Wie Kulturpolitik antirassistisch(er) handeln kann!

Melmun Bajarchuu und Mona Louisa-Melinka Hempel – Initiative für Solidarität am Theater

18. März 2021

Die Initiative für Solidarität am Theater (ISaT) gründete sich 2017 aus dem Bedürfnis heraus, bestehende Ungleichverhältnisse und hierarchische Machtstrukturen im Theaterkontext anzusprechen und gemeinsam zu bekämpfen. Die ISaT versteht sich als ein intersektionales[1] Bündnis, das zum Ziel hat, strukturelle Ausschlussmechanismen zu identifizieren, Räume für Austausch, auch über Disziplingrenzen hinaus, zu schaffen und dadurch der vielfach gemachten Erfahrung von Vereinzelung entgegenzutreten.

Dabei ist das zentrale Anliegen die Thematisierung von Mehrfachdiskriminierungen im Theaterbereich, sowohl in der Freien Szene wie im Stadt- und Staatstheater. So möchten wir die zumeist getrennt voneinander geführten Debatten der letzten Jahre, u.a. #metoo oder #BlackLivesMatter, als zusammenhängende Symptome einer strukturell ungleichen Gesellschaft betrachten. Als besonders hilfreich erscheint uns die Betrachtung gegenwärtiger Diskriminierungsformen im Kulturbereich vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Wir sehen hier keine lineare Entwicklung, sondern vielmehr ein komplexes Knäuel an Verstrickungen.

Wie hat sich die Kunst- und Kulturpraxis in Deutschland entwickelt?

Entlang welcher Linien, mit welchen Verästelungen und basierend auf welchen Werten und Erzählungen?

Im musealen Kontext finden vermehrt Restitutionsdebatten statt und in den Bildenden Künsten werden zunehmend Fragen von Aneignung und Zuschreibungen gestellt. In unserer Arbeit in den Darstellenden Künsten beschäftigen wir uns mit kolonialen Kontinuitäten[2], die sich im ästhetischen Verständnis, Erzähltraditionen, Körperbildern und anderem zeigen.

Für uns stellen die meist separat geführten Debatten um Rassismus, Sexismus, Ableismus und Audismus, Transfeindlichkeit et cetera die rein fragmentarische Auseinandersetzung mit einem eigentlich zusammenhängenden Problem[3] dar, nämlich dem kolonialen Erbe, das sich im Kulturbereich in der Ausbildungs-, Arbeits- und Kurationspraxis zeigt. Hier werden koloniale Praktiken auch im Ästhetischen fortgeschrieben: Menschen in privilegierten Positionen entscheiden, wer am Kunstproduktionsprozess beteiligt ist und in welcher Funktion. Sie entscheiden, welche Themen behandelt werden und auf welche Weise das geschieht, mit welchen Mitteln, und an wen sich die Ergebnisse richten.

Wenn wir uns also mit antirassistischem Handeln befassen wollen, müssen wir überlegen, wo rassistisches Denken seinen Anfang nahm: Im nationalistischen Denken, das Menschen aufgrund einer vermeintlichen Herkunft bestimmte Wertigkeiten und Fähigkeiten zuschreibt und ausgrenzt. Antirassistisch handeln heißt daher, nationalistischen Denkweisen, Zuschreibungen und Ausgrenzungen kritisch zu begegnen.

Koloniale Bestrebungen funktionierten über nationalistisches und rassistisches Denken: Ziel war die Beherrschung anderer Menschen, die aufgrund konstruierter Merkmale[4] und vorurteilsbehafteter Behauptungen als weniger wert angesehen wurden und denen die Möglichkeit, eigene Entscheidungen für ihre Lebensgestaltung vorzunehmen, genommen wurde.

Koloniale Herrschaft funktionierte auch über die Separierung marginalisierter Gruppen

Eine Solidarisierung von unterdrückten Gruppen wurde verhindert, damit sie nicht gemeinsam gegen die Herrschenden rebellieren. Diese Teile- und Herrsche-Praxis wird im kulturellen Bereich oft reproduziert. Wir meinen damit: Anstatt sich der strukturellen Ungleichheitsbedingungen anzunehmen und diskriminierende Ausgangssituationen zu verändern, fördern kulturpolitische Akteur*innen und Kulturinstitutionen einzelne Positivbeispiele, die sie als Tokens[5] in den Kulturbetrieb integrieren.

Oder es werden Positionen ohne direkten Bezug zu Deutschland eingeladen, die das Andere darstellen sollen. Dadurch wird die eigene koloniale Geschichte nicht aufgearbeitet und gleichzeitig werden die diversen lokalen und regionalen Stimmen vor Ort mit pluralen deutschen Hintergründen außer Acht gelassen.

Um diese Dynamiken zu überwinden, muss die Sichtbarkeit von marginalisierten Personen, von Menschen, die Mehrfachdiskriminierungen erfahren, in den kulturpolitischen Strukturen verankert werden. Eine fortlaufende Präsenz von Menschen mit Marginalisierungserfahrungen muss gewährleistet werden – auch über kulturpolitische Trends hinaus. Wenn sich marginalisierte Personen durch die Erzählung von einem Ressourcenmangel (z.B. bei der Kulturförderung) gegeneinander ausgespielt werden beziehungsweise sich gegeneinander ausspielen lassen, erfüllen sie die ihnen zugedachte Objektposition.

Es gibt nicht DIE Kulturpolitik

Aus unserer Perspektive können wir durch unsere Handlungen alle kulturpolitische Akteur*innen sein oder werden. Kulturpolitik entsteht, wenn sich Menschen mit spezifischem Wissens- und Erfahrungshintergründen kulturpolitisch engagieren beziehungsweise kulturpolitische Verantwortungspositionen übernehmen. Von denjenigen, die (temporär) Entscheidungsgewalt über Strukturen und Finanzen haben respektive eine diskursiv machtvolle Position bekleiden, wünschen wir uns folgende Maßnahmen beziehungsweise Berücksichtigung folgender Aspekte, um Transformationsprozesse im Kulturbereich machtkritisch, diskriminierungssensibel und diversitätsorientiert gestalten zu können:

Echte Teilhabe ermöglichen

Das bedeutet: Zugänge schaffen und Handlungsmöglichkeiten geben. Können Menschen, die Marginalisierung(en) erfahren, Verantwortung übernehmen? Wird ihnen der Raum gegeben, zu scheitern und es erneut zu versuchen? Gegebenenfalls erneut zu scheitern?

Unterschiedliche Formen von Wissens- und Kunstproduktion anerkennen

Das umfasst auch das Zulassen unterschiedlicher Auffassungen von Ästhetik sowie einen kritischen Blick auf vermeintlich allgemeingültige Gütestandards und einen hegemonialen Qualitätsbegriff. In diesem Kontext bedeutet das auch: Singuläre Erzählungen vermeiden. Marginalisierte Menschen nicht auf einfache Identitätsmarker wie »migrantisch«, »Schwarz«, »mit Fluchterfahrung« reduzieren, sondern ihre komplexen Biografien wertschätzen.

Differenziert auf Arbeitsbedingungen schauen

Zentral ist hier die Frage nach Zugängen zum Kulturbereich: Welche Voraussetzungen müssen Akteur*innen erfüllen, um teilhaben und mitgestalten zu können? Wer kann es sich leisten und wünscht sich überhaupt, unter prekären Bedingungen zu arbeiten? Warum werden Ergebnisse und nicht Prozesse hervorgehoben? Welche Instrumente stehen für Konfliktlösung und die Thematisierung von Ausgrenzung und Diskriminierung zur Verfügung?

Den eigenen Handlungsspielraum nutzen

Das bedeutet: Ausschreibungstexte inklusiv gestalten, Anforderungen reflektieren, Jurybesetzungen diverser gestalten und alle Mitarbeitenden, auch in der Verwaltung, regelmäßig schulen. Altbewährtes infrage stellen. Formate überdenken und die Diversifizierung des eigenen Personals über einen längeren Zeitraum planen, begleiten und auswerten.

Eigene Privilegien reflektieren

Dazu gehört auch, die eigenen Ressourcen ehrlich und kritisch zu benennen. Zugänge schaffen für andere, Privilegien teilen beziehungsweise auf diese verzichten und dadurch die kulturelle Teilhabe für einen größeren Anteil der Bevölkerung ermöglichen.

Dekoloniale Praktiken entwickeln

Darunter verstehen wir auch eine Entschleunigung von Arbeitsprozessen, gegenseitige Wertschätzung und den Abbau von Konkurrenzdruck. Zudem müssen Künstler*innen die kapitalistische Verwertungslogik und die Praxis der Hyperindividualisierung, die auch den Kulturbereich auszeichnet, in einem selbstkritischen Prozess reflektieren: Wo werden Positionen und Arbeitsschritte unsichtbar gemacht und tragen somit zu Ungleichheit und Ausbeutung bei?

Also: Wie kann Kulturpolitik antirassistischer handeln?

Durch die Unterstützung und Förderung unterschiedlicher und bislang weniger vertretener Perspektiven. Durch Öffnungsprozesse und Schaffung von Zugängen, damit kulturpolitische Entscheidungsträger*innen und einflussreiche Positionen im Kulturbereich diverser besetzt werden und differenzierte Haltungen einnehmen können. Durch Infragestellung bisheriger Praktiken und die Entwicklung von neuen, die historische Verantwortung übernehmen. Durch diese Veränderungen wird Kulturpolitik nicht nur gleichberechtigter, sondern kann auch die Pluralität unserer Gesellschaft(en) auch in Theater und Kulturlandschaft zum Ausdruck kommen.


[1] In diesem Text finden sich einige Begriffe, die wir in unserer Arbeit und Kommunikation regelmäßig gebrauchen. Als einen Orientierungsrahmen schlagen wir das Glossar Was tun? Sprachhandeln – aber wie? der AG Feministisch Sprachhandeln vor.

[2] Für eine tiefer gehende Beschäftigung mit dem Themenbereich empfehlen wir wärmstens: Ha ,Kien Nghi / al-Samarai, Nicola Lauré / Mysorekar,Sheila (Hrsg.) (2016): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland, Münster: UNRAST6.

[3] Zur vertiefenden Auseinandersetzung verweisen wir auf ein Interview mit Asha Rajashekhar, das 2020 in der Deutschen Gehörlosenzeitung erschienen ist.

[4] Zu Rassismus und seiner Funktionsweise in der Gesellschaft vgl. Auma (Eggers), Maureen Maisha (2017): »Rassismus«, Bundeszentrale für politische Bildung, Dossier Migration, online.

[5] Es gibt keine direkte Übersetzung ins Deutsche, daher hier die Verlinkung zu einem Artikel, in dem sich die Journalistin Azadê Peşmen damit befasst, erschienen im Missy Magazine.

Autorinnen

Die INITIATIVE für SOLIDARITÄT am THEATER (ISaT) gründete sich 2017 aus der Notwendigkeit heraus, fortwährenden Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen im Theaterbereich entgegenzutreten. Die Kolleg*innen, Verbündete und Freund*innen wollten sich eindeutig gegen die Ansicht positionieren, bei diskriminierenden Vorfällen handele es sich immer um Einzelfälle und persönliche Betroffenheit. Sie engagieren sich dafür, die zugrundeliegenden ungleichen Strukturen sichtbar zu machen und machtkritische, diskriminierungssensible und diversitätsorientierte Transformationsprozesse anzustoßen. Dabei ist es ein zentrales Anliegen, Arbeitszusammenhänge und vor allem Arbeitsbeziehungen in den Darstellenden Künsten neu zu denken und neue Räume für Aushandlungen sowie neue Strategien für einen kollaborativeren Umgang zu generieren. Ziel der ISaT ist auch eine höhere Präsenz von unter- respektive fehlrepräsentierten Menschen in den Darstellenden Künsten und letztendlich ein angstfreier Theater-Raum.

Foto: privat

Melmun Bajarchuu

bewegt sich in den Grenzbereichen von Kunst, Theorie und Politik als Denkerin, Diskurspartnerin, Dramaturgin und künstlerische Produktionsleiterin mit besonderem Interesse an poststrukturalistischen, postkolonialen und queerfeministischen Themen und Positionen. Daneben forscht sie zu mikropolitischen Widerstandspraktiken in den Darstellenden Künsten, Erinnerungspolitiken und Wissensproduktion aus marginalisierten Perspektiven und engagiert sich in der Initiative für Solidarität am Theater (ISaT). (Künstlerische) Zusammenarbeit mit Forscher*innen, Theatermacher*innen, Künstler*innen im Bereich Performance, Zeitgenössischer Tanz und Neuer Zirkus. Sie studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in Hamburg und arbeitet als Produktionsleiterin und Beauftragte für diskriminierungssensible Transformationsprozesse an den Sophiensælen in Berlin und ist Peer-to-Peer Beraterin im Bereich Antidiskriminierung beim Performing Arts Programm Berlin (PAP).

Foto: me

Mona Louisa-Melinka Hempel

(Deutschland/Chile) ist freischaffende Choreografin, Tänzerin und Performerin für bewegungsbasierte Stücke, basierend auf Identifikation, Identität, südamerikanischem Feminismus, Dekolonisation und der Umstürzung des klassischen Kanons. Sie arbeitet ebenfalls im Bereich Dramaturgie, Installation und als Teil der Initiative für Solidarität am Theater.


Die INITIATIVE für SOLIDARITÄT am THEATER (ISaT) gründete sich 2017 aus der Notwendigkeit heraus, fortwährenden Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen im Theaterbereich entgegenzutreten. Die Kolleg*innen, Verbündete und Freund*innen wollten sich eindeutig gegen die Ansicht positionieren, bei diskriminierenden Vorfällen handele es sich immer um Einzelfälle und persönliche Betroffenheit. Sie engagieren sich dafür, die zugrundeliegenden ungleichen Strukturen sichtbar zu machen und machtkritische, diskriminierungssensible und diversitätsorientierte Transformationsprozesse anzustoßen. Dabei ist es ein zentrales Anliegen, Arbeitszusammenhänge und vor allem Arbeitsbeziehungen in den Darstellenden Künsten neu zu denken und neue Räume für Aushandlungen sowie neue Strategien für einen kollaborativeren Umgang zu generieren. Ziel der ISaT ist auch eine höhere Präsenz von unter- respektive fehlrepräsentierten Menschen in den Darstellenden Künsten und letztendlich ein angstfreier Theater-Raum.