Machen wir das Richtige richtig?

Martin Lätzel

15. Januar 2021

Gedanken zur neuen Relevanz der kulturellen Infrastruktur und der Aufgabe der Kulturpolitik

Was heißt eigentlich Relevanz? Wenn man es dem Englischen entlehnt, sprechen wir von »Bedeutung«. Wenn wir uns am lateinischen Original orientieren, meint das Wort, etwas sei »schlüssig« oder »richtig«. Die Rede von der neuen Relevanz der Kultur bedeutet also in diesem Sinne, wir diskutieren die (neue) Bedeutung von Kultur oder aber wir fragen nach deren Schlüssigkeit oder der Richtigkeit. Folgen wir dem allgemeinen Verständnis (auch in Kultureinrichtungen), dann geht die Diskussion um die Klärung der »Bedeutung«. Wobei wir an dieser Stelle schon mittendrin in einem semantischen Problem sind. Denn die Bedeutung von Kultur steht außer Frage. Indem Kultur die Beschaffenheit unserer Gesellschaft beschreibt, die ihre Selbstvergewisserung in Symbolen und Formen, in Konventionen und Reflexionen, in der Speicherung und Vermittlung betreibt, hat sie eine grundsätzliche Bedeutung per se, die man zwar – und hier wird es strittig – mehr oder weniger sehen, betonen und fördern, gleichwohl aber nicht negieren kann. Dies umso mehr, da »die Kultur« in der Intention der neuen Relevanz wohl gleichbedeutend ist mit der kulturellen Infrastruktur. Die Rede der Relevanz im Verständnis von »Bedeutung« geht ja davon aus, dass es eine neue Art der Wahrnehmung und in deren Gefolge eine neue Art von Umsetzung gesteigerter Aufmerksamkeit durch Erhöhung der Förderung und der Beteiligung bedarf. Wenn man indes von »Schlüssigkeit« oder »Richtigkeit« spricht, dann müssen wir fragen, inwiefern die eben beschriebene Kultur noch zu den gesellschaftlichen Entwicklungen passt oder ob wir es nicht vielmehr mit unzähligen Friktionen zu tun haben, mit Leerstellen und offenkundigen Divergenzen in der Debatte und in der Realität.

Die Frage nach der Schlüssigkeit der kulturellen Infrastruktur ist eng verwoben mit den Stichwörtern »Effizienz« und »Effektivität« Bevor hier ein erster Aufschrei erfolgt: Es geht nicht um einen allzu ökonomisierten Blick auf die Einrichtungen, wiewohl doch die Entwicklung des Kulturmanagements gerade in den vergangenen zwanzig Jahren gezeigt hat, wie wichtig ein wirtschaftlicher Blick sein kann. Trotzdem soll hier keiner Unterwerfung der kulturellen Infrastruktur allein unter finanziellen Kriterien das Wort geredet werden. Die Kulturelle Infrastruktur stellt nämlich zweifelsohne einen Public Value dar, der sich niemals komplett refinanzieren wird. Aber wo wir gerade bei der Wortbedeutung sind, können wir die Begriffe Effektivität und Effizienz näher betrachten. Effektivität übersetzt heißt: »Machen wir das Richtige?«Effizienz kann man auch als »Machen wir das Richtige richtig?« formulieren. Womit wir nun wieder bei dem Punkt der Schlüssigkeit sind, der uns vielleicht näher dazu bringt zu formulieren, was eine neue Relevanz der Kultur ausmacht.

Die Rede von der kulturellen Infrastruktur – ein Terminus, der zurecht an Daseinsvorsorge und die dafür notwendigen Systeme erinnert – insinuiert, wir hätten es mit einem homogenen Gebilde zu tun. Das ist mitnichten der Fall. Die kulturelle Infrastruktur umfasst – je nach Lesart oder Interpretation – Theater, Museen, soziokulturelle Zentren, Bibliotheken, Archive, Volkshochschulen, Musikschulen und vieles mehr. Manche Institutionen sind gesetzlich geregelt (z.B. Bibliotheken oder Archive), manche basieren auf einem Markt (z.B. Verlage, Clubs). Die Frage nach der Relevanz im Sinne der Bedeutung stellt sich für diese Einrichtungen genauso unterschiedlich dar wie im Verständnis von Schlüssigkeit. Eigen ist all‘ diesen Einrichtungen nur, dass sie gemeinsam die Beschaffenheit unserer Kultur spiegeln, dies jedoch in unterschiedlichen Brechungswinkeln und, je nach Situation und Zeitläufen, in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Modellen und Konzepten.

Von daher wollen wir uns dem Thema zunächst nicht – wie so häufig – vonseiten der Institutionen der kulturellen Infrastruktur widmen, sondern aus gesellschaftlicher Perspektive. Denn so besteht die Möglichkeit, eine gute Verbindung aufzuzeigen. Überhaupt ist es sinnvoll für Kultureinrichtungen, die häufig vorherrschende Binnenperspektive zu verlassen und einen gesamtgesellschaftlichen Blickwinkel einzunehmen. Die Aufregung über die Beschlüsse des Bundes und der Länder, Kultureinrichtungen im Rahmen der Corona-Bekämpfung im Herbst 2020 als »Freizeit- und Veranstaltungsorte« zu subsumieren, war groß und kann geteilt werden. Verlässt man aber die institutionelle Blase, so ist es wohl im Alltag so, dass beispielsweise Theater, Volkshochschulen oder Museen von Teilen der Politik und Bevölkerung zunächst einmal wirklich (nur) als Freizeitangebote gesehen werden. Eine Differenzierung erfolgt häufig nicht. Die substanzielle Sicht hingegen entspricht der der Akteur*innen, die über die öffentliche Zuschreibung schnell in Larmoyanz verfallen könnten und sich abgewertet fühlen. Was heißt es aber, wenn diese öffentliche Zuschreibung besteht? Wenn es schwer ist, eine differenziertere Sicht zu vermitteln? Und wie müssen sich Kultureinrichtungen aufstellen, um hier nachsteuern zu können? Die Antworten beantworten auch die Frage nach der neuen Relevanz.

Nehmen wir also zunächst die gesellschaftliche Perspektive ein. Von vorherrschenden Megatrends ist häufiger die Rede. Sie variieren hier und da. Eine Schnittmenge besteht gewissermaßen in der digitalen Transformation der Gesellschaft, der fortschreitenden Globalisierung, der mit beidem verbundenen zunehmenden Beschleunigung und den daraus resultierenden Unsicherheiten. Während Bill Clinton noch mit dem Schlagwort It‘s the economy, stupid! in den Wahlkampf gehen konnte (und heutzutage analysiert wird, ob dieses Schlagwort noch stimmt – ob etwa Donald Trump aufgrund seiner äußerst liberalen Wirtschaftspolitik so viele Stimmen bekommen hat), muss man wohl konstatieren, dass der Satz abgewandelt werden muss. Nein, es ist nicht die Wirtschaft, die heute primär wahlentscheidend ist. It‘s the culture, stupid! muss es eigentlich heißen. Denn wir erleben einen – ja, so drastisch muss man es nennen – Kulturkampf, der eben nicht der von Samuel Huntington apostrophierte Clash of Culture ist (als Kampf unterschiedlicher Kulturen), sondern ein Kulturkampf innerhalb der Kultur, zwischen Kosmopoliten und »Endemiten«, zwischen neoliberalem und starkem Staat, zwischen denen, die alles regeln und verbieten wollen und denen, die alles erlauben, zwischen denen, die den Kapitalismus und das Wachstum ins Unendliche steigern wollen und denen, die den Kapitalismus am liebsten sofort abschaffen und das Wachstum stoppen wollen. Was uns zunehmend fehlt, ist die Mitte, verstanden als Ausprägung einer Gesellschaft, die über eine gesunde Balance von Eigenverantwortung und Solidarität verfügt; eine Gesellschaft, die Minderheiten wahrnimmt und demokratische Mehrheits­entscheidungen akzeptiert; eine Gesellschaft, die angesichts globaler Herausforderungen in einen vernünftigen Diskurs geht, eine Gesellschaft, die auch mit Kontingenzen und Unklarheiten zu leben vermag. Uns fehlt häufig das »Wir« und ein reflektierter Umgang mit dem »Nein«. Das ist eine gesellschaftliche Perspektive, wie sie derzeit treffend von Soziologen wie Nassehi oder Reckwitz analysiert wird – ohne deren Thesen hier im Einzelnen paraphrasieren und analysieren zu wollen.

Innerhalb dieser Gesellschaft agiert die kulturelle Infrastruktur. Das heißt, sie ist Teil derselben und die genannten Diskussionen schlagen auf sie durch. So muss sich zum Beispiel auch eine Kultureinrichtung der Frage der Nachhaltigkeit stellen, die nicht kongruent ist mit einem zunehmenden Wachstum, das einhergeht mit der Forderung nach immer mehr Mitteln. Andererseits: Unsere Wirtschaft ist noch dem Wachstumsmodell verhaftet und Kultureinrichtungen würden abgehängt, wenn sie auf Forderungen nach mehr staatlicher Zuwendung verzichten würden. Was also ist zu tun?

Was ist richtig?

Die Einrichtungen der kulturellen Infrastruktur unterliegen den gesellschaftlichen Entwicklungen. Sie sind zunächst einmal keine prägenden Akteure. Dadurch in eine defensive Position gedrängt, besteht entweder die Möglichkeit, sich zu unterwerfen, oder aber zu widerstehen. An diesem Punkt sind wir genau bei der Beantwortung der Frage angelangt, was das Schlüssige zu tun sei. Weder unkritische Unterwerfung noch bloßer Widerstand sind hier die richtigen Strategien. Gleichwohl gibt es Unsicherheiten und Suchbewegungen. Damit wären wir bei den Aufgaben der kulturellen Einrichtungen, da sie der intellektuellen Daseinsvorsorge gelten. Sie sollten sich als Diskurs- und Reflektionsräume profilieren. Nun werden viele Kulturinstitutionen sagen, dass genau dies selbstverständlich ist. Das soll an dieser Stelle bezweifelt werden, weil noch vielfach in der eigenen Logik gedacht wird, die gesellschaftliche Entwicklungen außer Acht lässt. Dabei wird weder der inhaltlichen Nivellierung das Wort geredet (»Nur noch Blockbuster spielen«) noch einer Anbiederung an Trends und Moden. Es erfordert viel Fingerspitzengefühl, den Diskurs zu organisieren, changierend zwischen Affirmation und Provokation. Die gesellschaftliche Analyse ist dafür unverzichtbar. Vielleicht ist schon dieser Schritt eine neue Erfahrung für viele Einrichtungen, nämlich aus der Binnensicht hinaus den Blick der Anderen einnehmen, eben weil die Kultureinrichtungen in Deutschland prinzipiell 80 Millionen Nutzerinnen und Nutzer haben. Wie gesagt, das gilt unterschiedlich für unterschiedliche Einrichtungen. Volkshochschulen sind, aufgrund ihrer Struktur per se darauf konditioniert, aktuelle Entwicklungen aufzugreifen. Ebenso Bibliotheken, wenn sie aktuelle Literatur anschaffen. Viele Museen tun sich manchmal schwer, Theater sind hier wieder weiter. Archive müssen sich nicht Trends anschließen, aber beispielsweise technischen Entwicklungen, die die Vermittlung von Archivalien unterstützen. 

Das Richtige ist also eine Abwägung zwischen den Notwendigkeiten, die sich durch gesellschaftliche Trends ergeben und dem eigenen künstlerischen Anspruch. Wer hier agiert, wird nicht nur die Relevanz der Schlüssigkeit steigern, sondern schließlich auch die Relevanz der Bedeutung, weil offenkundig werden wird, welchen eminenten Beitrag die kulturelle Infrastruktur leistet. In einem etwas wehmütigen Rückblick mag an die 1970er Jahre erinnert werden, als Erwachsenen­bildungseinrichtungen die Foren für die Wertedebatte waren. Was früher die Auslegeware einer Akademie war, ist heute ein gut organisierter, aktuell administrierter und Orientierung gebender Internetauftritt.

Wie macht man das Richtige richtig?

Das wiederum ist eine Frage der Strategie. Hier haben die Kultureinrichtungen beileibe Nachholbedarfe. Immer mehr desgleichen wird im oben beschrieben Kontext nicht funktionieren. Auch nicht mit immer mehr Geld. Vielmehr bedarf es einiger Anstrengungen, sich über die eigenen Strategien Gedanken zu machen, in dem Bewusstsein, die nötige Flexibilität zu entwickeln. Von Beschleunigung war bereits die Rede. Umso notwendiger wird ein agiler Ansatz und ja, hier kann durchaus von der Ökonomie gelernt werden. Wie Digitalkonzerne ihre Produkte in immer wieder reflektierenden Schleifen entwickeln und die Wirkung auf die Kundinnen und Kunden reflektieren, so brauchen auch Kultureinrichtungen ein Verständnis für die verschiedenen Stufen und möglichen Anpassungen einer Strategie. So kann es gelingen, das Richtige richtig zu machen.

Wie wird die kulturelle Infrastruktur aufs Neue relevant? Oder: Wie bleibt sie relevant?

Zu sehr wollen wir das Kulturlicht nicht unter den Scheffel stellen, denn die Sicht ist besser, als sie häufig propagiert wird. Wie wird, wie bleibt sie schlüssig? Indem sie sich aus dem eigenen Korsett befreit. Tradition und Kontinuität spielen heutzutage eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger wird es deswegen sein, schlüssige Strategien für heute und morgen zu entwickeln, sich neu aufzustellen, hinzuhören und – im Sinne des Audience Developments – die Nutzerinnen und Nutzer als Teilhaber*innen der kulturellen Infrastruktur zu verstehen. Das ist mit einem bloßen gemeinsamen Verständnis von »Kultur« nicht möglich, sondern bedarf der jeweiligen Adaption innerhalb der Institution. Auf jeden Fall wird es aber notwendig sein – dem Netzwerkgedanken in der Kultur der Digitalität geschuldet –, das Spartendenken zu überwinden und gemeinsam Projekte zu planen, an die bis dato niemand gedacht hat. Hackathons sind hier für ein treffendes Beispiel.

Wird sich dieser Angang finanziell auszahlen? Nicht, wenn man ihn von der jetzigen Situation aus einfach in die Zukunft kontinuierlich weiterdenkt. Aber es wird neue Finanzierungsmöglichkeiten geben und es muss auf jeden Fall (auch und gerade innerhalb der Kultureinrichtungen) Posterioritäten und Prioritäten geben, bevor diese kulturpolitisch eingefordert werden. Was gesellschaftlich relevant ist, wird prioritär, von manchem Liebgewonnenen wird man sich verabschieden müssen. Das ist ein schmerzhafter Prozess aber für die Gewinnung an Relevanz in jeglicher Bedeutung unverzichtbar. Die Kulturpolitik muss auf die neue Relevanz reagieren und die notwendigen Mittel in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive auf das »Wir« bereitstellen.

Was bleibt, ist die Ungewissheit.

Theologisch gesprochen: die Kontingenz. Die wird dieser Gesellschaft niemand nehmen können (selbst, wenn es manch‘ politische Initiative verspricht). Genau das können Kultureinrichtungen offen präsentieren und thematisieren und selbst leben. Was wird? Hoffentlich eine Gesellschaft, die sich nicht überwältigen lässt, die um ihre Tradition weiß und um die Notwendigkeit, die eigene Kultur weiter zu entwickeln und vor allem auch zu pflegen, auf dass sie nicht zur Un-Kultur verkommt. Wer kann das schlüssiger aufzeigen, als Einrichtungen der kulturellen Infrastruktur? Hier gibt es die Kernkompetenz, um die eigentliche Zukunftsfrage zu thematisieren, die mit allen Megatrends zusammenhängt, nämlich die Frage nach der Transzendenz. Das ist nicht religiös gemeint, sondern im philosophischen Sinne als Übersteigen und Reflektieren dessen, was sinnlich wahrnehmbar ist. In diesem Prozess wird es Aufgabe der Kulturpolitik sein, mit Programmen zu unterstützen und insbesondere die individuelle strategische Beratung stärker zu flankieren, als dies bisher üblich ist.

Autor

Martin Lätzel, Kiel

Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek