLAN, Software) in den Einrichtungen.
Für »Digitalpolitik und Strategische IT-Steuerung« sind zusätzlich zwei Millionen Euro vorgesehen. Dass damit eine durchschlagende strategische Positionierung möglich ist, ist zweifelhaft.2 Ein eigener Posten für eine kritische Auseinandersetzung mit Datenökonomie fehlt. Insgesamt machen die im Bereich Digitalisierung ausgewiesenen Mittel nur rund einen Prozent des Kulturetats aus. Zum Vergleich: Das Humboldt-Forum im Berliner Schloss kostet Stand heute 677 Millionen Euro.
Informationsarbeiter*innen of the world
»Künstlerische und künstliche Intelligenz« sind schon lange in eins gefallen und haben dabei die Arbeitsbedingungen von Kulturarbeiter*innen umfassend verändert. Ein Beispiel: Der Streaming-Dienst Spotify zahlt offenbar nur 0,00318 US-Dollar pro Stream – Tendenz sinkend. Und während Musiker*innen gerade angesichts der Corona-Krise mehr Geld fordern, hat der Konzern angekündigt, dass die Personen, die einen Großteil seiner Inhalte generieren, sich Reichweite erkaufen können, indem sie einer geringeren Tantieme zustimmen. Parallel dazu hat Spotify ein Patent für ein Programm eingereicht, das Musik-Plagiate aufdecken soll – zum großen Unmut von Musiker*innen, die fürchten, dass künftig nur große Firmen in der Lage sein werden, copyrightkornforme Musik auf den Markt zu bringen.
Konzepte für diese Zusammenhänge liefert McKenzie Wark in ihrem Buch »Capital Is Dead. Is This Something Worse?«3. Darin argumentiert sie, dass die Mächtigsten nicht mehr die Produktionsmittel besitzen, sondern die Macht über die Informationen haben. Etwa die Kontrolle über den Warenstrom, das Eigentumsrecht über einen Code oder das Copyright einer mächtigen Marke. Den Profit macht diese neue »vectoralist class« aber streng genommen nicht qua ihrer Informationskontrolle, sondern, weil sie die Arbeitskraft des »Info-Proletariats« ausbeutet. Auf den Kulturbetrieb gemünzt sind das die Musiker*innen, die für ihre Plattenfirmen geistiges Eigentum produzieren, die Programmierer*innen die den Recommendation-Code schreiben4 und all diejenigen, die auf Twitter ihre Spotify-Bestenlisten posten. Doch bis zu einem gemeinsamen Klassenbewusstsein von Musiker*innen, Programmierer*innen und Twitter-Nutzer*innen ist es noch ein weiter Weg.
Kulturpolitik olé, Kulturpolitik adé
Fairerweise wäre es ziemlich unangebracht von Monika Grütters den digitalen Umsturz zu erwarten. Aber die Kulturpolitik könnte Rahmenbedingungen schaffen, die die Emanzipation der Kulturarbeiter*innen befördern. So könnten z. B. Instagram, Facebook und Co in die VG-Wort und -Bild einzahlen, so dass alle Nutzer*innen an dem durch ihre Posts erwirtschafteten Gewinn beteiligt werden. Ein Ministerium für Informationsarbeit könnte (mitsamt einer Zusammenführung der bisher getrennten Ausschüsse für Kultur und Medien / Digitale Agenda) via Bundesförderung in den öffentlichen und privaten Informationssektor hineinwirken. Denkbar wäre auch ein umfassendes Weiterbildungsangebot im Rahmen der Corona-Hilfen – Python-Kurse für alle!
Zugegebenermaßen: Revolutionen finden nicht in Behörden statt. Der digitale Klassenkampf bedarf einer gemeinsamen Anstrengung – es reicht nicht, wenn wir zwar alle coden lernen, aber nicht die kollektive Macht über die von uns produzierten Informationen haben.5 Das Info-Proletariat kann sich nur vereinigen, wenn es unwahrscheinliche Allianzen bildet.6 Umso tragischer ist es, wenn sich eine Autorin, deren Bücher zu 20% auf Amazon verkauft werden, sich nicht solidarisiert mit der Gig Workerin, die ihre Bücher im Amazon-Warencenter verpackt – zumal diese, wie in Heike Geißler es in ihrem Roman »Saisonarbeit« vormacht, sehr wohl dieselbe Person sein können. Info-Proletarier*innen of the world, unite!
1 Google macht einen Großteil seines täglichen 400-Millionen-Dollar-Umsatzes mit personalisierter Werbung, die auf den Daten der User*innen basiert. Wer seit zwanzig Jahren Google genutzt hat, hat dem Unternehmen somit ca. 350 US-Dollar Gewinn erwirtschaftet.
2 Vgl. die Bedarfe, die im Bericht des Wissenschaftsrats zur Stiftung Preußischer Kulturbesitz genannt werden. Von den Beständen der Staatlichen Museen zu Berlin waren Mitte 2019 nur 4 % digital zugänglich. Einige der Museen verfügen nicht über WLAN. 2019 waren – auch „ohne Berücksichtigung größerer, zukünftiger Veränderungen im Rahmen der Digitalen Transformation“ – rund 4 Mio. Euro der Kosten für das IT-Rahmenkonzept der SPK unterfinanziert.
3 McKenzie Wark (2019), Capital Is Dead. Is This Something Worse? London / New York: Verso Books
4 Der Ruf der kreativen Selbstverwirklichung, der früher “the young, particularly young women, a feeling of going places” im Kreativbereich gab, tönt inzwischen analog aus Richtung Tech. “Women into Tech” ist somit die Kurzformel für ein neues Allheilmittel. Dabei sind die Arbeitsbedingungen von Coder*innen und Programmierer*innen nicht unbedingt geil, was z. B. ausgebeutete Gamer*innen unter Beweis stellen und die vielen Berichte über sexuelle Belästigung und Rassismus in der Tech-Industrie (vgl. Anna Wiener [2020], Code kaputt: Macht und Dekadenz im Silicon Valley. New York: MCD Books / Farrar, Straus & Giroux .) Zur Geschichte von Arbeitskämpfen in der Tech-Industrie siehe auch Marie Hicks in The Verge.
5 Beispiele für auf die Besitzverhältnisse abzielende Projekte an der Schnittstelle von Kunst und digitalem Aktivismus sind “Collectivize Facebook” von Jonas Staal und Jan Fermon, sowie “Google will eat itself” des schweizerisch-österreichisch-amerikanischen Medienkunstduos Ubermorgen.
6 McKenzie Wark, S. 96.
Autorin
Eva Tepest, Berlin
ist Autorin und Journalistin. Mit Lynn Takeo Musiol arbeitet sie an einem queeren Klimaroman. Über Literatur und Medien, Gender und Politik schreibt sie regelmäßig für die taz, den Tagesspiegel und das Missy Magazine. Sie arbeitet im Bundestag im Bereich Kulturpolitik.