Über den eigenen Status hinaus. Produktive Irrelevanzerfahrungen

Christina Dongowski

18. Januar 2021

Wann immer Kürzungen oder Umschichtungen in den Kulturetats von Städten und Gemeinden, auf der Landes- oder Bundesebene anstehen, beschwört jemand das Gespenst der gesellschaftlichen Verödung, die durch eine Verknappung kultureller Angebote oder gar der Schließung kultureller Institutionen entstehe. Das verrückte Jahr 2020 hat uns ermöglicht, so eine Situation zu erleben – und das ganz ohne Kürzungen in den Kulturetats. Oder wahrscheinlich: vor den Kürzungen in den Kulturetats.

Wie sich eine Gesellschaft anfühlt, in der es keine klassischen Kulturveranstaltungen mehr gibt, kein Theater, Oper, Ballett und Konzert, in der Museen geschlossen sind und Vorträge nicht stattfinden können, erleben wir nun seit mehreren Monaten, und ziemlich sicher noch weit bis in den Sommer 2021. Für mich und viele andere kultur-affine Menschen ist eine der interessantesten Erfahrungen im Shutdown kultureller Präsenzveranstaltungen, wie gut man mit ihm zurechtkommt – wenn man einen funktionierenden Internetzugang hat. Die Rhetorik von der Kultur als »geistigem Lebensmittel« oder »geistiger Tankstelle«, mit der sich die Staatsministerin für Kultur und Medien und andere Interessenvertreter*innen des Kulturbetriebs zu Wort meldeten, stand und steht im deutlichen Gegensatz zur eigenen persönlichen Erfahrung in der Pandemie.

Die Reichweite der Relevanz-Rhetoriken

Während ich der Relevanz-Rhetorik von Grütters et al. etwas irritiert gegenüberstehe, prallen an den Verantwortlichen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene die Appelle und Hinweise auf den bedeutsamen Beitrag, den Kunst und Kultur in dieser tiefgreifenden Krisensituation leisten könne, weitgehend ab. Der ein oder andere Kulturmensch schaffte es zwar in eine Talkshow, wo er/sie an den Hygiene- und Kontaktreduzierungsvorschriften Kritik üben durfte. Im Krisenmanagement oder in zentralen Entscheidungsprozessen werden diese Menschen aber offensichtlich nicht konsultiert. Die großen Worte von der »Systemrelevanz der Kultur«, von »Kultur als Ort der gesellschaftlichen Auseinandersetzung«, erweisen sich in der Krise zwar immer noch als wirkmächtig genug, um finanzielle Mittel zu aktivieren – immerhin! Sie klingen aber im Angesicht der sich bereits im Oktober dynamisch steigenden Infektions- und Sterbezahlen und der intensiven Diskussion darüber, wie sie wieder eingedämmt werden können, für viele auch nach Selbstüberschätzung.

Natürlich ist es unfair, Theateraufführungen mit dem zu vergleichen, was auf Intensivstationen getan und geleistet wird. In die Situation gebracht haben sich aber prominente Vertreter*innen des Kulturbetriebs selbst: Wer sich in einer lebensbedrohlichen Pandemie als »systemrelevant « behauptet, manövriert sich selbst in die paradoxe Situation, existenzielle Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft ausgerechnet in dem Moment zu behaupten, in dem deutlich wird, wie wenig man für den Großteil der Gesellschaft tatsächlich bedeutet.

Denn es geht ohne Theater, Oper, Ballett und Konzert. Es geht sogar ohne öffentliche Bibliotheken – deren Schließung sehr viel mehr Menschen betrifft, die kaum Zugang zu mit Eintrittsgeld bewährtem Kulturkonsum haben. Massenhafter Protest ist ausgeblieben – und offensichtlich waren sich die Entscheider*innen dessen sehr sicher, so resolut wie man sich im Oktober für einen Shutdown der auf Präsenz ausgerichteten Kultur-Institutionen entschloss.

Tobias J. Knoblich interpretiert diese Nonchalance der Politik in seinem Essay »Kultur ist mehr als Freizeitgestaltung, Vergnügen und Unterhaltung« nicht nur als Hinweis auf den tatsächlich untergeordneten politischen Stellenwert von Kultur, sondern auch als Indiz für die kommenden Debatten um die post-pandemische Neuordnung von Kommunal-, Landes- und Bundeshaushalten – hier würden die Kulturetats zu den ersten Opfern gehören, – und prognostiziert, dass es wohl nicht gelingen werde, mittels der seit Jahren eingespielten kulturpolitischen Rhetorik der eigenen gesellschaftlichen Relevanz massive Kürzungen zu verhindern. Ich halte diese Voraussage für zutreffend: Zwar hat die Relevanz-Argumentation 2020 zwar noch einmal ausgereicht um erhebliche Einmal-Beträge beim Bund frei zu machen, aber spätestens ab 2022, wenn es nach der Bundestagswahl um strukturelle Entscheidungen in Kommunen und auf Länderebene geht, wird die Rhetorik der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit der Kultur nicht weit tragen. Schließlich haben wir gerade erfahren, wie wackelig dafür die Faktenbasis ist.

Man wird nicht dümmer ohne Theater

Heavy User des prä-pandemischen kulturellen Präsenz-Angebotes wie ich haben seit dem 19. April 2020 die Erfahrung gemacht, die der größere Teil der Gesellschaft schon immer hat:

Man wird nicht dümmer ohne Theater, Oper, Konzert oder Museum.
Man wird auch kein schlechterer Mensch.
Man verpasst auch keine wichtigen gesellschaftlichen Debatten.
Man langweilt sich noch nicht einmal.

Digitale Angebote sind für die Bedürfnisse, die ich (und wahrscheinlich nicht nur ich) mit dem Besuch von Museen, Theater und Vorträgen befriedige, nicht nur ein guter Ersatz. Stattdessen ermöglichen sie oft ganz eigene Formen von Konsum und Teilhabe, mit denen viele klassische Präsenz-Formate nicht mithalten können. Zeitsouveränität ist nur eines davon. Wichtiger, weil dem Anspruch von Kultur an sich selbst viel näher: Digitale Formate haben eine deutlich niedrigere Zutrittsschwelle – und hier spreche ich nicht primär über Eintrittsgelder.

Es sich auf dem Sofa oder am Küchentisch mit Laptop oder Tablet gemütlich zu machen und sich eines von Igor Levits Pandemie-Mini-Recitals anzuhören oder gleich eine komplette Opernaufführung, die sich in mystischer Weise plötzlich auf den Webseiten oder YouTube-Kanälen mancher Häuser oder Musik-Labels finden, ist eine sehr andere, (und für viele Menschen wahrscheinlich auch sehr viel positivere) Erfahrung, als der Besuch eines Konzertsaales oder Opernhauses, bei dem bereits Architektur und Ambiente der Location verdeutlichen, welche Rezeptionshaltung und welcher Habitus hier gefordert werden. Das lässt sich selbst für Museen festhalten, die tendenziell bei der Öffnung gegenüber nicht-bildungsbürgerlichen Zielgruppen schon viel weiter sind als die performativen Kulturinstitutionen.

Dass Einübung, Affirmation und Privilegierung bestimmter Habitusformen (und damit Stabilisierung und Durchsetzung gesellschaftlicher Hierarchien gegen andere soziale Gruppen und Praxen) dem Präsenz-Kulturbetrieb leider nicht nur äußerlich sind und sich durch ein paar Diversity-Maßnahmen in den Inhalten begradigen ließen, zeigt sich in der Pandemie erstaunlich unverstellt: Keine der Stellungnahmen oder Kritiken am Shutdown der Präsenz-Kultur kam ohne den Hinweis aus, dass man doch schließlich etwas ganz anderes sei als ein Friseurbetrieb oder Bordelle. Diese Spitze ist nicht überall gut angekommen.

Überparteiliche Finanzkritik

Die Debatten darüber, für welche Art von Kultur in Zukunft überhaupt staatliche Mittel budgetiert werden sollen, werden nicht nur vor dem Hintergrund angeblich beschränkter Finanzmittel geführt werden. Sie werden sich auch in einem diskursiven politischen Raum abspielen, in dem die Besonderheit und Förderungswürdigkeit von Kunst und Kultur in ihren traditionellen Formen grundsätzlich in Frage gestellt werden kann – und dass nicht nur aus dem kulturellen Feld selbst heraus, durch die jeweiligen Avantgarden.

Schon vor der Pandemie sind große Kulturprojekte wie die Sanierung oder der Neubau von Opern- und Konzerthäusern (Bonn, Köln, Stuttgart) ins argumentative Schlingern gekommen, als aus bürgerlichen Kreisen und quer zum bekannten politischen Spektrum Stimmen laut wurden, dass man hier kein ausgeglichenes Kosten-/Nutzenverhältnis erkennen könne. Beispielsweise konnten sich in der Debatte um die Totalsanierung der Stuttgarter Oper schon vor der Covid19-Krise Menschen aus allen im Gemeinderat und in Landtag vertretenen Parteien hinter dem Argument versammeln, dass hier das Unterhaltungsbedürfnis einer sowieso schon privilegierten kleinen gesellschaftlichen Gruppe überproportional gegenüber anderen Gruppen gefördert wird.

Mit einigem Erfolg: Nicht nur haben sie den verantwortlichen Kultur- und Finanzpolitiker*innen überhaupt einmal eine Debatte über Sinn, Zweck und Umfang der Sanierungen aufgezwungen, sondern auch die Veröffentlichung einer einigermaßen realistischen Finanzplanung erreicht. Nachdem die Hausnummer der Sanierung all-inclusive auf eine Milliarde Euro beziffert wurde, steht die Debatte auf ganz anderen Füßen. Man merkt den Vertreter*innen aus Kultur und Kulturpolitik an, wie schwer es ihnen für diese Summe mit neun Nullen fällt, den gesamtgesellschaftlich bildenden und erhebenden Besuch einer Verdi-Oper glaubhaft zu machen, wenn für dieselbe Summe jede Schule Stuttgarts mit einer üppigen Bibliothek und alle Schüler*innen mit Premium-Laptops plus Internet Flatrate ausgestattet werden könnte.

2021, wenn die Debatte nach überstandener Pandemie weitergehen wird, steht neben dieser Milliarde auch noch die Zeit im Raum, die alle ohne Oper, Ballett und Konzerte überstanden haben. Welche Folgen dies zum Beispiel für die Abo-Abschlüsse haben wird, bleibt spannend. Vielleicht waren vor allem kulturtouristisch beworbene Großprojekte wie Elbphilharmonie und Humboldtforum die letzten ihrer Art.

Mangelnde Transformationsbereitschaft

Man kann die Stuttgarter Opernsanierungsdiskussion, die bereits eine Verfahrensänderung erreichte, beispielhaft als positives Zeichen für eine lebendige, wenn auch stellenweise ruppig geführte kulturpolitische Debatte verstehen, die vor allem auf kommunaler Ebene geführt wird, und quasi ein Vorschein gibt auf die zukünftigen Auseinandersetzungen über Erhalt und Erneuerung der Kulturlandschaft, die Tobias J. Knoblich im Start-Essay dieser Reihe bereits fordert und anmahnt. Pessimistisch stimmt mich aber die Sprachlosigkeit der Vertreter*innen des Kulturbetriebs, die zu diesem Gespräch bislang kaum mehr als unhinterfragte Besonderheits-Rhetorik von (traditioneller) Kultur beitragen konnten.

Die Erfahrungen, die ich hier in Stuttgart bisher in der Debatte um die Sanierung der Oper gemacht habe, sprechen eher gegen die Transformationsfähigkeit und -bereitschaft des kulturellen Feldes. Zumal sie nicht die einzigen sind, die einen skeptisch werden lassen. So kann man über die Ignoranz und die Sturheit nur erstaunt sein, die ausgerechnet Vertreter*innen des bundesdeutschen Kultur-Leuchtturm-Projektes Humboldt Forum in der Debatte um den angemessenen Umgang mit kulturellen Artefakten an den Tag gelegt haben, die durch kolonialistische Praktiken in die Berliner Sammlungen gelangt sind. Ein absoluter Tiefpunkt war ein Interview im Deutschlandfunk zum Thema, in dem Horst Bredekamp, einer der Gründungsintendanten des Humboldt Forums, bestritt, dass es überhaupt deutschen Kolonialismus gegeben habe. Fairerweise ist zu sagen, dass es gerade in diesem Feld aber auch positive Gegenbeispiele gibt: So haben das Land Baden-Württemberg und das Linden-Museum 2019 die Bibel und die Peitsche Hendrik Witboois an dessen Familie zurückgegeben. Witbooi war einer der Anführer des Aufstandes gegen die deutschen Kolonialherren im heutigen Namibia, die es laut Bredekamp gar nicht gab. Bibel und Peitsche wurden 1902 an das Stuttgarter Museum gegeben. Sie waren beim Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama von deutschen Soldaten erbeutet worden.

Das Linden-Museum und Landespolitiker*innen geben hier ein gutes Beispiel in Sachen Offenheit für Veränderungen und zeigen ein neues Verständnis für museale Artefakte und ihrer kulturellen Bedeutung. Trotzdem befürchte ich, dass sich die Tendenz der etablierten, auskömmlich finanzierten Institutionen eher verstärkt, die von außen angemahnten Veränderungsprozesse zu ignorieren. Dass sie sich Forderungen nach mehr Diversität bei den präsentierten Inhalten und den Arten der Präsentation, aber vor allem beim Fach- und Führungspersonal weiterhin verweigern und meinen, sich für diese Verweigerungshaltung auf die grundgesetzlich garantierte Autonomie und Freiheit der Kunst berufen zu können. Die Virtuosität, mit der die Gründungsintendanten des Humboldt Forums die sowieso hohe institutionelle Trägheit behördlicher Apparate wie sie Kulturbürokratien sind, genutzt haben, um die Debatte über eine Neukonzeption des Projektes museumspraktisch im Sande verlaufen zu lassen, ist für mich so ein Zeichen. Genauso wie der defensive Ton, der gerne in den Newslettern des Deutschen Kulturrates angeschlagen wird, wenn man sich – natürlich ganz selten offen aggressiv – mit Forderungen nach mehr Diversität oder nach deutlicher Positionierung kultureller Institutionen gegen diskriminierende Politikentwürfe auseinandersetzt. Oder dass Kulturstaatsministerin Grütters zu Fragen einer Kultur der Digitalität wenig mehr einfällt als die Klage über die Verrohung des Diskurses durch soziale Medien. Ganz praktisch und strukturbildend zeigt sich diese defensive Haltung gegenüber den Transformationen, die ja bereits ohne Budgetierung und Segen der obersten staatlichen Kulturrepräsentantin ablaufen, dann in den überschaubaren Beträgen, die Grütters in ihrem Etat 2021 für die Digitalisierung und den Aufbau digitaler Strukturen im Kulturbereich vorsieht: circa 22 Millionen Euro.

Funktionale Spaltung des Kulturbetriebs

Hier gäbe es also viele Ansatzpunkte zur Transformation. Stattdessen werden die Bereiche im kulturellen Feld, die bereits aktuell unter deutlich prekäreren Finanzierungs- und Arbeitsbedingungen, programmatisch und personell diverser und inklusiver zu arbeiten versuchen, noch stärker unter Druck geraten. Sie haben viel weniger Ressourcen und entsprechende Netzwerke, sind viel einfacher angreifbar – und vor allem sitzen sie nicht in einer gebauten Infrastruktur, die man nicht so einfach leer stehen lassen oder umwidmen kann. Gerade durch die institutionelle Kulturförderung mit festen Budgets für etablierte Häuser auf der einen Seite und einem großen, tendenziell intransparentem Projektmittelwesen auf der anderen, hat sich die funktionale Spaltung des Kulturbetriebs mittlerweile als reale bürokratische, finanzielle und bauliche Infrastruktur materialisiert: (relativ) gut finanzierte Traditionsbetriebe, die sich am Kunst- und Kulturbegriff des letzten Jahrhunderts festhalten, und flexible, von der Hand in den Mund lebende Innovationslabore, die sich ständig neu erfinden müssen, weil die Förderperiode beendet ist und die Gelder einen neuen thematischen Schwerpunkt bekommen.

Damit sich diese tief in das kulturelle Feld, seine Inhalte und sein Selbstverständnis versenkte Struktur nicht durch massiven ökonomischen Druck verstärkt, bräuchte es Netzwerke und Diskussionsräume, in denen sich Vertreter*innen aus beiden Sphären gleichberechtigt begegnen können. Gleichberechtigt hieße hier vor allem: In denen sich auch Opernintendanten und Museumsdirektorinnen der Frage nach der Existenzberechtigung ihrer Häuser und ihrer Arbeit stellen lassen, ohne dass das professionelle Konsequenzen für die Fragenden hat. (Die Intransparenz der tatsächlichen ökonomischen und finanziellen Verhältnisse innerhalb des Kulturbetriebs und die daraus folgenden Abhängigkeiten sind der große Gorilla im Raum dieser ganzen Debatte.) Für solche offenen Räume sehe ich, vor allem oberhalb der kommunalen Ebene, bisher wenige Anzeichen. Aber wer weiß: Um die Debatte herum kommt der Kulturbetrieb sowieso nicht. Und vielleicht eröffnet die schockhafte Erfahrung der eigenen gesellschaftlichen Irrelevanz doch Räume, in denen offener über die Funktionen von Kultur in einer Gesellschaft gedacht werden kann – und nicht nur über den Erhalt des eigenen Status.

Autorin

Fotoquelle: www.mag.de

Dr. Christina Dongowski

Geboren 1969. Hat an der JLU Gießen Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studiert. Arbeitet als Ghostwriterin, PR-Texterin, Übersetzerin und Autorin und ist ehrenamtlich im Kulturbereich engagiert. Sie lebt in Stuttgart und im Internet.