In der Serie Pretend It’s a City spricht die Autorin Fran Lebowitz mit Martin Scorsese in sieben Episoden darüber, was es für sie bedeutet, in New York City zu leben. In einer Folge sagt sie: »Wenn die Leute fragen: ›Warum lebst du in New York?‹, kannst du ihnen nicht wirklich antworten, außer dass du weißt, dass du Verachtung für Leute hast, die nicht den Mut dazu haben.«
Es erfordert Mut, in einer Stadt zu leben. Die Stadt ist eine Dauerprovokation. Die Stadt bringt jede*n Einzelne*n dazu, die eigenen Komfortzonen zu verlassen. Mit anderen Bewohner*innen der Stadt kann die einzige (offensichtliche) Gemeinsamkeit der zufällig selbe Wohnort sein. Aber gerade das stellt auch den Reiz dar, in einer Stadt zu leben.
Kultur ermöglicht Begegnungen
Dem Kontakt mit Fremdem wird eine wichtige Funktion in der persönlichen Entwicklung des Menschen zugesprochen. Es gehört zum Leben dazu, sich der Unvorhersehbarkeit auszusetzen und dem, was zunächst als ›anders‹ wahrgenommen wird, so lange zu begegnen, bis es vertraut wird. Kulturpolitik kann solche Begegnungen ermöglichen und vor allem kann sie sie unterstützen. Indem sie Räume schafft, in denen Menschen mutig sein können.
In den kommenden Monaten wird es kulturpolitisch weiterhin oberste Priorität haben, Künstler*innen, Projekten und Initiativen, die Räume der Begegnung und des Experiments schaffen, nicht nur finanziell den Rücken zu stärken. Doch bewahren und retten allein genügt nicht. Es gilt, insbesondere die Orte zu stärken, die durch ihre Niedrigschwelligkeit zur sozialen Inklusion beitragen und damit letztlich die Stadt gerechter machen.
Insbesondere in den Städten außerhalb von Metropolregionen, in Klein- und Mittelstädten, muss Kulturförderung einen höheren Stellenwert einnehmen. Fördermittel sind dabei natürlich hilfreich. Viel entscheidender ist es aber, Künstler*innen und Kultureinrichtungen bei kommunalpolitischen Fragestellungen einzubeziehen: Wie können wir die Stadt für mehr Menschen attraktiver machen? Was muss die Stadt Jugendlichen nach ihrem Schulabschluss bieten? Wie lässt sich der Leerstand in den Innenstädten begegnen? Wie können Partizipation und bürgerliches Engagement gefördert werden?
Auf all diese Fragen können Künstler*innen Antworten geben – durch Mut zum Experiment und durch unkonventionelle, agile Ansätze Es braucht allerdings den Willen der Verantwortlichen in Politik und Verwaltung, einen offenen Austausch mit den Künstler*innen zu suchen. Es braucht eine Haltung der Stadtverwaltung, die vorgibt: Ihr seid willkommen mit euren Ideen. Wir unterstützen euch bei der Umsetzung. Um gehört zu werden, muss aber auch der Kulturbereich über den eigenen Tellerrand hinausblicken und ganz gezielt und vorurteilsfrei Allianzen mit anderen Gesellschaftsbereichen suchen. Nun, da der Einzelhandel in vielen Innenstädten brach liegt und Leerstand grassiert, sind mehr denn je neue Ansätze an der Schnittstelle von Kultur- und Wirtschaftsförderung notwendig.
Stadtentwicklung mit der Kultur
Kultur darf in Kommunen nicht als nice to have gesehen werden, sondern muss sehr selbstverständlich in allen Prozessen der Stadtentwicklung mitgedacht werden. Dazu gehört, dass sich die bestehenden Kulturorte für die Stadtgesellschaft öffnen und gezielt in die Städte, Kieze und Nachbarschaften wirken. Beispielhaft ist das Berliner EFRE-Programm »Bibliotheken im Stadtteil« (BIST), das Projekte in öffentlichen Bibliotheken, die Partnerschaften in der Nachbarschaft schließen und dadurch neue Besucher*innen gewinnen, fördert. Das Neustart-Programm Kultursommer 2021 der Kulturstiftung des Bundes ermöglicht pandemiekonforme Projekte zur kulturellen Wiederbelebung der Städte. Es ist notwendig, solche an die Stadtgesellschaft gerichteten Förderprogramme zu eruieren und zu verstetigen.
Junge Menschen sollten konkret in die Ausgestaltungsprozesse vor Ort durch auf sie zugeschnittene Beteiligungsformate, wie zum Beispiel Jugendparlamente, eingebunden werden, um mit über das Konzept und die Ausgestaltung von neuen oder bestehende Kulturorten zu entscheiden. Dabei müssen vor allem aber nachhaltige, klimaneutrale Ansätze gefunden werden, die generationengerecht die Interessen der heutigen und zukünftigen Stadtmenschen abwägen. Auch hier können Kultur- und Kreativschaffende mit ihren Fähigkeiten in der Lösungsfindung einen wichtigen Beitrag leisten.
Margarete Stokowski plädiert in ihrer Spiegel-Kolumne »Erst die Wohnung renovieren, dann die ganze Stadt« für einen stadtpolitischen Ansatz, der nicht die Steigerung der Konsumangebote, sondern das Schaffen von Begegnungsorten im städtischen Umfeld an erster Stelle positioniert. »Wer Komfort [wie einen Toilettengang, Anm. D. Red.] will, muss meist konsumieren«, schreibt sie. Zugängliche Orte, an denen Menschen ihre Freizeit verbringen können, brauche es. Für diese Orte gibt es vor allem in den Klein- und Mittelstädten viel Raum, der erobert werden will.
Basale Kultureinrichtungen wie Öffentliche Bibliotheken, Musikschulen, Jugendkunstschulen und kommunale Museen, aber auch Volkshochschulen sind solche Orte, die Menschen von Klein bis Groß anregen, sich mit ihrer Umgebung zu befassen. Es sollte kommunalpolitischer Anspruch sein, diese Kulturorte so auszustatten, dass sie ihre Potenziale entfalten können – während der Krise und danach. Dass dies in vielen Bundesländern nicht allein durch kommunale Ressourcen funktionieren kann, liegt auf der Hand. Hier müssen die kommunalpolitisch Verantwortlichen sich ganz gezielt um Fördermittel für ihre Kulturorte bei den Ländern, beim Bund, aber auch bei der EU bemühen.
Insbesondere Bibliotheken wirken in die Stadtgesellschaft hinein. Sie ermöglichen Begegnungen in einem Raum, der von Vertrautheit geprägt ist, und sind Treffpunkt für Nachbarschaft und Kiez. Sie sind dabei viel mehr als Orte des Lesens und des Ausleihens von Büchern, sondern fungieren als Dritte Orte, in denen jede*r in gleichem Maße Zugang zu Bildung und Informationen hat. Durch das Treffen auf das/die Fremde/n in der Bibliothek sind Aushandlungsprozesse notwendig, die im besten Fall zu neuen Formen und Strukturen des Zusammenlebens und letztlich zu mehr sozialer Inklusion und Gerechtigkeit führen. Die Öffentliche Bibliothek steht in diesem Sinne charakteristisch für andere Kultureinrichtungen, die sich an die Stadtgesellschaft richten. Dabei sind die Mitarbeitenden in den Einrichtungen von zentraler Bedeutung. Sie sind die Seismografen für die gesellschaftliche Situation in der Stadt. Sie treffen auf Besucher*innen, die mit ihren Ängsten, Wünschen, Träumen und Hoffnungen in die Bibliothek, die Musikschule oder das städtische Museum kommen. Diese Stimmungen können die Mitarbeitenden in den Kultureinrichtungen wiederum in die Stadtgesellschaft transferieren.
Neue Relevanz für die Kulturpolitik in der Stadt
Wenn die Kulturpolitik sich dieser bestehenden Ressourcen bewusst ist und sie gezielt einbindet, entsteht #neueRelevanz. Sie entsteht, wenn Kulturpolitik sich uneingeschränkt dafür einsetzt, die Stadt inklusiver und gerechter zu gestalten und wenn sie ihre Forderung nach einer mutigen Stadtpolitik, die alle einbindet, auch in Fragen der Stadtentwicklung und Wirtschaftsförderung deutlich macht.
Autor
Daniel Deppe hat in Lüneburg, Würzburg und Warschau Politikwissenschaft und Soziologie studiert. Seit 2020 koordiniert er in der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa ein Projekt zur Stärkung der Öffentlichen Bibliotheken auf europäischer Ebene im Rahmen der EU-Städteagenda und betreut in der EFRE-Strukturfondsförderung der Kulturverwaltung Berliner Kultureinrichtungen, insbesondere Öffentliche Bibliotheken, bei ihren Projektvorhaben. Davor war er u.a. als Projektmanager und im Projektcontrolling bei der Initiative Musik und dem Kompetenzzentrum für Kultur- und Kreativwirtschaft des Bundes tätig.