Handschlag mit der Realität. Gedanken zu einer Überholung des Kulturbetriebs

Fatima Çalışkan & Johanna-Yasirra Kluhs

25. Februar 2021

These 1: Die Professionalisierung von Ein-/Ausschlussverfahren ist konstitutiv für den Kulturbetrieb.

Interkultur Ruhr arbeitet im Auftrag des Regionalverbands Ruhr seit 2016 daran, freie Kulturakteur*innen zu fördern, zu vertreten und sichtbar zu machen, die sich als BiPoCs, diasporisch, migrantisch oder migrantisiert positionieren.

ODER: die aufgrund von Rassismus und damit auch häufig Klassismus diskriminiert werden.

ODER: deren Kunst- und Kulturarbeit sich bewusst in den Zusammenhang einer grundsätzlichen migrantischen Situiertheit unserer Gesellschaft stellt.

Dabei sind es nur manchmal die Akteur*innen selbst, die ihre Arbeit so verstehen. Öfter ist die Bezeichnung Interkulturelle Arbeit eine Reaktion auf die Markierung von außen. Zwar ist das Ruhrgebiet ohne Migration nicht zu denken – aber auch immer noch nicht ohne das konstruierte Migrations-Andere. Das Wir des Projekts Interkultur Ruhr ist eine Reaktion auf das von den Regelsystemen konstruierte Ihr. Denn Ausschluss wird hier zum Identitätsprinzip erklärt und manifestiert eine Nische in der ansonsten weiß dominierten Kulturlandschaft. Das zeigt sich auch in der Ausstattung des Projekts: Im Hinblick auf die Vielzahl von Akteur*innen und Formaten, stellen wir das wohl größte Feld kultureller Praxis dar, sind aber im Hinblick auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen das kleinste Projekt der Nachhaltigkeitsmaßnahmen der RUHR.2010.

Die meisten der engen Kolleg*innen leben unter kontinuierlicher Bedrohung.
Hanau. Halle. Duisburg. Solingen. Krefeld.
Vor langer Zeit, gestern, heute, morgen.
Und die, die bestellt sind, zu schützen, sind oftmals auch gefährlich.
Die institutionalisierten Kulturräume sind weiß: Angefangen von den Leitungsetagen der Häuser, den Angestellten in der Administration, den Programm- und Förderjurys, bis hin zu den etablierten Akteurinnen der Freien Szene. Hier ist der strukturelle Ausschluss und damit einhergehende permanente Vorgang von Othering und Exklusiv Alltag. Interkulturelle Arbeit im Ruhrgebiet ist also nicht zu denken, ohne dass rassistische und antisemitische Gewalt angesprochen wird.

Das betrifft auch die Erinnerung. Nach wie vor ist die Kontinuität dieser Gewalt nicht in das kollektive Gedächtnis der Region eingetragen. Wir müssen über Ungerechtigkeit reden.
Über Vorteile, Vorurteile und Versäumnisse.
Darüber, wer meistens viel bekommt.
Darüber, in welcher Kontinuität das steht.
Darüber, was es bedeutet, weiß zu sein.
Über Kolonialismus, Zwangsarbeiter*innen und Gastarbeiter*innen.
Und wer wen verwaltet.

These 2: Arbeitsrealitäten von Mikrostrukturen handeln außerhalb der Förderlogik.

Doch: Es ändert sich langsam etwas.
Wir profitieren jetzt von der Arbeit der sozialen Bewegungen, der organisierten Minderheiten der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte. Sie haben ihre Arbeit mit geringster institutioneller Unterstützung verwirklicht, ohne strukturelle Förderung und medialem Konfettiregen.

Der Wunsch und die Dringlichkeit nach künstlerischem Ausdruck, und die Selbstsorge-Notwendigkeit von Communities führen dazu, dass ohnehin prekäre Arbeitsrealitäten historisch und aktuell an den äußersten Rand der Selbstausbeutung geraten. Lokale Projekte und Mikrostrukturen erledigen grundlegende Arbeit vor Ort und Stelle. Sie verfügen über Netzwerke, für die große Institutionen ansonsten Outreach-Kurator*innen und Community-Manager*innen temporär einstellen. Und doch erleben sie selten genügend (monetäre) Entlohnung.

Denn: In der Logik bürokratisch aufgeladener Projektförderung ist dieses Tätigsein kaum abzubilden. Spontane, bedarfsorientierte Kulturarbeit dieser Gruppen kann weder sprachlich noch formal dem Regelwerk öffentlicher Förderrichtlinien entsprechen. (Beispiele und Erhebungen zum Thema unbezahlter Arbeit sind in der Dokumentation zum Förderfonds (2018, S. 16) bzw. (2019, S. 13) zu finden.)

Auch hier zeichnen sich erste Veränderungen ab: Im vergangenen Jahr haben diverse Maßnahmenpakete Stipendien zur Unterstützung der Kunst- und Kulturarbeiter*innen ausgelobt. Sie motivieren dazu, die eigene Praxis jenseits von konkreten Projekten als förderwürdig zu verstehen. Selten hat ein so breites Spektrum von Akteur*innen die gleiche Förderung erhalten. Einen Moment lang wurde kaum selektiert, sondern vergeben. Das Anliegen und der Bedarf selbst werden eher vorausgesetzt als beurteilt.

These 3: Entscheidungen sollten auf Dissens und Heterogenität basieren.

Was es jetzt braucht, ist die gleichzeitige Reformation von Regelinstrumenten und –institutionen, sowie die Stärkung der Selbstorganisationen.
Wenn das Interesse daran wirklich ernst gemeint ist, dann muss in diesen Bereichen wesentlich mehr Geld in die Hand genommen werden.
Mehr Mut gesammelt werden, sich selbst aufs Spiel zu setzen.

Wie sieht eine Kulturförderung aus, die unterschiedliche ästhetische Vorstellungen anerkennt?

Ist die Grenzziehung zwischen professionellem und amateurhaftem Kunst- und Kulturschaffen dann überhaupt noch aufrechtzuerhalten?

Wir brauchen anti-hegemoniale und kontroverse Verfahren, um über die Verteilung von Ressourcen und Jobs zu entscheiden. Das heißt: Viele sehr verschiedene Leute sollten an diesen Entscheidungen beteiligt sein.

Wir müssen die angstvolle Vorstellung davor verlieren, dass eine Praktik des Vertrauens in die Breite existierender künstlerischer Formen und Qualitätsvorstellungen im Chaos endet.

Das tut es nicht: Im Gegenteil könnte so eine Kulturlandschaft entstehen, die der Pluriversatilität der Gesellschaft entspricht, in der wir leben.

Und mal ehrlich:
Die Arbeit wird ohnehin gemacht.
Es ist jetzt an der Zeit, dass die, die über die Ressourcenverteilung entscheiden, lernen, hinzusehen und als Arbeit anerkennen, was sich vielleicht den etablierten Kategorien von Wert in der Kultur entzieht. Ankunft in der Gegenwart!
Wir müssen ein genaues Hinschauen und Zuhören organisieren.
Vielleicht sollten Fördermittel sozialräumlich vergeben werden, nicht genrespezifisch.
Vielleicht können Stadtviertel Verfahren entwickeln, wie die dort lebenden Kunst- und Kulturschaffenden die Ressourcen verteilen.
Um hier fair miteinander umzugehen, ist viel Arbeit an der Selbsteinschätzung gefragt: Diskriminierungskritische Qualifizierung und Stärkung marginalisierter Strukturen sind Schlüssel, um neu hören und sehen zu können, um eingeübte Bewertungsaffekte zu überwinden. Deswegen müssen Auswahlgremien ihre künstlerisch-ästhetischen Kriterien enger an gesellschaftliche und politische Realitäten anknüpfen.

Es ist ein guter Moment um grundsätzlich zu werden, Zögerlichkeit zu überwinden und den eigenen Standpunkt zu konsolidieren. Dazu gehört auch: Eine permanente Überprüfung der Ausschlüsse, die man selbst produziert.

Das Ziel ist: Die institutionalisierten Verhältnisse poröser zu machen und die Potenziale und Praktiken selbstverwalteter und -organisierter Arbeit zu stärken und einzubringen.

Für eine gemeinsinnige Kulturlandschaft, die Platz für Viele schafft.

Autorinnen

Foto: Nana Hülsewig

Johanna-Yasirra Kluhs
ist freie Programm- und Produktionsdramaturgin. 2016-21 ko-leitet sie mit Fabian Saavedra-Lara das Projekt Interkultur Ruhr. www.interkultur.ruhr

Foto: Rabia Çalışkan

Fatima Çalışkan
ist freie Künstlerin und Kuratorin. Sie berät u.a. Projekte für den Förderfonds Interkultur Ruhr.

Teile dieses Textes sind am einem Vortrag unter dem Titel Seid ihr okay!? beim Branchentreff des Performing Arts Programs 2020 sowie den Kulturpolitischen Handlungsempfehlungen von Interkultur Ruhr entnommen.