Transformationsforderungen an die Kulturpolitik von Kulturschaffenden mit Behinderungen

Kate Brehme

23. Februar 2021

Das deutsche Feld der Disability Arts ist eine wachsende, lebendige und aufregende Sphäre. Trotzdem haben wir noch einen langen Weg vor uns, bis wir Kulturschaffenden mit Behinderungen das gleiche Maß an Unterstützung erhalten wie unsere internationalen Kolleg*innen. Ich bin mir aber sicher, dass mit der richtigen Kulturpolitik die Disability Arts in Deutschland in der Lage sein werden, ihr Potenzial als international anerkannter und integraler Bestandteil unserer zeitgenössischen Kulturlandschaft zu entfalten.

Diese Unterstützung ist von entscheidender Bedeutung: Trotz des gestiegenen Bewusstseins und Interesses an Disability Arts in Deutschland gibt es immer noch eine tiefgreifende Unterrepräsentation und Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in den Künsten – auch bekannt als Ableismus. Ein Weg, diese Diskriminierung zu überwinden, ist die Gründung von Kunstorganisationen für Menschen mit Behinderungen. Und insbesondere von Kunstorganisationen, die von Menschen mit Behinderungen geleitet werden, die die Solidarität zwischen Künstler*innen fördern und Ressourcen mit dem allgemeinen Kultursektor teilen. Solche Organisationen sind entscheidend, um den Bekanntheitsgrad behinderter Künstler*innen zu erhöhen.

Best Practice auf Organisationsebene

Weil sie in der Lage sind, auf deren Zugänglichkeitsbedürfnisse einzugehen, können sie dies auf eine empowernde Weise tun. Sie arbeiten daran, die Chancen und die Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderung als Künstler*innen, Kunstschaffende und Publikum zu verbessern. Zum Beispiel bieten eine Reihe kleiner lokaler Organisationen wie Berlinklusion (Berlin), Diversity Arts Culture (Berlin), Platz Da! (Berlin) und EUCREA (Hamburg) dem deutschen Kultursektor Informationen, Beratung und in einigen Fällen auch Schulungen an, und geben Künstler*innen mit Behinderung eine Plattform, um sich Gehör zu verschaffen.

In ähnlicher Weise haben eine Reihe von Konferenzen und Symposien, die sich in jüngster Zeit mit den Themen Behinderung, Zugänglichkeit und Inklusion befasst haben, die Möglichkeiten zum Austausch von Wissen, Best Practice und Ressourcen auf nationaler und internationaler Ebene verbessert, wie zum Beispiel Meeting Place (organisiert von Berlinklusion im Jahr 2017), Disability Art & Crip Spacetime (organisiert von Noa Winter und Dr. Nina Mühlemann für das NO LIMITS Festival im Jahr 2020) und ARTivismus von Künstler*innen mit Behinderung (organisiert von Linda Müller und Jana Zöll für das Grenzenlos Kultur Festival im Jahr 2020).

Ableismus im Kultursektor

Allerdings muss auf Landes- und Bundesebene mehr getan werden, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an Kunst & Kultur zu erhalten und zu erhöhen. Organisationen, die durch behinderte Menschen geleitet werden und Disability Arts-Organisationen, haben enorm viel getan, um die Arbeit von Künstler*innen mit Behinderungen zu fördern und zu unterstützen. Es gibt aber im sogenannten »Mainstream«-Kultursektor einiges zu tun, um gegen Ableismus vorzugehen. Die Überarbeitung und Neuformulierung der Kulturpolitik auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene ist ein Weg, um solche Veränderungen endlich auf den Weg zu bringen.

Inklusion in politischen und künstlerischen Entscheidungsprozessen

Erstens müssen wir überprüfen, wie unsere gegenwärtige Kulturpolitik gemacht wird, und fragen, inwieweit dieser Prozess diejenigen einbezieht, denen diese Politik angeblich dienen soll. Warum spielt Zugänglichkeit nicht eine stärkere und zentralere Rolle in unserer Kulturpolitik? Bestehen die Berater*innen der politischen Entscheidungsträger auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene aus einem vielfältigen Team von Kulturschaffenden mit einem breiten Spektrum an Erfahrungen und mit unterschiedlichen Behinderungen? Wo dies noch nicht der Fall ist, müssen die Erfahrungen von Künstler*innen und Kulturschaffenden mit Behinderungen in künftige Kulturpolitik einfließen und diese mitgestalten. Insbesondere sollte unsere bestehende Kulturpolitik so umgeschrieben werden, dass die verschiedenen Arten der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen im Kulturbereich abgebaut werden – sei es beim Besuch von Kulturveranstaltungen als Teilnehmer*innen, bei der Suche nach einer Beschäftigung als Künstler*in oder Kunstschaffende*r, oder beim Erwerb einer Ausbildung oder Qualifikation in der Kunst oder Kultur.

Gesetzliche Rahmenbedingungen

Zweitens kann Kulturpolitik mehr tun, um die bestehenden gesetzlichen Anforderungen bezüglich der Rechte von Menschen mit Behinderungen auf Zugang zur Kultur durchzusetzen. Während andere Länder wie Großbritannien und Australien weitaus strengere Maßnahmen zur Durchsetzung dieser Gesetze haben, wie zum Beispiel die Kürzung öffentlicher Mittel für Kultureinrichtungen, die bestimmte Quoten bei der Teilnahme oder Beschäftigung behinderter Menschen nicht erfüllen, gibt es in Deutschland kaum Konsequenzen für Kultureinrichtungen, die Zugänglichkeit unzureichend umsetzen. Um hier Abhilfe zu schaffen, könnte die Kulturpolitik einen stärkeren Rahmen für die Rechenschaftspflicht öffentlich geförderter Kultureinrichtungen schaffen, um Barrierefreiheit für behinderte Zuschauer und Mitarbeiter*innen gleichermaßen umzusetzen. Abgesehen davon sollte Kulturpolitik auch bessere Unterstützung für Kulturorganisationen bereitstellen, damit diese den Übergang von der bisherigen Unzugänglichkeit zu zukünftig mehr Zugänglichkeit schaffen können. Beispielsweise können (vor allem kleinere) Kulturorganisationen dabei unterstützt werden, bauliche Zugänglichkeit zu verbessern, Schulungen für Mitarbeiter*innen durchzuführen und angemessene Vorkehrungen für Mitarbeiter*innen mit Behinderungen zu treffen. Kulturelle Organisationen, die Werke von Künstler*innen mit Behinderungen in Auftrag geben, präsentieren und/oder Kulturschaffende mit Behinderungen in (vor allen Dingen!) Führungspositionen beschäftigen, sollten ermutigt werden und verstärkt Orientierungsangebote erhalten.

Ausschließlich barrierefreie Zugänge

Schließlich kann Kulturpolitik dazu beitragen, die Kulturförderung des Bundes, der Länder und der Kommunen behindertengerecht zu verwalten und zu verteilen. Auch hier ist die Einbindung von Kunstschaffenden mit Behinderungen als Berater*innen in Fördergremien ein wichtiger Schritt. Wir müssen uns fragen: Wie können wir die Barrierefreiheit und die damit verbundenen Kosten als integralen Bestandteil der Kunstproduktion betrachten – und nicht wie bislang als Sahnehäubchen oder nachträgliches Element?

Auf lokaler Ebene hat es einige positive Schritte in die richtige Richtung gegeben. Zum Beispiel beinhalten sowohl die Förderungen der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin als auch des Hauptstadtkulturfonds Anforderungen zur Barrierefreiheit von Ausstellungen und anderen kulturellen Veranstaltungen. Neue Förderlinien wie Durchstarten und IMPACT-Fonds bieten auch eine barrierearme Förderung für einzelne Künstler*innen mit Behinderungen in Berlin. Das ist schön und gut, aber: Die gesamte reguläre Kunstförderung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene muss für alle Künstler*innen und Kunstschaffenden zugänglich sein, die sich bewerben möchten – unabhängig davon, ob sie eine Behinderung haben oder nicht.

Die Kulturpolitik könnte sicherlich über die bloße Bereitstellung von Mitteln für die Kunstvermittlung oder die bauliche Zugänglichkeit für ein Kunstpublikum mit Behinderungen hinausgehen. Sie muss damit beginnen, die Finanzierung qualitativ hochwertiger kultureller Arbeit zu fördern und zu erleichtern, die von Künstler*innen und Kunstschaffenden mit Behinderungen produziert wird.

Autorin

Dr. Kate Brehme

ist freie Kuratorin und Kunstvermittlerin mit einer Behinderung. Sie hat in Australien, Schottland und Deutschland eine Vielzahl von Projekten, Ausstellungen und Veranstaltungen geleitet und als Kunstvermittlerin für Organisationen wie The Fruitmarket Gallery in Edinburgh und The National Galleries of Scotland gearbeitet. Seit 2008 leitet sie Contemporary Art Exchange, eine kuratorische Plattform für internationale Projekte, Ausstellungen und Veranstaltungen, die professionelle Entwicklungsmöglichkeiten für aufstrebende, junge und marginalisierte Künstler*innen bietet. Im Jahr 2017 gründete Kate zusammen mit Dirk Sorge, Jovana Komnenic und Kirstin Broussard Berlinklusion, das Berliner Netzwerk für Zugänglichkeit in Kunst und Kultur, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Berliner Kunst- und Kulturszene für Künstler*innen und Publikum mit Behinderungen zugänglicher zu machen. Seit Oktober 2020 arbeitet Kate Brehme als Disability Kunst und Kultur Referentin für Diversity Arts Culture.