Hello, White Diversity!

Nuray Demir & Michael Annoff

11. März 2021

Neulich waren wir auf einer Konferenz eingeladen, auf der sich junge Mitarbeiter*innen deutscher Kulturinstitutionen über zukünftige Politik austauschten. Coronabedingt versammelten sich vier Dutzend Young Urban Professionals auf Zoom und hielten einen Zettel mit Hashtags in die Kamera, was ihnen am Herzen liegt. Fast überall stand ganz oben auf der Wunschliste: #diversität.

Wir blickten ratlos auf die Namen der Teilnahmeliste und die Gesichter im Split Screen: Eine neue Generation macht sich auf den Marsch durch die Institutionen. Aber augenscheinlich wäre kaum eine*r der Anwesenden auf eine weitere Diversifizierung der Kulturlandschaft persönlich angewiesen. In Theater, Oper, Museen und Stiftungen etablieren sich in der Programmarbeit Newcomer, die in den 1990er und 2000er Jahren aufgewachsen sind. Sie meinen, die Prinzipien einer gleichstellungsorientierten Gesellschaft mit der Muttermilch aufgesogen zu haben: Care-Arbeit soll ehrlich geteilt werden! Du musst gar nicht hetero sein! Und Deutschland ist selbstverständlich ein Einwanderungsland!

Diversität als weiße Ressource

Seit rund 20 Jahren initiiert die deutsche Mehrheitsgesellschaft neue Prozesse von Gleichstellung. Marginalisierte Gruppen werden heutzutage scheinbar in die Dominanzkultur integriert statt ausgegrenzt. Die bereits gestarteten Diversitätsprogramme in der Kultur sind Teil dieser Entwicklung. Als profilgebende Agenda hat Diversitätskompetenz aber bisher strukturell wenig erreicht. Sie dient in erster Linie als Ressource bei der beruflichen Etablierung eher privilegierter Menschen, die selbst massiv von struktureller Diskriminierung profitiert haben: Aussortierung auf dem Gymnasium, Benefits wie das Jahr an der High School, Studium ohne Rentabilitätserwartung, familiärer Support bei prekären Lücken und miesen Einstiegsgehältern. Wenn das so weitergeht, werden auch die Entscheidungsträger*innen der kommenden zwanzig Jahre in der überwältigenden Mehrheit weiß, obere Mittelschicht und ein bisschen linksliberal sein.

Was die Angehörigen der Dominanzkultur als Fortschritt erleben, ist für die tatsächlich von Diskriminierung betroffenen Menschen in Deutschland nur eine weitere Mutation jahrzehntelanger Ignoranz. Auch der neuen Generation fehlt das Bewusstsein für die Ambivalenz von Diversity Management, wie sie in den USA seit den 1990er Jahren in der Arbeit feministischer Theoretiker*innen of Color seit der Entstehung des Konzepts kritisiert wurde. Schon vor 20 Jahren argumentierten etwa Chandra Talpade Mohanty[1] und Nirmal Puwar[2], dass Diversität vorgibt, einen blühenden Pluralismus zu fördern, obwohl sie die Kontinuität sexistischer und rassistischer Diskriminierung nur verschleiert. Daran anknüpfend fragte Sara Ahmed 2012[3], ob Reformen nicht neben Diversität auch andere kritischere Begriffe aufgreifen müssten, etwa Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit.

Die Neue Kulturpolitik hat einen rassistischen Bias

Der Stand der Debatte zur Diversifizierung der Kultur diagnostiziert häufig, dass das Problem inzwischen begriffen worden wäre und Diversität auf der Ebene der Repräsentation im Kulturprogramm immer mehr erreicht würde. Was fehle, sei jetzt eine Arbeit an den Strukturen! Zentrales Argument hierfür ist das Teilhabemodell der nunmehr 50 Jahre alten Neuen Kulturpolitik, die mit Hilmar Hoffmann als »Kultur für alle«[4] zusammengefasst wird. Wer Hoffmanns Standardwerk noch einmal liest, wird feststellen, dass die Neue Kulturpolitik aber letztendlich eine Reaktion darauf war, den sich entgrenzenden Künsten institutionelle Rahmenbedingungen zu geben. Die Neue Kulturpolitik war mit einer Pluralisierung und Zunahme der Kulturinstitutionen verbunden: dem Museumsboom, der Entstehung von Freiem Theater und Performance, der Etablierung und Professionalisierung von Kultureller Bildung, Vermittlung und Soziokultur, um nur einige zu nennen.

Ist es nicht komisch, dass all diese Strukturen sich gegenwärtig unter Berufung auf »Kultur für alle« transformieren und öffnen möchten? Denn bereits in den 1970ern war Deutschland Einwanderungsland, auch wenn die Bundesrepublik es weitere 30 Jahre nicht wahrhaben wollte. Der Wohlstand der Bundesrepublik, der die Neue Kulturpolitik finanziert hat, wurde nicht zuletzt von sogenannten Gastarbeiter*innen erwirtschaftet. Es ging aber bei der Neuen Kulturpolitik in erster Linie um eine symbolische Entgrenzung der Kunst und die kulturpolitische Reaktion darauf, die nicht identisch mit einer tatsächlichen sozialen Grenzverschiebung der Teilhabe an Kulturproduktion war. Über Einwanderung nach Deutschland, die (West-)Deutschland bereits über 20 Jahre lang grundlegend verändert hatte, verlor der damalige Kulturreferent von Frankfurt am Main 1979 kein Wort. Im achtseitigen Kapitel »Kultur für Minderheiten« geht es stattdessen um Alkoholkranke und ehemalige Strafgefangene…

1977 schrieb der Unterabteilungsleiter für Sozialpolitik der damaligen sozialliberalen Bundesregierung, Wolfgang Bodenbender, in seiner »Zwischenbilanz der Ausländerpolitik« hingegen: »Die ausländischen Arbeitnehmer zahlten in diesem Zeitraum erhebliche Steuern, ohne in entsprechendem Umfang öffentliche Leistungen  – vor allem im Hinblick auf die soziale Infrastruktur – in Anspruch zu nehmen.«[5]

Wenn auch heute unter dem Stichwort Diversität die wiederholte Öffnung der Institutionen behauptet wird, setzt das einen dominanzkulturellen Irrtum der bundesrepublikanischen Kulturpolitik weiter fort, der Teil des Problems und nicht der Lösung ist. Die Annahme, dass Kulturinstitutionen für migrantisierte Menschen nur geöffnet werden müssten, ist ein rassistischer Bias. Millionen migrantisierter Menschen haben längst schon vor der Gründung vieler Kulturinstitutionen in Deutschland gelebt. Mehr noch: Sie haben sie bezahlt.

Immer doppelte Arbeit

Während die Akteur*innen der Dominanzkultur ihre Wirkungsstätten durch die Neue Kulturpolitik ausweiten konnten, mussten migrantisierte Kulturproduzent*innen ihre Räume oftmals nach Feierabend erkämpfen: mit Vereinsgründungen, in der Stadtteilarbeit, mithilfe der Communities und erst langsam ab Mitte der 1980er Jahre mithilfe der Kulturpolitik. Allerdings nur um, bis heute nicht selten, als Soziokultur oder Folklore abgewertet zu werden. Migrantisierte Kulturarbeit ist immer doppelte Arbeit gewesen: Sie muss nicht nur kreativ sein und Projekte umsetzen, sondern zugleich erst die Strukturen aufbauen, in denen sie sich entfalten kann.

Diversität erneuert das leere Versprechen der Neuen Kulturpolitik und der anschließenden Multikulturalismus-Debatte der 1990er Jahre, dass Kultur für alle da wäre. Die Behauptung von interkultureller Öffnung und Diversifizierung der Strukturen ist die Held*innenerzählung von Insider*innen, die die Tore der Institutionen für die Ausgeschlossenen aufreißen. Die Geschichte der Outsider*innen vor den Mauern tradierter öffentlicher Kulturförderungen ist in der deutschen weißen Akademie noch gar nicht erzählt worden. Was vielen als größter Fortschritt der Neuen Kulturpolitik gilt, ist daher wahrscheinlich ihr größter Selbstbetrug: Aus dem Vorsatz weißer Institutionen, sich interkulturell oder jetzt: divers zu öffnen, muss das Eingeständnis werden, jahrzehntelang rassistisch ausgeschlossen zu haben.

Was heißt das für die Generation, die #diversität in die Kamera hält, wenn Sie nicht den rassistischen Bias ihrer Vorgänger*innen wiederholen will?

Es wird nun darum gehen, die öffentlichen Ressourcen der Kulturproduktion chancengerecht umzuverteilen. Denn in der Etablierung im Berufsleben manifestieren sich drei- bis dreieinhalb Jahrzehnte Ungleichheit in rassistischen, klassistischen, ableistischen und patriarchalen Strukturen.

Wann werden von Diskriminierung betroffene Kulturschaffende nicht mehr wie eine Reservearmee hin- und hergeschoben? Wer kriegt (häufiger) die festen Stellen, wer bleibt (häufiger) in prekärer Projektarbeit stecken? Wer schafft es in die Positionen, in denen sich Strukturen verändern lassen, die die Babyboomer*innen nach und nach räumen? Wann wird Diversifizierung nicht nur mit Blick auf Theaterprogramme und Ausstellungsdisplays diskutiert, sondern auch anhand von Stellenentwicklungsplänen und Quotenregelungen?

Diversifizierung ist keine Party, auf der man den Zuspätgekommenen noch einen Klappstuhl dazustellt. Stattdessen müssen wir diskutieren, wem der chancengerechte Zugang zu Kulturproduktion als Teil demokratischer Rechte vorenthalten wurde und wird. #keinstueckvomkuchen #dieganzebaeckerei


[1] Mohanty, Chandra Talpade (2003): Feminism without Borders: Decolonizing Theory, Practicing Solidarity. Durham/ London: Duke University Press.

[2] Puwar, Nirmal (2004): Space Invaders: Race, Gender and Bodies out of Place. Oxford: Berg.

[3] Ahmed, Sara (2012): On Being Included. Racism and Diversity in Institutional Life. Durham/ London: Duke University Press.

[4] Hoffmann, Hilmar (1979): Kultur für alle. Perspektiven und Modelle. Frankfurt am Main: S.Fischer.

[5] Bodenbender, Wolfgang (1977): »Zwischenbilanz der Ausländerpolitik«, in: Klaus Ronneberger (Hrsg.): Türkische Kinder in Deutschland: Referate und Ergebnisse des Seminars der Südosteuropa-Gesellschaft über Bildungsprobleme und Zukunftserwartungen der Kinder türkischer Gastarbeiter, 15. – 17. November 1976. Südosteuropa-Studien 26/ Nürnberger Forschungsberichte 9. Nürnberg: Nürnberger Forschungsvereinigung, S. 25-47.

Autor*innen

Foto: Albina Maks

Michael Annoff arbeitet ethnografisch, kuratorisch und vermittelnd. Seit 2016 akademische Mitarbeit für Kultur & Vermittlung im Studiengang Kulturarbeit der FH Potsdam. Zuvor an der Graduiertenschule im Studium General der UdK Berlin tätig.

Nuray Demir arbeitet künstlerisch, kuratorisch und choreographisch. Projekte auf Kampnagel, am HAU Hebbel am Ufer, in den Sophiensälen und den Wiener Festwochen. Seit 2019 ist sie Teil der künstlerischen Leitung von District*Schule ohne Zentrum.

Seit 2018 entwickeln Michael Annoff und Nuray Demir »Kein schöner Archiv«. Es dokumentiert das immaterielle Erbe der postmigrantischen Gesellschaft, unter anderem in Kooperation mit dem FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum, HAU Hebbel am Ufer und dem Haus der Kulturen der Welt:

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