Falsche Kultur-Reflexe.
Über die Pflicht Opferdiskurse und Neid-Debatten zu vermeiden

Stefan Donath

5. Februar 2021

In der vergangenen Woche jährte sich das Bekanntwerden der ersten Corona-Infektion in Deutschland. Seitdem hat die Pandemie unseren Alltag völlig verändert. Nach einem stillen Advent, einem Jahr der ausgefallenen Beethoven-Sinfonien im Jubiläumsjahr und komplett gestrichener Weihnachtskonzerte sind wir mit einer historisch nie dagewesenen Sang- und Klanglosigkeit in das neue Jahr gestartet. Besonders im Musikbereich, der durch die Übertragung von Aerosolen weiterhin als besonders kritisch eingestuft wird, sind neben vielen Profi-Musiker*innen und -Ensembles gerade auch zahlreiche Amateurmusizierende besonders hart betroffen.

Die Amateurmusik wird im kulturpolitischen Diskurs leider immer noch viel zu sehr belächelt. Dabei gibt es in Deutschland circa 14 Millionen Menschen, die in ihrer Freizeit musizieren. Über 100.000 Amateurmusik-Ensembles im instrumentalen und vokalen Bereich sind durch die Corona-Pandemie in Mitleidenschaft gezogen – Chöre und Orchester, die mit ihren Konzerten nicht nur zu Weihnachten ein ganz entscheidendes Fundament der deutschen Musiklandschaft bilden.

Zahlreiche Musizierende haben in den letzten Monaten Programme geprobt, die sie nun nicht singen oder spielen können. Die komplette Weihnachtszeit – sonst musikalische wie ökonomische Hochsaison der vokalen und instrumentalen Amateurmusikszene – verstummt. Mehr noch: Bereits jetzt ist absehbar, dass die momentane Sang- und Klanglosigkeit eine nachhaltige Stille produzieren wird. Ein schnelles Hochfahren der Konzerttätigkeit wird es nach Lockerung der Corona-Maßnahmen nicht einfach geben, da Musikaufführungen im Profi- wie im Amateurbereich das Ergebnis eines intensiven und kontinuierlichen Probenprozesses über Wochen hinweg sind. Die Auswirkungen der Corona-Krise werden alle Chöre und Orchester daher bis weit in das neue Jahr hinein spüren. Sie werden zu einem deutlichen Rückgang der Konzertangebote und der außerschulischen musikalischen Jugendbildung führen.

1. Verärgerung, Enttäuschung und Frustration aber bitte nicht persönlich nehmen

Die immer wieder verschärfte Unterbrechung der Proben- und Konzerttätigkeit im Amateurmusikbereich hat schon in den vergangenen Monaten viele Menschen demoralisiert. Vielen fehlt nicht nur die Kraft der Musik, ihre Hoffnung spendende Energie, die Freude, die sie einem schenkt und die gerade jetzt in der Krise so wichtig wäre. Viele Chöre und Orchester verstummen in Sorge um den Nachwuchs, fragen sich, ob es nach der Krise überhaupt weitergehen wird. Verärgerung und Sorgen vergrößern sich besonders dann, wenn die Erfahrung von Ungerechtigkeit dazukommt. Warum werden andere gesellschaftliche Bereiche als systemrelevanter angesehen als die eigene kulturelle Praxis? Warum wird unser Wert nicht anerkannt?

Haben wir ein Kommunikationsproblem? Ist die Krise auch die Chance jetzt erneut zu erklären, warum wir so wichtig sind? Oder sind diese Fragen zynisch bis nachrangig in Anbetracht des Überlebens vieler Solo-Selbständiger oder der berechtigten Sorge vieler älterer Menschen, ob wir jemals wieder so unbeschwert zusammen musizieren können?

2. Die Wertdebatte – Zur Bedeutung der Amateurmusik außerhalb der Freizeit

Gemeinsames Musizieren verbindet Bürger*innen und Kulturen; es fördert insbesondere in ländlichen Räumen den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dieser Dialog und die gegenseitige Verständigung sind die Fundamente einer starken Zivilgesellschaft.

Erst Ende November hat der Bundestag das Infektionsschutzgesetz geändert und dabei auch die besondere Bedeutung der Kunst- und Kultureinrichtungen für die demokratische Gesellschaft betont. Vorangegangen war in der politischen Begründung der Maßnahmen einige Wochen zuvor eine höchst unsensible Gleichsetzung der Kultur mit bloßem Freizeitvergnügen.

Aber auch das gemeinschaftliche Musizieren in Chören und Orchestern, das in Deutschland eine lange Tradition hat, kann man nicht nur als Freizeitgestaltung, Vergnügen oder Unterhaltung abtun, wie es in der ersten fatalen Begründung neuerlicher Corona-Schutzmaßnahmen im November geschah.

Wie im Fall fehlender Konzerte zur Weihnachtszeit wird uns die Bedeutung der Kultur aktuell besonders durch ihr Fehlen spürbar. Sie wäre jetzt genau jene Kraftquelle, die wir bräuchten, um Zuflucht und Trost zu finden, neue Diskussionsmöglichkeiten zur Verarbeitung der Alltagsbelastungen, gemeinschaftliche Foren des Austauschs, Reflexions- und Vergewisserungsmöglichkeiten.

Der Wert der Amateurmusik wird daher dort offenbar, wo Aspekte der Freizeitgestaltung und des Vergnügens, die ohne Frage auch eine Rolle spielen sollen und dürfen, zurücktreten, um der zivilgesellschaftlichen Bedeutung gemeinsamen Probens Platz zu machen. Amateurmusik garantiert breiten Schichten die aktive Teilhabe und Teilnahme an Kultur. Darüber hinaus erbringt sie eine Menge von Leistungen, die in der Krise nicht einfach beiseitegeschoben werden können.

Die Amateurmusik stiftet gerade auch fernab der großen Metropolen generationsübergreifende Bildungsorte. Menschen, die sich regelmäßig treffen, um gemeinsam an einem Musikstück, der Einstudierung einer Melodie oder der Erarbeitung und Planung eines ganzen Konzerts zu arbeiten, stehen im Austausch, sie diskutieren, stimmen sich ab, verwerfen, favorisieren und beleben damit an zahlreichen Orten dieses Landes, was die Politik sonst gern als gesellschaftlichen Zusammenhalt preist. Als Orte der Selbsterfahrung und kulturellen Partizipation ermöglichen Gemeinden und Musikvereine ein durch die Kultur gestütztes Forum zwischenmenschlichen Austauschs. Hier kommen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen, werden Teil eines künstlerischen und immer auch demokratischen Aushandlungsprozesses. Im besten Sinne erzeugt die Diversität der Menschen, ihre Mitsprache und die Polyphonie ihrer pluralen Stimmen hier zugleich eine politische Praxis, die überaus schützenswert erscheint.

Leider wird in den aktuellen Krisenzeiten viel zu oft ausgeblendet, dass kulturelle Praktiken wie das Amateurmusizieren auch diese Art von Räumen der gesellschaftlichen Selbstvergewisserung schaffen. Diskussionen, die unter dem Stichwort der »Systemrelevanz« geführt werden, um eine Priorisierung einzelner gesellschaftlicher Bereiche vorzunehmen, übersehen den außergewöhnlichen Beitrag solch scheinbar »entbehrlicher« kultureller Betätigungen. Letztlich bilden sie allerdings das Fundament unseres bürgerschaftlichen Gemeinwesens schlechthin.

Zum einen ist es also richtig, in der aktuellen Corona-Pandemie den eigenen Stellenwert zu betonen. Umso mehr, je deutlicher dem kulturellen Bereich in der aktuellen Krise die Wertschätzung, die sich allzu oft nur an ökonomischen Parametern orientiert, entzogen wird. Dabei bräuchte es gerade jetzt von der Politik eine ausdrückliche Bejahung und Wertschätzung der Kultur, insbesondere für den Beitrag, Kontakte weiter zu minimieren und der dadurch demonstrierten Unterstützung bei der Bewältigung der Krise.

Wo diese ausbleibt und mit den aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie leichtfertig eine Degradierung des gesellschaftspolitischen Auftrags und Wertes der Kultur in Kauf genommen wird, werden sich die Fronten weiter verhärten.

Dabei stellt auch innerhalb der Amateurmusik niemand die Maßnahmen grundsätzlich in Frage: Alle Kulturschaffenden wissen, dass auch wir in dieser schwierigen Situation Verantwortung dafür tragen, wie wir durch diese Krise kommen. Zum jetzigen Zeitpunkt kann die Notwendigkeit von Kontaktminimierungen nicht mehr durch existierende Hygienekonzepte wegdiskutiert werden. Um exponentiell steigende Infektionszahlen zu verhindern, genügen die bisher erarbeiteten Schutzmaßnahmen nicht mehr aus, die auch viele Chor- und Orchestermusizierende in den vergangenen Monaten erarbeitet hatten.

3. Krise als Chance?

Die Verlängerung und Verschärfung des zweiten Lockdowns über den Monat November hinaus trifft uns alle gleichermaßen hart. Wir müssen uns zurückziehen, vereinzeln, sollen liebe Menschen gerade nicht mehr treffen. Mit dem Wegfall gemeinsamer Begegnungen verstummt vielerorts zwangsweise auch das menschliche Grundbedürfnis des Musizierens.

Aber sind die gegenwärtigen Musizier-Verbote tatsächlich in der Lage, unsere weltweit einmalige Musik-Vielfalt in Deutschland zu bedrohen? Steht die herausragende und zugleich besonders schützenswerte Bedeutung unseres immateriellen Kulturerbes, zu welchem die Chormusik in deutschen Amateurchören (seit 2014) und Instrumentales Laien- und Amateurmusizieren (seit 2016) gehören, wirklich in Abrede?

Es ist berechtigt, große Geschütze aufzufahren und mahnende Worte zu wählen. Dennoch habe ich im Gespräch mit Kulturpolitiker*innen gerade die Erfahrung gemacht, dass dort der Ernst der Lage absolut verstanden wird. Wir sollten uns die Kraft sparen, Menschen von etwas überzeugen zu wollen, die längst zu unseren größten Unterstützer*innen zählen.

Was wir derzeitig erleben ist eine wichtige und notwendige Wertdebatte über die gesellschaftliche Bedeutung der Kultur im Allgemeinen. Es ist zu begrüßen, dass neu über den eigenen gesellschaftlichen Beitrag vieler Kulturschaffender und ihrer besonderen Sparten nachgedacht wird. Dass diese Diskussion nun breiter gefasst ist und noch mehr Menschen als die üblichen Verdächtigen erreicht, ist weiterhin wichtig. Denn eine Quintessenz dieser zum Teil sehr emotional geführten Debatte ist dabei doch auch die Erkenntnis eines kommunikativen Problems, das uns selbst betrifft. Die Kulturschaffenden und Kreativen dürfen gern öfter klarer und deutlicher erklären, welchen wichtigen Beitrag sie leisten. Drei Dinge helfen dabei jedoch nicht:

Erstens auf die eigene Unverzichtbarkeit zu pochen in Anbetracht einer absoluten Ausnahme-Situation, die aus Solidarität von anderen Mitmenschen eher Rücksichtnahme als lautes Poltern bräuchte.

Zweitens immer nur neidvoll auf die anderen zu blicken, die mehr bekommen, andere Privilegien genießen oder von den Einschränkungen weniger hart getroffen sind.

Drittens es sich zu einfach zu machen, und folglich nur als Opfer dieser Ausnahmesituation zu gerieren, anstatt jene Herausforderungen zu fokussieren, die auch vor der Krise schon da waren und die jetzt nur eklatanter die eigenen Versäumnisse offenbaren.

In den stillen Räumen der Sang- und Klanglosigkeit ist also viel Platz für neue Ideen. Anstatt sich darüber aufzuregen, warum der Einzelhandel lange offenbleiben durfte, der Kirchenchor aber nicht extra gefördert wird, gilt es Lösungen auf grundsätzliche Zukunftsfragen zu finden. Speziell für den Bereich der Amateurmusik ergeben sich wichtige Fragen im Bereich der Nachwuchsförderung, der Digitalisierung, des Engagements und Ehrenamts.

Die Corona-Krise setzt den Kulturbereich also nicht nur punktuell in Bedrängnis, indem sie ihn über einen längeren Zeitraum lahmlegt. Sie spült auch Probleme und Herausforderungen nach oben, die lange vor der Krise bereits virulente Themen einer grundsätzlich breiter angelegten Transformation unserer Lebenswelten waren. Neue Relevanz kann der Kulturbereich deshalb gerade dann entwickeln, wenn er einen Neustart fokussiert, der weniger Selbstbeschäftigung als ein Finden neuer Antworten ist. Denn ganz entscheidende Fragen und die Kommunikation unserer Antworten werden Kunst und Kultur auch in Zukunft sehr fordern: Wie können wir in einer Welt des rasanten Wandels unseren wertvollen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt klar auf den Punkt bringen?

Autor

Foto: Studio Stivali

Dr. Stefan Donath

ist seit Juli 2020 Geschäftsführer des Bundesmusikverbands Chor & Orchester e.V. in Berlin. Er studierte Theater-, Politik- und Kommunikationswissenschaften an der Freien Universität Berlin und der Université Paris VIII. Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter forschte er lange Zeit am Internationalen Forschungskolleg »Verflechtungen von Theaterkulturen« in Berlin u.a. zu Aufführungen antiker griechischer Tragödien, Formen künstlerischen Aktivismus und internationaler Kulturpolitik.