Der gemeinsame Nenner und die politische Ästhetik der Differenz

Daniel Neugebauer

2. Februar 2021

Am 10. Dezember 2020 gaben ein gutes Dutzend Vertreter*innen staatlich geförderter Kulturinstitutionen ein gemeinsames sowie zwölf individuelle Statements ab. Die Überschrift ihrer Stellungnahmen: Initiative GG 5.3 Weltoffenheit. Über zwanzig weitere Institutionen und Einzelpersonen bekräftigten öffentlich ihre Unterstützung für diesen Aufruf, in dem sich die Unterzeichneten wie folgt positionieren:

»Da wir den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch für grundlegend halten, lehnen wir den Boykott Israels durch den BDS ab. Gleichzeitig halten wir auch die Logik des Boykotts, die die BDS-Resolution des Bundestages ausgelöst hat, für gefährlich. Unter Berufung auf diese Resolution werden durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt. (…) Mit dem Namen (Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, Anm.d.R.) verweisen wir auf Artikel 5 Absatz 3 des Grundgesetzes, in dem die Freiheit von Kunst und Wissenschaft garantiert wird. Weltoffenheit, wie wir sie verstehen, setzt eine politische Ästhetik der Differenz voraus, die Anderssein als demokratische Qualität versteht und Kunst und Bildung als Räume, in denen es darum geht, Ambivalenzen zu ertragen und abweichende Positionen zuzulassen. Dazu gehört es auch, einer Vielstimmigkeit Freiräume zu garantieren, die die eigene privilegierte Position als implizite Norm kritisch zur Disposition stellt.«

Eine Woche später zirkulierte ein offener Brief, der Solidarität mit dem Ursprungsstatement ausdrückt, aber auch eigene Akzente setzte und der von über 1.300 Künstler*innen und Akademiker*innen (Stand 19.12.2020) unterschrieben wurde. Seitdem tobt eine Debatte im klassischen Feuilleton und den sozialen Medien, die sich, mit offenem Ausgang, noch weit ins nächste Jahr ziehen wird. Auch die Unterzeichner*innen der Liste müssen sich für ihre Unterschrift rechtfertigen. Am überzeugendsten macht das der in Jerusalem geborene und in Berlin lebende Künstler und Kurator Boaz Levin, wenn er am 8. Januar das Unvermögen moniert, »sich mit einer Realität zu befassen, die ungleich verschlungener ist als die mundgerechten Dichotomien, die Boykott und Anti-Boykott heraufbeschwören: gut und böse, Inklusion oder Exklusion.«

Aus der Frage nach einem adäquaten Umgang mit der Bewegung BDS (Boycott, Divest, Sanctions) leitet sich ein Bündel weiterer Fragen zur politischen und Erinnerungskultur ab, die zu relevant sind, um sie nur innerhalb bestehender Diskursdichotomien zu verhandeln. Eine #neueRelevanz kann nur in neuen Diskursräumen entstehen. Doch wie behauptet man diese?

Initiative GG 5.3 Weltoffenheit

Ausgehend von einer als problematisch wahrgenommenen Resolution des Bundestages zum Thema BDS äußern einige der größten Kultur- und Wissenschaftsinstitutionen (von der Kulturstiftung des Bundes bis zu den Berliner Festspielen bis zum Goethe-Institut und dem Wissenschaftskolleg) ein Unbehagen bezüglich einer hieraus resultierenden politischen Grauzone, was den Umgang von Kultur mit BDS betrifft. Ich möchte hier nicht en détail oder erschöpfend die inhaltlichen Argumente der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit oder deren Kritiker*innen wiedergeben (die zentralen Argumente sind in den Links zu finden), sondern einen Blick auf die Architektur einer kulturpolitischen Konstellation werfen, die in ihrer Komplexität schwer auf eine einfache Formel zu bringen ist.

Wie lassen sich differenzierte Diskursräume behaupten in einem Klima der Verkürzung, des Konsums, der Komplexitätsreduktion oder Polarisierung? Wirkliche Transformationen in der Kultur sind ohne Veränderungen in der Debattenkultur kaum zu bewerkstelligen. Nach der Pressekonferenz der Initiative scheint jedoch bereits die Debatte darüber, was debattiert werden kann, merkwürdig unproduktiv und verhärtet.

In der Vergangenheit schrieb ich über eine Positionierung von Kulturinstitutionen als soziale Kraftzentralen (im Sinne Alexander Dorners) – also als Orte der Begegnung und Verständigung auf der Basis gemeinschaftlicher Ideale. Aus dieser Praxis und Haltung heraus möchte ich hier für eine konstruktive Debatte plädieren, die mit Perspektivübernahmen, Vielstimmigkeit und sozialer Verantwortung operiert, um kulturpolitische Debatten nicht für politische Grabenkämpfe zu instrumentalisieren. Die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit dient momentan sozusagen als lebendiges Anschauungsmodell – es lohnt sich ein Blick auf die Debattenführung.

Dem Folgenden ist vorauszuschicken, dass ich für eine der beteiligten Institutionen, das Haus der Kulturen der Welt, arbeite und mein Arbeitsfokus in der intersektionalen Vermittlungspraxis und nicht der politischen Analyse liegt. Da es der Initiative aber um Vermittlung von Positionen geht, möchte ich mit diesem Text auf Schnittstellen verschiedener Debattenaspekte hinweisen, da Kulturpolitik in meinem Verständnis ebenfalls viel mit Vermittlung zu tun hat.

Kulturpolitische Solidargemeinschaften

Es ist bekannt und leicht nachzuprüfen, dass bestimmte Blogs, seriöse wie unseriöse Presseorgane sowie Trolls[1], sogar politische Parteien am rechten Rand sehr schnell und vehement Antisemitismusvorwürfe äußern. Die Kontroversen um das Jüdische Museum Berlin (2019) und die Kunsthochschule Weißensee (2020) können als Beispiele dienen. Das ist ihr gutes Recht, allerdings ist die Folge, dass der Antisemitismusvorwurf teilweise als ausgehöhlt wahrgenommen wird. Dass dies in einer Zeit des erstarkenden Antisemitismus problematisch ist, halte ich für wichtig zu betonen. Es ist also wichtig, über die sich stets im Wandel befindliche Antisemitismusdefinition zu sprechen – mit dem Ziel, die Integrität des Begriffes zu schützen, vor allem angesichts der Verantwortung gegenüber der deutschen Geschichte.

Einzelne Institutionen schaffen es jedoch kaum, neue Vorschläge zu formulieren. Das mediale Gegengewicht ist stärker, auch das zeigen die erwähnten Beispiele. Allianzen zu bilden ist also eine logische Vorgehensweise für kulturelle Akteur*innen, um politische Sorgen und Wünsche zu formulieren. Initiativen wie Die Vielen zeigen erfolgreich die Bedeutung und auch die Funktionalität von Solidargemeinschaften innerhalb der Kultur. Als Gegenkonzept zu einem wirtschaftlich orientierten Konkurrenzmodell von Kulturinstitutionen vereinen sie auf Basis eines gemeinsamen Nenners eine Vielzahl diverser Positionen; in diesem Falle: Den Glauben an eine demokratische Gesellschaft, den offenen und kritischen Dialog über rechte Strategien, die Weigerung, völkisch-nationalistische Propaganda oder Rechtsnationalen eine Bühne zu geben und die Solidarisierung mit Menschen, die durch eine rechtsextreme Politik immer weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.

Eine weltoffene Debattenkultur

Nicht wenige Institutionen, die das Plädoyer der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit unterzeichnet haben, sind auch involviert bei Die Vielen. Das bedeutet, dass sie auch eine Verpflichtung unterzeichnet haben, aktiv gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen: In der programmatischen Arbeit durch Projekte für verschiedene Publika, in ihrem kulturpolitischen Engagement, schlägt sich diese Haltung nun in einer Kritik der Folgen der BDS-Resolution des deutschen Bundestags von 2019 nieder.

Diese Resolution wird in der praktischen Umsetzung vielfach als problematisch empfunden – da aktives Werben für BDS-Ziele mit ›Kontaktschuld‹ verwechselt wurde. Als Folge entstand eine Praxis der Denunziation, der Schriftsteller Doron Rabinovici schreibt: »(…)im Plädoyer der ›Initiative GG 5.3 Weltoffenheit‹ beklagen kulturelle und wissenschaftliche Institutionen, dass unter Berufung auf den Bundestagsbeschluss kritische Stimmen allein aufgrund ihrer politischen Positionen zu Israel des Antisemitismus bezichtigt werden, um sie so in Misskredit zu bringen. Wir sind mitten in einer Inszenierung der exzessiven Auslegungen und der wechselseitigen Verdächtigungen.«

Die Initiative sieht die Integrität des Antisemitismusbegriffs gefährdet, für deren Wahrung sie sich einsetzen will. Das eigentlich bezweckte Ziel der Resolution, deutsche Verantwortung für die Sicherheit Israels zu übernehmen, greift nicht. Statt einer differenzierten Auseinandersetzung wird ein Feinbild, hier in Form von BDS, aufgebaut. Dass dieses Vorgehen für eine weltoffene Debattenkultur problematisch ist, darauf weist die Initiative hin. Es treffen Staatsräson auf politischen Pragmatismus, kulturelle Praxis auf politische Ideologien – ein vielschichtiges Problem oder, im Sinne von Schmidt-Linsenhoff, eine fehlende Deckung von politischer Ideologie und praktischer Erfahrung.

Vielen Pressemeldungen zum Thema ist fälschlicherweise zu entnehmen, dass es den Initiator*innen darum geht, die BDS-Initiative salonfähig zu machen. Vielmehr ist das Ziel der Gruppe, Einladungspolitik und politischen Druck zu diskutieren. Ist eine Ausladung von Achille Mbembe Selbstzensur? Oder kritische Programmgestaltung? Wann wird es eine rassistische Beleidigung? Auch hier gilt es, Antwortnuancen zuzulassen und Pauschalisierungen entgegenzutreten, um kulturelle Lernprozesse einzuleiten.

Wenn eine große Anzahl von Institutionen, die für kulturellen Dialog standen und stehen, auf verschiedene Problematiken hinweisen, die sich in der praktischen Umsetzung der BDS-Resolution des deutschen Bundestags bündeln, verdient diese Kritik meiner Meinung nach zumindest eine genauere Analyse statt einer reflexhaften Ablehnung. Besonders dann, wenn in den Verlautbarungen der Initiative eine Ablehnung der Boykottpraxis von BDS mehrfach deutlich formuliert wurde und wird.
Kritik bei Beibehaltung des Dialogs.

Doch diese Diskursposition (Ablehnung der BDS-Praktiken bei Aufrechterhaltung des Dialogs), sorgt für Skepsis. Gleichwohl ist dies ein Grundsatz demokratischer Diplomatie und gehört, wie die bereits unterschiedlichen Positionen innerhalb der Initiative betonen, zur »politischen Ästhetik der Differenz«[2]. Die besondere Herausforderung liegt darin, dass das Thema Erinnerungskultur komplex, traumabeladen und politisch umkämpft ist. Dass hier aber ein produktives und relevantes Arbeitsfeld für die Kultur besteht, zeigt auch die Debatte zum Thema Erinnerungskulturen in den Kulturpolitischen Mitteilungen 171.

Diese Komplexität in Programme umzusetzen, ist die tägliche Aufgabe von Kunst und Wissenschaft. Gemeinsamer Nenner innerhalb dieser Differenz ist das Grundgesetz, genauer gesagt §5, Absatz 3, in dem es heißt: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.«

Der Name der Initiative gibt also an, in welchem Rahmen man sich bewegt: Die Initiative verteidigt diesen Absatz des Grundgesetzes, fordert ihn ein, aber bekennt und verpflichtet sich auch zu all ihren Grundsätzen. In ihrem Beitrag vom 22.12.2020 in der Frankfurter Rundschau legt Aleida Assmann die Bedeutung einer demokratischen »Streitkultur« auf Basis des Grundgesetzes überzeugend dar, ebenso wie die Rolle von Privileg und Machtposition bei der Äußerung von Forderungen und Ablehnungen:

»(…) zur Demokratie gehört der Streit. Genau das garantiert der Artikel 5.3. des Grundgesetzes, nämlich die Meinungsfreiheit, auf die sich die Gruppe beruft. Medien haben ein ganz besonders enges Verhältnis zum Streit. In einer Demokratie sind sie mit dafür verantwortlich, ihn zu entfachen und am Leben zu halten.
Das Problem ist heute allerdings das umgekehrte: Wie kann man den Streit demokratisch einhegen? Wer verhindert, dass er nicht umgehend in hemmungslose Attacken und Diffamierungen abgleitet? Wo sind die Schiedsrichter, die die Übersicht behalten, ab und zu mal abpfeifen, zur Mäßigung gemahnen und, wenn nötig, hier und da eine gelbe oder rote Karte ziehen? Eigentlich gibt es ein ganz einfaches Rezept, um hysterische Aufwallung zu dämpfen, und das heißt: Zuhören, bevor man nach der Keule greift. Das wäre die Rückkehr zum guten alten Streit.«

Ein wichtiges Thema – und gerade mit Blick darauf, dass viele Kritiker*innen der Initiative die Privilegien staatlicher geförderter Institutionen selbst kritisieren, eine nötige Debatte über staatliche Aufträge, Repräsentation und Fördermechanismen, der sich die so genannte Hochkultur natürlich stellen muss.

Ästhetische Differenz in beide Richtungen

Felix Klein, Beauftragter für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, hat nach den ersten Kontroversen zur Thematik ein Gutachten der wissenschaftlichen Dienste des Bundestages beauftragt. Der Bericht, der kurz vor Weihnachten veröffentlicht wurde, konstatiert interessanterweise verfassungsrechtliche Problematiken in der Umsetzung des BDS-Beschlusses des Bundestags, gleichwohl der Bericht rechtlich nicht bindend ist.

Bezogen auf die von mir dargelegte Problematik kann man also sagen, dass eine rechtliche Grauzone entstanden ist, die eben nicht zu einer fundierten Debatte zum Thema und somit wohl auch nicht zum Schutz einer Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland beiträgt. Konkret: Sollte man nicht kritisch nachfragen, wenn eine Resolution des Bundestages nicht verfassungskonform wäre, wenn sie Gesetz wäre? Eine tiefgehende Analyse von Ursachen des unverkennbar steigenden Antisemitismus in der deutschen Gesellschaft sowie der Rolle von Kulturinstitutionen liefert Itay Maschiach in einem Beitrag in der Haaretz, auf Deutsch nachzulesen in Der Freitag vom 14.12.2020, in dem er Strukturen einer Kultur des subtilen Druckes und der Selbstzensur nachzeichnet.

Man könnte innerhalb dieser Debatte das Grundgesetz oder auch das Recht von Israelis und Palästinenser*innen auf Leben in Freiheit und Sicherheit sowie Selbstbestimmung als den gemeinsamen Nenner bezeichnen. Diese müssen unberührt bleiben. Die Gespräche darüber, wie beides am besten und konstruktivsten behauptet werden können, müssen innerhalb einer ästhetischen Differenz in alle Richtungen möglich sein.

Man sollte darüber sprechen, wo die Intersektionen aber auch die Differenzen von Erinnerungspolitik, Außen- oder Innenpolitik und eben der Kulturpolitik liegen – regelmäßig. Dies erfordert eine Kommunikationskultur der Vielstimmigkeit und eine politische Praxis der klaren Farben statt Grauzonen – eine Transformation als Entwicklung statt als Regression.

Es bleibt abzuwarten, ob sich die glücklicherweise zunehmend differenzierte Diskussion dieses Themas Vorbild für weitere überhitzte Diskussionen erweisen wird und damit über den aktuellen Sachverhalt hinaus kulturpolitische Relevanz haben wird. Viele Institutionen der Initiative GG 5.3. Weltoffenheit planen für 2021 Projekte zur weiteren Vertiefung und Ausdifferenzierung der Thematik.

Autor:

Foto: Silke Briel

Daniel Neugebauer ist seit April 2018 Bereichsleiter Kommunikation und Kulturelle Bildung am Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin. Er ist als Literaturwissenschaftler ausgebildet und interessiert sich für die Schnittstellen von Kommunikation und Bildungsarbeit. In seiner institutionellen Praxis, mit Stationen in der Kunsthalle Bielefeld, dem Van Abbemuseum Eindhoven sowie der documenta 14, beschäftigt er sich unter anderem mit Themen wie Inklusion, Queering oder transnationale Kooperationen.


[1] Als Trolls werden Online-Präsenzen bezeichnet, die auf eine bestimmte politische Mission angesetzt werden. Klassischerweise belästigen sie andere Nutzer*innen oder stören Diskussionen durch provozierende, beleidigende oder schlicht vom Thema ablenkende Zwischenrufe.

[2] Der Begriff »Ästhetik der Differenz« ist dem gleichnamigen Buch (2010, Jonas Verlag) von Viktoria Schmidt-Linsenhoff zu postkolonialen Perspektiven entnommen. Die These der Autorin ist, dass die Inkongruenz politischen Bewusstseins und persönlicher Erfahrungshorizonte durch ästhetische Produktionen reflektiert werden können. Bezogen auf die in diesem Essay skizzierte Problematik bedeutet das, dass kulturelle Praxis wie die Praxis von Kulturinstitutionen nur dann #neueRelevanz und produktive neue Ideen hervorbringen kann, wenn sie in der Lage ist, zwischen Positionen zu vermitteln und über die Zementierung der eigenen Position hinausdenken und -arbeiten will. Das heißt: Auch wer Boykott ablehnt, kann mit Menschen sprechen, die das nicht tun.