New Culture Deal

Anica Happich, Jakob Arnold

6. April 2021

Anmerkungen für eine neue Kulturpraxis in den Darstellenden Künsten

In der aktuellen, einzigartigen Situation zeigt sich der Wert von Kunst und Kultur für unsere Gesellschaft wie nie zu vor. Die Krise ermöglicht uns gleichzeitig einen Moment des Innehaltens und Reflektierens, des Abstands. Wir können eine ehrliche Bestandsaufnahme wagen. Denn die Corona-Pandemie hat die Lage der Kulturschaffenden im Bereich der Darstellenden Künste, insbesondere der freiberuflichen Künstler:innen, in ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein gerückt. Zahlreiche Fehlstellen, die bereits vor der Pandemie deutlich waren, treten hierbei umso klarer hervor: Die vernachlässigte Modernisierung der Betriebs- und Arbeitsstrukturen in den institutionalisierten Theatern, die nicht auf die Lebensrealität abgestimmte Gesetzgebung für freischaffende Künstler:innen mit ständig wechselnden Beschäftigungsformen, den lückenhaften und schwachen Tarifvertrag für künstlerische Mitarbeiter:innen. Seit Jahren bemühen sich etablierte Interessenverbände der Kulturschaffenden, die Entscheidungsträger:innen in der Politik, die Träger kultureller Einrichtungen und die Gewerkschaft mit Handlungsempfehlungen zu versorgen und das Theaterpublikum für ihre Bedürfnisse und widersprüchlichen Arbeitsrealitäten zu sensibilisieren.

Die Krise als Chance!

In der Krise haben alle Stakeholder wie Mitarbeiter:innen, Communities, Zuschauer:innen und Interessenverbände der Darstellenden Künste die Möglichkeit, ihre Kräfte zu bündeln und gemeinsam eine Absicht zur verfolgen: Die Transformation in eine relevante Kulturpraxis. Dem Wunsch, nach der Pandemie in eine ›Normalität‹ zurückzukehren, alles beim Alten zu belassen, lehnen wir entschieden ab – das Letzte, was wir tun sollten, wäre, alles wieder genauso so zu machen, wie wir es vor der Pandemie getan haben. Doch wie können wir den historischen Moment der Krise nutzen, um die Theaterwelt zu transformieren? Welche Maßnahmen müssen wir entwickeln, damit Arbeitnehmer:innen, Vertreter:innen, Freischaffenden oder Theaterinstitutionen die notwendigen Kapazitäten, Mittel, Einkommen und Instrumente zur Verfügung haben?

Im Folgenden werden wir drei Punkte beleuchten: Die Notwendigkeit, dass darstellende Künstler:innen besser über ihre Rechte fortgebildet werden. Das Erfordernis, dass Kulturorganisationen ihre Betriebs- und Arbeitsstrukturen modernisieren. Und die Pflicht, dass die Gesetzgebung die besonderen Arbeitsvoraussetzungen und Bedingungen der darstellenden Künstler:innen – insbesondere der freischaffenden darstellenden Künstler:innen – besser widerspiegelt.

1) Darstellende Künstler:innen müssen besser über Rechte fortgebildet werden!

Das neue New York ist die hybride Interessenorganisation
Die Gründung von neuen Netzwerken und Interessenvertretungen ist laut der Soziologin Dr. Alexandra Manske »Ausdruck einer neuen, kreativen Mitbestimmungsfantasie«. Hier vernetzen sich Künstler:innen in etablierten Interessenverbänden, hier bilden sie sich fort, um ihre Ziele zu formulieren. Sie lösen die etablierten Gewerkschaften – allen voran die GDBA – zwar nicht ab, aber können als Symptom einer Gewerkschaftsvertretung gesehen werden, die die besonderen Arbeitsbedingungen von künstlerischen Berufen nur mangelhaft erfasst hat. Durch die kontinuierliche Bildungsarbeit der Interessenverbände mit Veranstaltungen wie UTOPIA.JETZT: Der Bundeskongress der freien Darstellenden Künste (BFDK) der Bundesweiten Ensemble-Versammlung (ensemble-netzwerk) oder der digitalen Fortbildungsreihe out and about (dancers connect) ist das Bildungsniveau der darstellenden Künstler:innen deutlich gestiegen. Sie nutzen das Wissen und nehmen die Rolle von Kulturlobbyist:innen ein, die meist mit ihren ästhetischen Mitteln für ihre Bedürfnisse kämpfen. Sie üben Demokratie und Selbstwirksamkeit mit Aktionen wie 40.000 Theatermitarbeiter:innen treffen ihre Abgeordnete, die mit dem FAUST Theaterpreis ausgezeichnet wurde, oder mit der Verleihung des Bühnenheld:innen Preises des Aktionsbündnisses Darstellende Künste.

Politik, Theaterbetriebe und Bildungseinrichtungen müssen erkennen, dass die politische Bildung, das zunehmende sozialpolitische Engagement und Eigenverantwortung für verbesserte Arbeitsbedingungen eine entscheidende Voraussetzung darstellt für die Vitalität und Qualität des kulturellen Lebens in unserem Land – und deshalb im Interesse aller liegt!

Daher sind folgende Schritte notwendig:
– Der Aufbau eines Weiterbildungszentrums für Fragen des Arbeitsrechts, Ethik und Soziales für den Bereich der Darstellenden Künste und die gesamte Kultur- und Veranstaltungsbranche

– Aufbau digitaler Bildungsformate und Bildungskonferenzen der Darstellenden Künste in enger Zusammenarbeit mit relevanten Kulturschaffenden und Vermittler:innen der Darstellenden Künste

– Die Einbeziehung von mehr fachbezogenen Exper:tinnen bei der Besetzung von Leitungspositionen als verpflichtenden Bestandteil von Findungskommissionen und Auswahlgremien

2) Etablierte Kulturorganisationen brauchen Unterstützung durch Know-how und finanzielle Mittel zur Modernisierung ihrer Betriebs- und Arbeitsstrukturen!

Transformationsbedarfe in den Kulturorganisationen
Prof. Dr. Thomas Schmidt bietet in seiner Forschung zu modernem Theatermanagement Ansätze für die Ausrichtung einer modernen künstlerischen Organisation, die die künstlerische Qualität und das kreative Potenzial ihrer Mitarbeiter:innen besser erkennt und fördert. Er beschreibt, dass eine zukunftsweisende Transformation nur gelingen kann, wenn die Kulturminister:innen und Kulturämter der Kommunen ihre Regeln, Verwaltungsvorschriften und Finanzierungsklauseln lockern und Prozesse der Transformation finanziell fördern. Sie müssen den Theaterinstitutionen ermöglichen, ihren Betrieb im Sinne der Wirksamkeit, Nachhaltigkeit, Zukunftsfähigkeit und Stabilität besser zu führen.

Die Handlungsempfehlungen von Schmidt aufzugreifen, hieße:
– Die Transformation des bestehenden Intendantenmodells hin zu dem Modell eines Direktoriums (entsprechend den künstlerischen Sparten)

– Die Transformation der Organisationskultur der Stadttheater hin zu einer kreativen Multi-Funktions-Organisation

– Die Umgestaltung des Theaters in eine lernende Organisation, in der »Lernen gefördert und belohnt, und vor allem dafür eingesetzt wird, strukturelles, konzeptionelles und praktisches Wissen für einen Umbau des Theaters zu sammeln und allen Mitarbeiter:innen dauerhaft zur Verfügung zu stellen« [1]

Entscheidend ist der Gedanke, dass die Qualität von Kunst und seiner Wirkung wesentlich bestimmt wird durch gegenseitigen Respekt und kommunikatives Geschick der am künstlerischen Schaffen Beteiligten. Dieser Aspekt, der zwar nicht allein, aber sicherlich mitentscheidend für das künstlerische Gelingen ist, wurde in der Vergangenheit zu wenig bedacht. Eine Transformation der künstlerischen Praxis hätte den Einfluss, die Kommunikationsstrukturen im Sinne eines stärkeren Miteinanders auch in den komplexen Verhältnissen einer Kulturinstitution besser zu gestalten.

Konkret könnte dies heißen: Es braucht ein Theaterlabor, das in den kommenden fünf Jahren von Bund und Ländern in ausreichender Weise gefördert wird, um zukunftsfähige Modelle in Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen zu erproben, zu evaluieren und die Erkenntnisse den bundesweiten Theatern und ihren Trägern zur Verfügung zu stellen. 

3) Die Gesetzgebung muss die Arbeitsrealitäten der darstellenden Künstler:innen widerspiegeln!

Hybride Was?
Freiberufliche Künstler:innen sowie Kunstschaffende mit hybridem Erwerbsstatus, die sowohl in freien als auch in institutionellen Strukturen arbeiten, sind am härtesten von der Pandemie betroffen. Gerade diese Gruppe hat in den letzten Jahrzehnten für einen erheblichen künstlerischen Innovationsschub in der freien Szene und am Stadttheater gesorgt – und das bei einem Durchschnittseinkommen von knapp 14.000 Euro im Jahr. Die Erfahrungen, die diese Gruppe in der Krise macht, legen gleich mehrere systemische Fehlstellen offen: Gastdarsteller:innen an öffentlich geförderten Theatern wurden bei abgesagten Vorstellungen und Projekten nur zu einem geringen Teil oder gar nicht entlohnt. Ihr ungeklärter Status – sozialversicherungsrechtlich angestellt aber arbeitsrechtlich selbständig behandelt – sowie ein reformbedürftiger Gastvertrag an den Theatern erlauben diese Praxis. Die Soforthilfemaßnahmen zeigen, wie wenig Kenntnis die Bundes- und Landespolitik über den Erwerbstatus und die Arbeitsrealität von Solo-Selbstständigen oder hybrid arbeitenden Künstler:innen besitzt, und dass die gesetzlichen Regelwerke an der Arbeitsrealität dieser Gruppe häufig vorbei gehen.

Hier könnte ein Lösungsansatz sein:
– Zusammenarbeit stiften zwischen verschiedenen Stakeholdern wie dem Ministerium für Arbeit und Soziales (Gesetzliche Regelungen) und den etablierten Interessenverbänden (Branchenkenntnis) unter Einbeziehung von Wissenschaftler:innen (Fakten und Daten)

– Aus diesen Synergien einen fundierten Maßnahmenkatalog entwickeln, der die hybride Arbeitsrealität der freischaffend arbeitenden Künstler:innen anerkennt

– Nutzbarmachung dieser Ergebnisse durch den Gesetzgeber, um tatsächliche Verbesserungen in den Bereichen Arbeitsrecht, Sozialrecht und Steuerrecht zu erwirken

Es braucht neue Modelle und einen NEW CULTURE DEAL

Der Soziologe Pascal Gielen macht bereits vor der Corona-Krise ein gedankliches Angebot für einen Bewusstseinswandel im Sinne der Transformation der Künste. Er fragt, auf welcher Basis gesellschaftliches Miteinander möglich sein kann. Seine These: Nicht die Ökonomie ist die Basis, auf der Kultur möglich ist, sondern die Kultur ist die Basis, auf der Ökonomie möglich ist. Kultur schaffe eine Vertrauensbasis unter Individuen und damit eine Basis für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Kulturelle Praxis sei das Fundament und der Kitt der Gesellschaft. Insofern braucht Deutschland, folgen wir Gielens These, einen New Culture Deal, der ein grundlegenderes Selbstverständnis und die Anerkennung des kulturellen Lebens voraussetzt, also Strukturen und Angebote schafft für eine lebendige, partizipative, kulturelle Vielfalt ermöglichende und vermittelnde Kulturpraxis – insbesondere jenseits der etablierten Kunsttempel.

Tatsächlich scheint aktuell aber das Gegenteil der Fall zu sein. In der Pandemie werden Kultur und Kulturelle Bildung plötzlich wieder unter den Sammelbegriff »Freizeitaktivität« subsumiert. Erste Kommunen setzen in Anbetracht drastisch gesunkener Einnahmen bereits den Rotstift bei den freiwilligen Ausgaben für Kunst, Kultur und Bildung an. Um das Theater als Kulturinstitution und potentiell immaterielles kulturelles Erbe zu erhalten, besteht aktuell mehr denn je dringender Handlungsbedarf.

Deshalb schlagen wir vor:
– Wertschätzung und Förderung der Kultur als ein zentraler Bereich unserer Gesellschaft, der für seine Erhaltung und vor allem in seinem dringenden Reformbedarf mit öffentlichen Mitteln unterstützt wird

– Für die Kommunen muss es ein finanzielles Entlastungprogramm aus dem Bundeshaushalt geben – ähnlich dem DigitalPakt Schule, der eine Mitfinanzierung der Bildung durch den Bund ermöglicht, ohne in die Bildungsautonomie der Länder einzugreifen

– Kulturförderung muss zur Pflichtaufgabe aller Ebenen der Politik (Kommune, Land, Bund) werden. Als ein wichtiger Schritt dafür wird eine entsprechende Verankerung im Grundgesetz angesehen

– Ein solches Kooperationsgebot muss als KulturPakt mit der Verpflichtung der Kommunen einhergehen, das Geld zweckgebunden in Kultur und Bildung zu investieren und gleichzeitig ihre Eigenanteile zu leisten

Die notwendige Transformation erfordert von allen Akteur:innen eine enge Zusammenarbeit und Offenheit zur Veränderung bisheriger Verhaltensmuster und Strukturen. Diese wäre eine angemessene Antwort nicht nur auf die Corona-Krise, sondern auf die grundlegenden Änderungen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens jetzt und in Zukunft.

[1] Schmidt, Thomas (2020): Modernes Management im Theater, Wiesbaden: Springer VS, Seite 30.


Autor*innen

(c) Sandra Then
(c) Andreas Thamme

Anica Happich, Schauspielerin, Künstlerin und kulturpolitische Akteurin, die an öffentlich geförderten Theatern, Institutionen der freien Szene und als Filmschauspielerin tätig ist. Als kulturpolitische Aktivistin arbeitet sie im Spannungsfeld der künstlerischen Praxis und bildungspolitischen Arbeit für die Bedeutung und die Belange der Darstellenden Künste u.a. im jungen ensemble-netzwerk sowie dem ensemble-netzwerk e.V. Als Schauspielerin war sie bis 2020 am Theater Basel engagiert.


Jakob Arnold, Regisseur, Autor und Dozent. Er arbeitet an Landes- und Stadttheatern in ganz Deutschland. An der Folkwang Universität der Künste hat er Lehraufträge für Schauspiel und Regie inne. Gemeinsam mit Anica Happich gründete er 2016 das junge ensemble-netzwerk