Neustart Kulturpolitik 2.0!
Schluss mit Kulturverwaltung, stattdessen Mut zur Gestaltung!

Susanne Keuchel

8. Januar 2021

Die Pandemie hat Gesellschaft und auch das Selbstverständnis von Kultur verändert! Die Krise hat Schwachstellen offengelegt und damit zugleich Zukunftsfragen zur gesellschaftlichen Transformation aufgeworfen. Die Krise hat unter anderem verdeutlicht, dass

  • Teilbereiche der Kultur unterfinanziert sind,
  • öffentlich geförderte Kultur aufgrund der Erwirtschaftung von Teilnahmegeldern und Projektmitteln in Krisenzeiten auf Rettungsschirme angewiesen ist,
  • kulturelle Bereiche in Krisenzeiten nur eingeschränkt in der Lage gewesen sind, Zielgruppen zu erreichen aufgrund fehlender digitaler Formate und
  • es an sozialer Absicherung für Künstler*innen fehlt

Gießkannenprinzip und Ökonomisierung fordern ihren Tribut …

Prekäre Verhältnisse sind möglicherweise ein Symptom für fehlenden kulturpolitischen Gestaltungswillen. Sehr sinnbildlich zeigte sich dies in Berlin, wo 2.000 Sonderstipendien für Künstler*innen in der Krise einfach verlost wurden. Hier offenbart sich die Achilles-Ferse der letzten Jahrzehnte Kulturpolitik: Dem stetigen Wachstum an kultureller Vielfalt wurde kein Mut entgegengesetzt, Rahmenförderkriterien entgegenzuzustellen. Stattdessen dominiert das Gießkannenprinzip.

Die Ökonomisierung der öffentlich geförderten Kultur und Bildung, wie die zunehmende Mischfinanzierung öffentlich geförderter Bereiche, hat gleichfalls ihren Tribut gefordert. Die Übernahme wirtschaftlicher Erfolgskriterien, wie die Quote oder Besucherzahlen, haben zu einem vermehrten Rückgriff der öffentlich Geförderten auf publikumsnachgefragte Angebote, die auch auf dem kulturwirtschaftlichen Markt angeboten werden, geführt und so Konkurrenzen geschaffen, die zugleich die Kulturwirtschaft schwächen. Fehlende finanzielle Spielräume und künstlerische Experimentierräume führen vielfach auch zu vermehrten prekären und zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen und auch dazu, dass Zukunftsaufgaben wie der digitale Wandel noch nicht adäquat umgesetzt wurden.

Notwendige Konkretisierung der Ziele und Aufgaben öffentlicher Kulturförderung …

Wie können die Aufgaben von öffentlich geförderter und privatwirtschaftlicher Kultur klar abgegrenzt werden? Hier gibt es Grundprinzipien wie Wahrung des Kulturerbes, Freiraum für künstlerische Weiterentwicklung oder kulturelle Teilhabe sowie in der Vergangenheit immer wieder Versuche der Abgrenzung wie E- und U-Kultur, die sich jedoch als wenig hilfreich erwiesen haben.

Ein Kriterium ist dabei auch die Frage: Was kann am Markt nicht bestehen? Ein Förderbedarf besteht beispielsweise, wenn die Strukturen, um spezifische Genres zu produzieren, wirtschaftlich nicht tragbar sind, ein anderer, wenn ein künstlerischer Beitrag nicht durch Publikumsinteresse getragen wird.

Darüber hinaus bedarf es jedoch weiterer Eingrenzungen. So wächst das kulturelle Erbe stetig. Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung liegt darin, Kulturgeschichte zu bewahren und gleichzeitig dem kommenden kulturellen Erbe Raum zu geben.

Umgekehrt bringt kulturelle Vielfalt die Herausforderung mit, sich über konkrete Kriterien der Avantgarde zu verständigen. Hier bedarf es den Mut, diese sichtbar zu machen.

Dann gibt es noch das Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe. Eine Begründung aus Bürger*innenperspektive abzuleiten, ist ebenfalls schwierig: Wie viel Kultur braucht der Bürger, die Bürgerin? Und natürlich welche? Geht es bei kultureller Teilhabe stärker um Bildung, also die Vermittlung von Kunst jenseits des Mainstreams? Oder soll jede/r die Kultur bekommen, die sie/er möchte? Diese schwierigen Fragen stellen sich auch bei der Umsetzung des Rundfunkstaatsvertrags bezogen auf den Auftrag der Grundversorgung. Dass Kulturpolitik in der Vergangenheit einer konkreten Festlegung von Inhalt und Umfang öffentlicher Kulturförderung eher ausgewichen ist, liegt nicht zuletzt auch in der vielleicht nicht unberechtigten Angst begründet, wieder einen Kulturkanon zu manifestieren.

Wie könnte eine gestalterische Kulturpolitik 2.0 aussehen?

Anschaulich durchdekliniert werden kann dies am Beispiel der Forderung nach einer kommunalen Pflichtaufgabe Kultur, die in der Vergangenheit immer wieder gestellt wurde und aktuell in der Krise wieder an Fahrt aufnimmt. Mit der Verankerung von Kultur als Pflichtaufgabe ist nur ein kleiner erster Schritt getan. Stabilisierend kann diese Verankerung erst sein, wenn sie auch einen Bezugsrahmen erhält: Was bedeutet kulturelle Grundversorgung? Dabei eröffnen sich viele gestalterische Fragen: Wäre es im Sinne der kulturellen Daseinsvorsorge denkbar, den Zugang zum Museum kostenfrei für Bürger*innen einer Stadt zu ermöglichen, ähnlich, wie dies mittlerweile einige Städte für den ÖPNV praktizieren? Und dabei Eintritt nur von Zugereisten wie Touristen verlangen? Sollen kulturelle Bildungseinrichtungen, statt Dienstleistungsangebote wie der Instrumentalunterricht, nur noch gemeinwohlorientierte Angebote entwickeln? Beispielsweise die Integration der Musikschularbeit flächendeckend in Form von Modellen wie Klassenmusizieren in der Schule oder Musikinstrumentenkarussell in der Kita?

Und warum nicht auch Mut für neue Wege bei der inhaltlichen Ausgestaltung aufbringen, beispielsweise prozentual gleichberechtigt die Perspektiven lokal, global, kulturelles Erbe und künstlerische Innovation in der Förderung abbilden?

All dies sind Fragen, die es gilt, mit einer gestalterischen Kulturpolitik zu beantworten und vielleicht müssen diese Fragen in einem dynamischen Prozess angesichts des gesellschaftlichen Wandels in Zeitabständen immer wieder neu gestellt und beantwortet werden, um eine Agenda zur Transformation unter dem Motto »fordern« und »fördern« für eine gestalterische und nachhaltige Kulturpolitik zu ermöglichen!

Autorin

Fotoquelle: www.dkr.de

Prof. Dr. Susanne Keuchel, Remscheid

Direktorin der Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes NRW, Präsidentin des Deutschen Kulturrats