Aufbruch : Vertrauen

Uta Atzpodien

30. März 2021

#neue Relevanz trägt zum Aufbruch bei. Quo vadis-Fragen à la »Wie geht es weiter?« oder »Wie möchten wir leben und arbeiten?« sind mir nicht nur in Kunst, Kultur und Politik zu stetigen Begleiterinnen geworden. Eng verbinde ich sie mit dem Leben in Wuppertal, jener Stadt, in der ich seit 2006 lebe. Der Aufbruch wurde ihr schon in die Wiege gelegt, vor und selbst mit Corona: Hier pulsiert er als Stimmung und hatte schon immer viel mit Engagement zu tun. Dazu passen die viel zitierten Worte: »Am schwärzesten Fluss der Welt, der Wupper, lernt man erkennen, welche Menschen leuchten«, die häufig der Wuppertaler Lyrikerin Else Lasker-Schüler zugeordnet werden, nach jüngsten Recherchen vom Theologen Rudolf Bohrer stammen. Diese Zeilen verweisen auf jene Resilienz, wie wir sie als Kunst- und Kulturschaffende gut kennen und wie sie aktuell für alle Menschen immer relevanter werden. Resilienz und Aufbruch: Beide brauchen Vertrauen.

Seit etwa einem Jahr stellt uns die Pandemie vor vielseitige, unerwartete und alles andere als übersichtliche Herausforderungen. Nach dem Erschrecken über die Krise und ihren unüberschaubaren Umfang kam bald die Frage auf, ob sie auch Chance sein könnte. Spätestens diese einschneidende Zäsur lädt uns ein, zum Innehalten, zur Selbstreflexion und zum Umdenken. Mit dem Fokus auf Kulturpolitik und Transformation trägt das Kaleidoskop der Blogreihe #neueRelevanz inspirierend dazu bei, der Stimmenvielfalt und ganz pragmatisch den Hürden und weiterbringenden Perspektiven einen Raum zu öffnen.

Genau dieser vielfältige Wissenstransfer und die weitere Vernetzung unterstützen uns dabei, konstruktiv und sportlich selbstbewusst, wie Katrin Lechler es gefordert hat, um mit der aktuellen Situation umgehen zu können. Klug vorausschauend beschreibt sie, wie existenzbedroht die kulturelle Infrastruktur unter dem Corona-Brennglas dasteht und wie es damit in den Haushalten (ganz besonders in den kommunalen) umzugehen heißt. Ja, mit »Klauen und Zähnen« gilt es, sie zu verteidigen, die dringend wertzuschätzenden und zu würdigenden Potenziale, die in Kunst, Kultur und meiner Ansicht nach auch in der Natur stecken. »Vorausschauendes Handeln« und »lokale Erkenntnisprozesse« sind gefragt. Und so verankere ich mich in meinem ›Quo vadis‹ für #neueRelevanz im Lokalen, in meiner Heimat Wuppertal, einer Stadt im Aufbruch.

Austausch und Aufbruch

Austausch prägt meine Arbeit als freie Dramaturgin. Austausch hat mich in vielfältigen Formationen – überwiegend digital – in und über Wuppertal hinaus durch das letzte Jahr begleitet: So ist gemeinschaftlich der EinTopf – Solidarfonds für Kunstschaffende entstanden oder ist die Sommerakademie für klimagerechte Kulturpolitik der KuPoGe durch verschiedene Orte der Stadt gewandert. Unter der Frageperspektive »Von der Zukunft her?« lud bei letzterer die Kulturwissenschaftlerin und Pionierin im Feld von Ästhetik und Nachhaltigkeit Hildegard Kurt mit einem Zwischenruf dazu ein, sich dem »Vernehmen« zuzuwenden, als eine Abkehr vom Modus des »Verfügens« (nach dem Soziologen Hartmut Rosa). Wie kann eine solche Empfänglichkeit, ein solches Zuhören im Alltag aussehen?

Einen erfrischenden Ausgleich zum Homeoffice und zu stundenlangen digitalen Konferenzen finde ich aktuell in einem In-Bewegung-Sein, einem Lauftreffen zu zweit, jeweils mit Kolleg*innen aus Kunst und Kultur: Dann geht es entweder über einen Waldhügel mitten im Stadtgebiet oder über die Wuppertaler Nordbahntrasse. Letztere ist Zeugnis für ein faszinierendes bürgerliches Engagement, aus dem heraus seit 2010 mit viel Elan und zehn Millionen Euro eine alte Bahntrasse zu einer vielgenutzten Bewegungsstrecke quer durch fast alle Stadtteile ausgebaut wurde. Wie auf einer Perlenschnur reihen sich heute soziokulturelle Projekte und Institutionen an der Trasse auf. Ganz wesentlich ist sie zum Symbol für eine spürbare Aufbruchsstimmung des städtischen Miteinanders geworden.

Resilienz

Über das gegenseitige Zuhören kristallisierte sich »Resilienz« beim Laufen als Thema heraus, mit dem ich mich aus eigener Erfahrung auskenne und das mich bewegt. Der als solcher gut nachvollziehbare Konjunkturbegriff lässt sich auf das lateinische ›resilire‹ (zurückspringen, abprallen) zurückführen. Zieht man das empfohlene aktuelle Philosophie Magazin der Philosophin Svenja Flaßpöhler zu Rate, zeigt sich, dass Resilienz in der Physik die Eigenschaft von Körpern bezeichnet, die nach Verformung durch Außenstörung wieder in den Ausgangszustand zurückzukehren. Widerstandsfähig auf Krisen und auf nachhaltige Belastungen reagieren zu können, sind Eigenschaften, die zentral für eine gesellschaftliche Stabilität sind.

Als freie Kulturschaffende wissen wir gut, dass mit Verlusterfahrungen zugleich ein Wandel einhergeht. Ganz passend zur eigenen Situation als freie Kunstschaffende ist auch das im Magazin von Andreas Reckwitz skizzierte Bild vom Zusammenwirken von Stand- und Spielbein. Es hilft, bei aller Verlustprävention nicht das Spektrum der Möglichkeiten zu vergessen, welches der Kunst mit ihrem kreativen Reflexions- und Entfaltungsraum ganz besonders innewohnt. Seit der Antike unterstützen uns Figuren wie der aus der Asche auferstandene Phoenix oder die Hydra mit ihren nachwachsenden Köpfen darin, Erschütterungen als möglichst innovativ, kreativ und eben transformativ wahrzunehmen. Wie kann nach dem leidvollen letzten Jahr ein Aufbruch (kulturpolitisch) aussehen?

Sicherheit, Freiheit und Vertrauen

Als eine Kollegin und ich gerade durch einen der vielen Tunnel der Nordbahntrasse liefen, kamen wir auf eine im Januar gesendete Folge des Philosophischen Radios (WDR) zu sprechen. Der Moderator Jürgen Wiebicke hatte zum Thema »Vereinbar? Freiheit versus Sicherheit« den Philosophen Christoph Quarch geladen. Dessen These: Mitten in der Corona-Pandemie wird das Verlangen nach Sicherheit und Freiheit ebenso intensiv wie unerfüllbar; beide Zustände sind unerreichbar. Beide flankieren ein extrem geladenes Spannungsfeld. Beide sind zugleich Jahrhunderte alte Bedürfnisse unserer modernen Gesellschaft, wie Quarch prägnant historisch aufrollte. Zuhörer*innenbeiträge kamen auf Vertrauen als wesentliche Kategorie jenseits des Spannungsfeldes von Sicherheit und Freiheit zu sprechen, auf Zugehörigkeit und Verbundenheit. Beim erneuten Zuhören prägte sich mir eine weitere Schlussfolgerung des Gesprächs ein: dass sich wohl das Wesentliche zukunftsweisend in Zwischenräumen abspielt, über Begegnungen, Interaktionen und Kooperationen, wie sie Kunst und Kultur auszeichnen.

In unserer sicher unsicheren Zeit brauchen wir eine (Kultur-)Politik, die erkennt und mehr denn je fördert, dass sich gesellschaftlich so zentrale Werte wie Vertrauen und Zugehörigkeit entwickeln können. Begegnungen und Interaktionen entstehen wesentlich über Kunst und Kultur (und Natur). Genau solche Möglichkeitsräume müssen bewahrt, ausgebaut und entwickelt werden. Lokal hat dies letztes Jahr die Stadtlandkarte »Zukunftslabor Kunst & Stadt. Versuchsanordnung I« mit ihren 13 Beispielorten aus Kunst und Kultur prägnant greifbar gemacht. Genau an solchen Orten setzt die notwendige gesellschaftliche Transformation an. Hier wird Vertrauen aufgebaut.

Transformation

In Wuppertal ist der aktuell häufig benannte Begriff Transformation vielseitig und eigenartig verankert, schon in der Geschichte, über Friedrich Engels oder die Frühindustrialisierung. Das Stadtbild prägt die Schwebebahn, eine verwirklichte Utopie und Wahrzeichen des Fortschritts. Über künstlerische Impulse, über Künstler*innen wie Pina Bausch mit dem Tanztheater Wuppertal, Peter Kowald und andere eigenwillige Pionier*innen wurden Veränderungen eingeleitet, Impulse gesetzt, die Kunst und Kultur weltweit prägen und bis heute den Charme der etwas seltsamen langgestreckten Stadt ausmachen. Aktuell ist neben vielen anderen Utopiastadt als »andauernder Gesellschaftskongress mit Ambition und Wirkung« im alten Mirker Bahnhof ein Beispiel par excellence für transformative Stadtgestaltung.

Vor über zwei Jahren erschien »Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels« von Prof. Dr. Uwe Schneidewind, dem langjährigen Leiter des 1990 eröffneten, weltweit einflussreichen Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Seit November 2020 ist er neuer Oberbürgermeister der Stadt. In seinem Buch erklärt er Wuppertal zur Modellstadt für gesellschaftliche Transformation und betont mit seinem Begriff der »Zukunftskunst« das Potential des Gestaltens in Prozessen gesellschaftlichen Wandels. Seit über 100 Tagen ist er nun Oberbürgermeister, angekommen mitten in der Kommunalpolitik und im – teils wenig Vertrauen spendenden – kommunalpolitischen Gerangel. Sein Zukunftsprogramm#Fokus_Wuppertal hat er kürzlich lanciert und appelliert dabei an das Vertrauen.

Für die anfangs erwähnten »lokalen Erkenntnisprozesse« bleibt spannend, wie sich Transformation ganz konkret weiter ausgestalten wird. Mit »100 Tage Stillstand« zeigt sich die Opposition ungeduldig. Spannend bleibt, was sich mit den begonnenen Transformationen in der Stadtverwaltung entwickelt. Nach »100 Tagen Einsamkeit« für Kunst und Kultur, wie es kürzlich bei Deutschlandfunk Kultur hieß, sei es allerorts oder eben in Wuppertal, ist nun aus kulturpolitischer Perspektive spannend, wie ein ›Quo vadis‹ hier aussehen und gestaltet werden kann. Für alle gilt: Wie sieht es mit Stand- und Spielbein aus, mit Sicherheit und Freiheit, mit dem Zuhören, Vertrauen und jenen so zukunftsweisenden Begegnungs- und Zwischenräumen? Was braucht es ganz konkret? Wie kann zukunftsweisendes Handeln aussehen, konkret in zukünftigen kommunalen Haushalten?

Quo vadis Kunst und Kultur?

Lokal als Start: Vor fast vier Jahren gründete sich in Wuppertal »)) freies netz werk )) KULTUR«. Einen Monat nach den Landtagswahlen in NRW fand der erste Jour fixe einer damals beginnenden Veranstaltungs- und Austauschreihe in der Utopiastadt an der Nordbahntrasse statt. Der aufschlussreiche Input vom kulturpolitischen Reporter Peter Grabowski klingt mit dem Zitat und Appell »Demokratie ist keine Zuschauerveranstaltung« noch aktiv nach. Einiges hat sich seither getan. Im letzten Spätsommer wurden mitten im NRW-Kommunalwahlkampf im multikulturellen Café ADA / INSEL e.V. die Oberbürgermeister-Kandidat*innen der Stadt zu Themen von Kunst und Kultur befragt, eingeladen von Zusammenschlüssen städtischer Kunst- und Kulturakteur*innen, von fnwK und EinTopf – Solidarfonds für Kunstschaffende.

So wie es die Pandemie im spätsommerlichen Lockdown-Fenster zuließ, fanden sich Vertreter*innen aus Kunst & Kultur, Verwaltung, Politik und Presse zusammen oder nahmen über das Streamingportal Stew.one teil. Als eine Art Sprungbrett für die lokale »Kunst befragt Politik«-Runde gab es eine NRW-weite Aktion vom Landesbüro Freie Darstellende Künste, die OB-Kandidat*innen aus verschiedenen Städten NRW bat, sich über kurze Statements deutlich zur Kunst- und Kulturszene, zu ihren Themen und ihrer Relevanz zu positionieren. Noch heute sind die Clips über Kunstvorort.nrw online und wie das ›Quo vadis‹-Graphic Recording (das demnächst in die neue OB-Amtsstube wandern wird) Zeugnisse von dynamischen und lebendigen Austauschprozessen. Genau diese sind im Spannungsfeld von Kunst, Kultur, Verwaltung und Politik notwendig, um Fragen und Themen auszuhandeln und Impulse für aussagekräftige und zukunftsweisende Prozesse setzen zu können. So kann Vertrauen wachsen.

Bundesweit ist die Aktion 40.000 seit einigen Jahren mit Gesprächen zwischen Kunstschaffenden und Politiker*innen unterwegs. Um nicht in der eigenen Bubble zu verharren, macht es Sinn, die Dialoge nicht nur mit Kulturpolitiker*innen zu führen, die sich meist gut auskennen, sondern mit Politiker*innen aller Ressorts. Auch hier entstehen Verständnis und Vertrauen, um möglichst konstruktiv die Relevanz von Kunst & Kultur und Arbeitsrealitäten in die Haushalte zu tragen, sei es auf kommunaler, auf Landes- oder Bundesebene. Beispiele entpuppen sich als Ergebnisse.

Aufbruch kann gesellschaftlich erst durch ein Miteinander geschehen, gegenseitiges Zuhören, ein sich Vernehmen und Verständigen. Das kennen wir alle und doch ist es aktueller denn je. Ganz konstruktiv hängen Resilienz und Vertrauen eng zusammen: Kunst & Kultur brauchen Stand- und Spielbein zugleich, Sicherheit und Freiheit. Wie wollen wir leben? Für einen gesamtgesellschaftlichen Aufbruch mit der dringend notwendigen großen Transformation ist ein Vertrauen gefragt, das alle mitgestalten können. Aufbruch: Vertrauen: Was braucht es?

Autorin

(c) Ralf Silberkuhl

Dr. Uta Atzpodien (*1968) ist Dramaturgin, Kuratorin und Autorin und engagiert sich mit transdisziplinären (künstlerischen) Impulsen für einen gesellschaftlich nachhaltigen Wandel und eine kreative Stadtentwicklung. Promoviert hat sie mit »Szenisches Verhandeln. Brasilianisches Theater der Gegenwart« (transcript 2005). Seit 2006 lebt sie in Wuppertal, hathier)) freies netz werk )) KULTUR mit gegründet und ist u.a. Mitglied vom und.Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit.