The Artist Is Broke
Kulturarbeit zwischen Relevanz, Leerstelle und Zumutung

Sandra Gugić

6. Januar 2021

In letzter Zeit schlafe ich schlecht. Ich will auch nie schlafen gehen. Es ist stressig, sich zu entspannen, die Gedanken rasen auf der Suche nach einer möglichen Ordnung, ich gehe alle Szenarien durch, verwerfe sie wieder. Wenn ich in endlich in Schlaf falle, träume ich von der Arbeit. Die Kulturlandschaft in einer Kälteschlafkapsel. Entschlossene bis verzweifelte Gesichter flimmern auf Bildschirmen.

Kannst du uns hören?

Wir können dich hören, aber nicht sehen.

Wir können dich sehen, aber nicht hören.

Es rauscht in allen Leitungen. Es ist so verdächtig still hier.

Ich wache auf, und alles ist wahr. Wir befinden uns in einer Warteschleife. Wir haben viele Namen: Ein-Personen-Unternehmen, Ich-AG, Soloselbstständige. Dass der Ausnahmezustand der Pandemie bereits vorhandene Missstände und Ungleichheiten vertieft und sichtbarer macht, wurde schon gesagt, und es wird immer wieder gesagt werden müssen. Ich erinnere mich an die Zahl, die ich im Dezember 2019 als geschätztes Jahreseinkommen 2020 in das Onlineformular der Künstlersozialkasse eingetragen habe. Bücher sind Lebensmittel, hieß es im März 2020, die Berliner Buchhandlungen durften offenbleiben. Im Juni ging ein Bild durch die Medien: das größte Opernhaus in Barcelona, auf der Bühne ein Streichquartett. Das Eröffnungskonzert vor vollen Rängen, 2.200 besetzte Plätze, – aber nicht mit Menschen – das Publikum besteht aus Pflanzen. Das grüne Publikum im Kontrast zum roten Plüsch und Gold. Die Schlussverbeugung der Musiker*innen vor den Pflanzen.

Nicht einfach zurück zum Alten

Im Dezember 2020 sagt Jagoda Marinić: »Auch in der Kultur können wir nicht einfach zurück zum Alten. Der Kulturbetrieb wird sich einer Selbstüberprüfung stellen müssen, statt über die eigene Relevanz zu predigen.« Das Publikum ist nicht verschwunden, aber es gibt keinen analogen Raum, in dem Künstler*in und Publikum einander begegnen dürfen.

Die Politik hat bereits entschieden, dass Kulturarbeit keine systemrelevante Arbeit ist. Sascha Lobo schreibt, dass die wahre Staatsreligion die Festanstellung sei und der Staat für Selbstständige und Kreative kaum mehr als Verachtung übrig hat. Wir befinden uns also hier: zwischen Relevanz, Leerstelle und Zumutung. Aber wer sind wir eigentlich, wir Kulturarbeiter*innen, wie sehen unsere Lebensrealitäten aus?

The Artist is jung, flexibel, ungebunden

Der Bereich, den ich am besten kenne, ist der der Literatur: Wenn wir uns die Kriterien für Literaturförderungen ansehen, waren diese schon vor der Krise schwierig genug. Um überhaupt die Möglichkeit zu haben, diese in Anspruch nehmen zu können, sollten alle Schreibenden weitgehend ungebunden, flexibel, frei von sozialen Verantwortungen und Verpflichtungen sein, dabei selbstverständlich reisefreudig, stets in der Lage, Hauptwohnsitz und gegebenenfalls Brotjob für ein Aufenthaltsstipendium in XYZ aufzugeben oder on hold zu stellen. Am besten sind Schreibende also jung, flexibel, ungebunden. Gut vernetzt unter unseresgleichen, aber dabei gern allein. Wir kommen selbstverständlich mit wenig Mitteln zurecht, wir brauchen nicht viel (alles für die Kunst!) oder haben ein Netzwerk (Angehörige, Partner*innen, etc.), das uns wirtschaftlich am Leben hält. Und auch wenn wir nicht nur in Krisenzeiten und überhaupt sehr überschaubare staatliche Unterstützung bekommen, werden wir bei jeder Zuwendung gern pejorativ als Staatskünstler*innen bezeichnet. Wir müssen hochproduktiv sein, auch wenn wir und die Allgemeinheit in einer pandemischen Krise stecken. Gleichzeitig sind wir persönlich verantwortlich dafür, local business zu retten, auf unsere Gesundheit zu achten und uns um unsere Nächsten oder Familien zu kümmern sowie Sorgearbeit zu leisten. Und das Wichtigste: Wir sind weiß, cis, hetero, abled, männlich. Oder? Es muss sein, denn kaum jemand ist sichtbarer als Menschen, die unter diesem Label laufen.

Im Frühling 2020 fand das Bachmannpreis-Wettlesen erstmals online statt. Ein wichtiges Echo auf diese Veranstaltung findet sich in der Aussage der Autorin und Bachmannpreis-Gewinnerin Helga Schubert, dass sie sich freue, dass der Wettbewerb in diesem Jahr im Netz stattgefunden habe und sie nicht nach Klagenfurt reisen musste, weil sie ihren bettlägerigen Mann pflegt. Eine 80-jährige Autorin, die aus jedem Literaturbetriebsklischee herausfällt und diesen Wettbewerb unter den üblichen strukturellen Bedingungen (der analogen Anwesenheitspflicht) nicht gewinnen hätte können, weil ihr schon die Teilnahme unmöglich gewesen wäre. Ein im Kulturbetrieb lang vernachlässigtes Thema wird hier zur Sprache gebracht: die durch die bestehenden Strukturen erzeugte Unvereinbarkeit von Sorgearbeit und künstlerischer Arbeit.

Wird die Zeit der Pandemie ein Umdenken schaffen, was Sorgearbeit leistende Menschen angeht? Wird es ein inkludierendes Umdenken geben, was Literaturveranstaltungen und Aufenthaltsstipendien angeht? Darf sich das Bild der Schreibenden vielfältiger zeigen, weg vom abgehobenen Geniekult? Wird uns endlich ein wunderbar profanes Privatleben zugestanden, das Sorgearbeit einschließt? Und wird dieser Tatsache auch entsprechend Raum gegeben und Respekt gezollt werden?

Nein, wir sind nicht alle weiß, cis, hetero, abled, männlich. Wir sind auch alles Andere, alles Mögliche. Wir fordern Sichtbarkeit und eine längst überfällige gesellschaftliche Wertschätzung. Schreiben ist Arbeit. Literatur ist Arbeit. Sorgearbeit ist Arbeit. Wir sind keine Genies, wir leben nicht in Elfenbeintürmen, wir sind Kulturarbeitende. Viele von uns können ihren Lebensunterhalt nicht allein durch die Kunst bestreiten, dennoch ist die Produktion von Literatur und Kunst keine Liebhaberei und muss dementsprechend fair und transparent vergütet werden. Aber, einmal mehr, bevor wir uns überhaupt an die Arbeit machen können: Welchen Produktionsbedingungen sind wir unterworfen?

The Artist is exzellent

Die Initiative Mehr Mütter für die Kunst hat ein Manifest in Form eines Forderungenkatalogs ins Netz gestellt, der auf die Schieflagen im Kunstbetrieb aufmerksam macht: den Mangel an Präsenz und Förderung von Frauen und Müttern. Und dass selbst dort, wo Frauen in gehobenen Positionen agieren, die strukturellen Benachteiligungen weiterbestehen. Und dass wir in einer Gesellschaft leben, die Frauen in der Kunstproduktion ihrer Mutterschaft wegen disqualifiziert. Im Rahmen der Vergabe eines Stipendiums für Künstler*innen mit Kindern unter 7 Jahren, dem Sonderförderprogramm 20/21 des Kunstfonds Bonn, wurde die verteilungspolitische Schieflage besonders deutlich: Das Stipendium wurde an 47 Männer, drei diverse Bewerber*innen und 44 Frauen vergeben. Das klingt gar nicht so schlecht? Sehen wir uns die Zahlen etwas genauer an. Aus dem offenen Brief der Initiative »Mehr Mütter für die Kunst« an den Kunstfonds Bonn geht hervor: Gestellt wurden 826 Anträge: 497 von Frauen, 323 von Männern, sechs von diversen Personen. »[…] 94 jener Anträge werden bewilligt. Entsprechend der Zahlen auf Ihrer Homepage erhalten 44 Frauen, 47 Männer und 3 diverse Bewerber*innen den Zuschlag. Das bedeutet, dass 8,6 % der Anträge von Frauen, 14,6 % der Anträge von Männern und 50 % der Anträge von diversen Bewerber*innen erfolgreich waren. […]«

Der komplexe Sachverhalt, der hinter dem in der Ausschreibung festgemachten Elternschaft-Kriterium steckt, wurde in der Auswahl außer Acht gelassen. Denn was bedeutet Elternschaft? Dass ein Teil seine künstlerische Produktion einschränken muss, also quantitative Arbeitszeit verliert, um den Sorgepflichten nachkommen zu können. Sollte es nun tatsächlich so sein, dass die Anträge der männlichen Bewerber qualitativ hochwertiger waren, könnte dieser Umstand damit zusammenhängen, dass die Aufgaben der Sorgearbeit nach wie vor überproportional von Frauen übernommen werden? Machen Männer qualitativ bessere Kunst als Frauen? Oder haben sie einfach mehr Zeit? Ist diese vemeintlich mangelnde Qualität vielleicht ein temporärer Einbruch in Produktion und Output? Und sollte ein Stipendium nicht vielmehr diesen Missstand fördern statt Geni und Exzellenz zu bemühen? Einmal mehr fallen wir rückwärts durch die Jahrhunderte. Es rauscht in den Leitungen.

Wir können euch hören, aber nicht sehen.

Wir können euch sehen, aber nicht hören.

Die Arbeits- und Produktionsbedingungen sind oftmals eine Hürde, die es zu überwinden gilt. Und dann? Aus welchem Material sind die Auswahlkriterien gemacht? Was wird für repräsentationswürdig befunden und dementsprechend repräsentiert? Welche Arbeiten schaffen es durch die offensichtlich von struktureller Ungleichheit bestimmten Auswahlfilter? Und welche Künstler*innenbilder werden dadurch als relevant in die Welt und damit an ein Publikum gebracht? Unter welchen Bedingungen werden Preise vergeben: Sind sie ›Belohnung‹ oder sollten sie nicht viel eher als Fördermöglichkeit im Hinblick auf ein zukünftiges Schaffen eingesetzt werden?

Die Kulturpolitik kann an der Besetzung von Entscheidungspositionen ansetzen, die Zusammensetzung von Jurys ebenso überdenken wie die Fragestellungen hinter den Auswahlprozessen und deren notwendige Transparenz. Künstlerische Exzellenz ist ein Kriterium, dass sich unhinterfragt durch künstlerische Biografien zieht: An die staatliche Kunst- oder Musikhochschule kommt, wer exzellent ist. Meisterschüler*innen werden die, die noch exzellenter sind. Literaturpreis, Schreibkurs, Stipendium? Bitte nur bei herausragender Leistung. Und an dieser Stelle treffen wir uns wieder bei der Frage: Wer beurteilt diese Leistungen? Und nach welchen Kriterien und Filtern?

Wahrscheinlich existieren wir gar nicht. Wie denn auch? Wir haben nicht alle dasselbe Leben, wir sind nicht alle gleich, wir haben unterschiedliche Bildungsgrade, Berufe, Lebenspositionen et cetera. Wir können nicht davon ausgehen, dass unsere Lebenswirklichkeit für alle gilt, für ein Wir. Wo beginnt Sichtbarkeit, Präsenz und Präsentation? Hier klaffen entsetzliche Leerstellen. Aber geht es nicht gerade in der Kunst- und Kulturarbeit um das Abbilden und Vermitteln von vielschichtigen Lebenswirklichkeiten und unterschiedlichen Erfahrungshorizonten? Und nicht nur in der Theorie, sondern in einer vielstimmigen Praxis. Was nur möglich ist, wenn wir die Räume und unsere Perspektiven öffnen, uns von Zuschreibungen und Klischees trennen. Vielfalt nicht im Sinne eines Exot*innenstatus, sondern aus der Notwendigkeit und der Erkenntnis heraus, dass wir die Unvollständigkeit begriffen haben, mit der wir die Welt künstlerisch erzählen.

The Artist is einsam

Schreiben ist Arbeit, eine oftmals einsame Arbeit. Es wird keine einfachen Lösungen geben. Es braucht die Eigeninitiative, das Aufstehen und ein vielstimmiges, solidarisches Lautwerden von Künstler*innen, um die Strukturen, Produktionsbedingungen und Bilder zu verändern. Auch wenn jede*r von uns für sich allein künstlerisch arbeitet, verbindet uns im besten Fall das Begehren nach Gerechtigkeit, nach einer Kulturlandschaft, die alte Selbstverständlichkeiten verwirft und in ihrer Vielschichtigkeit überraschende gemeinsame Räume schafft.

In einer Diskussionsrunde auf die Frage hin, mit welchen Erkenntnissen oder Begriffen ich das krisengeschüttelte Jahr 2020 rahmen würde, höre ich mich spontan antworten: »Eigenverantwortung und Solidarität«. Es wird gesagt, der Text ist klüger als die Autorin, aber oft scheint der Text hinauszulaufen, hinter den Fragen her, ohne ein Ende zu finden. Die Lösung beginnt in der Suchbewegung, im unermüdlichen Stellen von unbequemen Fragen, die Ungleichheiten sichtbar machen und endlich auch Veränderung herbeiführen können.

Autorin

Foto: Dirk Skiba

Sandra Gugić

*1976. Studium an d. Univ. für Angewandte Kunst Wien und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Debütroman »Astronauten«, C.H.Beck, 2015. Lyrikdebüt »Protokolle der Gegenwart«, Verlagshaus Berlin, 2019. Mitbegründerin des Autor*innenkollektivs »Writing with Care / Writing with Rage«. »Zorn und Stille«, Roman, Hoffmann und Campe, 2020. www.sandragugic.com