Relevanz, Resilienz, Resonanz

Tilo Schieck, Jonas Zipf

7. Juli 2021

Einige Gedanken zur Transformation von Kultur

Was Corona sichtbar macht, lag längst brach. Oft bemüht, deswegen aber nicht weniger wahr und auch für den Bereich der Kultur gültig: Die Pandemie ist Brennglas und Katalysator. Offenbar werden nicht nur die kurzfristigen, existenzbedrohenden Nöte von Soloselbständigen und Kultureinrichtungen – offen zutage treten auch deren mittelfristigen strukturellen Zwänge und Grenzen. Der Weg aus der Krise weist in Richtung der Großen Transformationen, die unsere Gesellschaft gewärtigt. Ob Digitalisierung, Nachhaltigkeit oder Inklusion: Ein einfaches Weiter So und stetiges Mehr vom Selben stößt an die Grenzen eines selbstzerstörerischen Wachstums.

Und dennoch zeigen die Ergebnisse und Umfragen rund um Pandemie und anstehende Wahlen, dass signifikante gesellschaftliche und politische Mehrheiten auch weiterhin vom Status Quo Ante, vom Wieder-Weiter-So eines volkswirtschaftlichen V-Effekts ausgehen. Nach der Krise soll wie vor der Krise sein. Doch fällt Künstler*innen und Kulturschaffenden, Kunstfunktionären und Kulturpolitiker*innen tatsächlich so wenig ein? Wollen sie wirklich so systemrelevant sein, dass sich an ihrem bestehenden System so wenig ändert wie in der Finanzbranche nach der Finanzkrise von 2009/2010? Entspricht das noch der Autonomie und dem utopischen Potential eines gesellschaftlichen Bereichs, der von sich selbst immer wieder als einem der letzten verbliebenen öffentlichen Räume innerhalb einer durchrationalisierten und durchfunktionalisierten Gesellschaft schwärmt?

Es waren die ersten Wochen und Monate der Pandemie vor bald anderthalb Jahren, die noch heute von einer Vielzahl von Menschen als besonders beängstigend, aber auch als besonders offen und hoffnungsvoll beschrieben werden. Eine Situation, in der vieles, wenn nicht gar alles möglich schien, die in Windeseile vor Projektionen in alle möglichen gedanklichen Richtungen nur so wimmelte. Es ist eine solche iterative Situation, die wir uns für die Debatte rund um die Zukunft der Kultur nur wünschen können – eine Situation, die sich zwar nicht künstlich wiederherstellen lässt, der wir aber anhand des vorliegenden Debattenbeitrags mit einigen assoziativen Beobachtungen, unvollständigen Überlegungen und nicht abgeschlossenen Impulsen nachspüren wollen. Nach der Krise wird nicht vor der Krise sein: Was lernen wir aus den Zuspitzungen der letzten Monate?

Eine Große Transformation?

Die neue Wachstumsdiskussion aufgrund des Klimawandels, schwindender natürliche Ressourcen und Infragestellung der Fortgültigkeit des westlichen, sich ständig vermehrenden Wohlstandsideals hinterlässt Spuren, auch in der Diskussion über die Zukunft der Kultur, ihrer Entwicklungsmöglichkeiten und ihres Selbstverständnisses. Die Situation scheint gleichermaßen offen wie bedrohlich: Viele der bisherigen Debattenbeiträge rechnen mit einem spannenden und harten Ringen innerhalb der politischen und zivilgesellschaftlichen Debatte um die zukünftige Verteilung ökonomischer Mittel und öffentlicher Aufmerksamkeit. Fast alle gehen davon aus, dass sich irgendetwas ändern wird, ändern muss. So richtig greifen können die Meisten die Chancen und Risiken dieser Veränderung allerdings noch nicht.

Das trifft den Wesenskern dessen, was Soziolog*innen in der Folge des österreichischen Wirtschaftswissenschaftlers Karl Polanyi „Die Große Transformation“ nennen. Beim Begriff der Transformation geht es um eine eigendynamische und komplexe, von vielen gleichzeitig auftretenden und sich gegenseitig bedingenden Faktoren entfesselte, grundlegende gesellschaftliche Veränderung. Transformationen sind keine Revolutionen, die im Namen einer neuen gesellschaftlichen Ordnung von einer politischen Avantgarde gemacht werden; sie sind aber auch keine Reformen, die das Bestehende so verändern, dass es in der alten, leicht veränderten (Re-)Form bestehen bleiben kann.

Transformationen vollziehen etwas, das wir nicht aufhalten können, das passiert – ein Energiewandel, der stattfindet, ob wir es wollen oder nicht. Die entscheidende Frage, die sich stellt: Können und wollen wir Transformationen als offene Gesellschaft gestalten oder überlassen wir das anderen gesellschaftlichen Mehrheiten und Konstellationen? Karl Polanyi analysiert in diesem Zusammenhang die sozioökonomische „Große Transformation“ des ausgehenden, sog. langen 19. Jahrhunderts bis hin zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. In diesem historisch abgeschlossenen Fall waren es die nicht demokratischen Kräfte, die sich bei der Gestaltung der Transformation durchzusetzen wussten.  

Insofern handelt es sich bei Transformationen um Prozesse der Veränderung, die notwendigerweise stattfinden, zwangsläufig, geradezu überfällig erscheinen, bei denen sich aber die Frage stellt, wer sie zu gestalten und für sich zu reklamieren weiß. Irgendwann lassen sich Fakten nicht mehr leugnen: Ob es um die Diversifizierung von Einwanderungsgesellschaften, um den voranschreitenden Klimawandel oder sich im Zeichen des Digitalen radikal verändernde Kommunikations- und Wahrnehmungsmuster geht. Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund kein Zufall, dass die kraftvollen aktivistischen Bewegungen auf den Feldern der Digitalität, Nachhaltigkeit und Inklusion trotz Corona nicht an Präsenz verloren haben.

Obwohl ihnen monatelang die Protestoptionen der Straße nicht offenstanden und die übergroße Mehrheit der Menschheit andere existentielle Probleme zu bekämpfen hatten, sind Black Lives Matter und Fridays For Future, #MeToo oder Netzaktivismus äußerst präsent geblieben. Diese Bewegungen verstricken sich weder in der realpolitischen Kritik des Bestehenden, noch irrlichtern sie in der Sphäre des rein Utopischen. Ganz offensichtlich beschreiben die Transformationsvorgänge nicht nur die Zustände, die es zu ändern, sondern auch solche, die es zu erreichen gilt; nicht nur die Wege dorthin, sondern auch die Zustände nach dem Weg. Deswegen geht es bei einer Transformation um Digitalität, und nicht um Digitalisierung; um Nachhaltigkeit, und nicht um Klimaschutz; um Inklusion, und nicht um Emanzipation oder Diversifizierung.

I. Bestand und Aufnahme

In städtischen Marketingbroschüren wird gern mit der eigenen Urbanität und Kreativität um neue Firmen geworben, werden Fachkräfte in ein kulturell inspirierendes Umfeld gelockt – alles im Dienste eines weiteren Wachstums der Stadt. Kultur wird zu einer weiteren Funktion im Gefüge des Immer-Mehr, Immer-Größer und Immer-Besser. Die Attraktivität der Städte im Konkurrenzkampf untereinander bemisst sich mittlerweile auch an der Zahl ihrer Musikclubs, der Bekanntheit ihrer Museen und Theater, und der Einstufung ihres Orchesters. Hochglanzbilder zeigen Kulturevents im Sommer, gut gelaunte Zuhörer*innen von Straßenmusik, Kinder beim Malen oder Entdecken geheimnisvoller Lost Spaces, die die anderen, noch ungeglätteten, unerschlossenen Seiten einer Stadt verkörpern sollen.

Kennziffern des Erfolgs?

Die Kulturverantwortlichen und Kulturpolitiker*innen haben sich in den letzten 20 Jahren in dieses Framing integriert und benutzen es gern. Sichert es ihnen doch zum einen eine gewisse Anerkennung jenseits ihrer eigenen Szene, indem ihnen von außerhalb Bedeutung zugetragen wird, zum anderen scheint es ihnen Argumente im Verteilungskampf um die kommunalen Finanzen zu liefern. Es wird eine Win-win-Situation kreiert: Das Bild der wachsenden Stadt wird um weiche, sympathische Seiten erweitert, die Kulturpolitik erhofft sich mehr finanzielle und räumliche Gestaltungsmöglichkeiten.

Die Wachstumsideologie hat aber längst die Selbstwahrnehmung des Kulturbereiches ergriffen. Erfolge werden mittlerweile gern ökonomisch berechnet: Publikumsrekorde bei Festivals werden ebenso gerne verkündigt wie (pressetaugliche) Besucher*innenzahlen von Ausstellungen oder die Auslastung der Hotelbetten. Die verbundenen Rankings und Preise lassen die eigene Arbeit leuchten. Zudem färbt Entwicklung auch auf die Inhalte der Kulturarbeit ab: Musikreihen werden nach möglichst hohen Ticketverkaufszahlen gestaltet (gern mit der Bemerkung, dass dadurch ja dann auch die „Nischenkonzerte“ mitfinanziert würden); mühsam ausgehandelte Kompromisse politischer Gremien oder der persönliche Geschmack eines Mäzens ersetzen anderweitige künstlerische Irritationen im Stadtraum; Theater werden zunehmend als Orte der Unterhaltung, weniger als Orte der Auseinandersetzung einer Stadtgesellschaft angesehen.  

Fragile positive Nebenwirkungen

Es ist anzuerkennen, dass diese Entwicklung in den letzten 20 Jahren zunächst auch Erfolge vorweisen konnte. In vielen Städten, die sich dies ökonomisch leisten können, stiegen die Kulturetats, nicht nur die der städtischen Kultureinrichtungen, sondern auch der Förderprogramme für den freien Kulturbereich. Ostdeutsche Beispiele geben Leipzig, Halle oder Jena (z.B. Jena freie Szene außer Theaterhaus 2006 ca. 300.000,-€, 2020 730.000,- € + weitere Programme) Für kulturelle Großinvestitionen konnten Mehrheiten beschafft werden; die Raumproblematik wird wahrgenommen – als Problem der Raumknappheit wie in Jena oder als Problem des sozialräumlichen Verdrängtwerdens wie in Leipzig oder Berlin oder an anderen prosperierenden Orten.

Die freie Kultur drängt aus der Rolle eines Bittstellers in die Rolle eines politischen Akteurs. In fast allen größeren Städten gibt es mittlerweile Kulturkonzeptionen respektive Kulturentwicklungspläne, die zumindest versuchen, mittelfristige kulturelle Entwicklungslinien aufzuzeigen. Mancherorts gelingt es sogar, diese Prozesse zwischen Politik, Kultur und Bürger*innenschaft so partizipativ zu gestalten, dass eine neue Vernetzung und ein neues Selbstbewusstsein der kulturellen Szenen entstehen. Und Kulturpolitiker*innen gelingt es vereinzelt, in deren Windschatten auch nicht zeitgemäße, nicht vermarktungsfähige Projekte gegen frühere politische Mehrheiten durchzusetzen.

Kultur als Opfer des eigenen Erfolgs

Doch längst beginnt ein Teil der Kultur zum Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. Klassisches Beispiel ist die erwähnte Verdrängung der Soziokultur aus einzelnen Stadtquartieren, die sie erst attraktiv gemacht hat. Ein anderes Phänomen kann man daran beobachten, wie mit dem eigenen Erfolg und dem Anderer umgegangen wird: Die erfolgreiche Ausstellung, der erfolgreiche Spielplan muss im kommenden Jahr mindestens genauso erfolgreich wiederholt, am besten übertroffen werden (und die Nachbarschaft überscheinen); die Erwähnung in den Feuilletons ist Pflicht, und wenn nicht dort, dann ist zumindest die Resonanz in den sog. „sozialen“ Medien relevant. Selbst Streit wird zu einem Wert an sich und bedeutet oft kaum noch Interesse am Thema selbst. Wettbewerb und Selbstoptimierung – in der Kultur immer schon vorhanden – werden nun zu ihrer Vorbedingung, zum sich verstärkenden Antrieb ihrer Entwicklung.

Die Folge ist eine Dauer-Eventisierung der Kultur, die immer zuerst die öffentliche Aufmerksamkeitsökonomie bedient und weniger die eigenen Inhalte betont, seltener ihre Relevanz aus sich heraus definiert. Nichtsdestotrotz wird für die dauernde Schaffung von stetig Neuem selten Altes und dessen Fortbestand hinterfragt. Das kulturpolitische Muster folgt lieber der Logik des sich selbst ernährenden Wachstums: Neue Projekte werden lieber mit Aufwuchs von Ressourcen begründet, als ihren Beginn und Erfolg mit unangenehmen Diskussionen über Ressourcenknappheit und möglicherweise notwendige Priorisierungen zu gefährden. In den letzten Jahrzehnten wurde noch jede neue Entwicklung, noch jedes neue Thema schließlich mit einem additiven Förderprogramm überklebt, das am Ende oft noch nicht einmal gründlich evaluiert wird. Das lässt sich in Zeiten wachsender Ressourcen durchaus bewerkstelligen; auf Dauer wird es jedoch kaum durchzuhalten sein. So wuchs in den letzten Jahren Kultur zwar quantitativ und additiv, jedoch kaum qualitativ und substantiell.

Die Krise und ihre Wahrnahme

Die Frage nach den Grenzen des sich selbst prästabilsierenden Wachstums stellt sich erst recht mit Beginn der Corona-Pandemie. In der Krisenbekämpfung waren Kultureinrichtungen die ersten, deren Angebote geschlossen wurden. Für Industrie und Flugverkehr gab es schon Programme und Kurzarbeitsgelder, ehe die ersten Hilfen für Künstler*innen, Soloselbständige und Kulturinitiativen überhaupt politisch erwogen wurden. Diese kamen dann nicht nur verspätet, sondern zunächst bürokratisch verquast, unpraktikabel und lebensfremd. Die Schere zwischen kultureller Realität, Kulturverwaltung und -politik, insbesondere auf Bundes- und Landesebene konnte kaum größer klaffen. Glück hatte noch die öffentlichen Kulturinstitutionen, kamen doch dort ebenso Kurzarbeit wie Nähe zu Vor-Ort-Entscheidungsträger*innen in Sachen Infektionsschutz zum Tragen.

Freie Kräfte – ausgerechnet die, die sich vor dem Vorzeichen der Kreativwirtschaft in den letzten Jahren so unabhängig von staatlicher Hilfe gemacht hatten wie nur irgend möglich – sahen sich plötzlich in jeglicher Hinsicht abhängig. Ironie ihres Schicksals, auf dessen Erfolgsversprechen die Politik zuvor so euphorisch angesprungen war: Ein Kulturverständnis, dessen Messbarkeit und Erfolgskennziffern plötzlich nicht mehr als selbsterfüllende Prophezeiung, sondern als besondere Volatilität und Prekarität einzahlte. Es dauerte Monate, bis es der sog. Veranstaltungswirtschaft endlich gelang, in einem vergleichbaren Maße wie die Hotel- und Gastronomie-Lobby, etwa der Branchen-Dachverband DeHoGa, zur Spitzenpolitik durchzudringen.

Nach wie vor (und trotz der mittlerweile 4,5 Grütters-Milliarden) spielt Kultur bei den Überlegungen zur Verteilung der knapperen Ressourcen in den Entscheidungen jenseits von Sonntagsreden eine untergeordnete Rolle. Nach der Krise ist sie die erste Kürzungsoption, die keine Wertschätzung als notwendiger weicher Standortfaktor mehr erfährt, sondern erneut freiwillige Kostenstelle, die infrage gestellt werden kann. Die harte Infrastruktur wird als Hebel neuerlichen Wachstums gefördert: Verkehrsprojekte, Gewerbeentwicklung, Wohnen, ggf. noch Schulen und Kindertagesstätten – Kultur darf erst dann wieder Ansprüche anmelden, wenn Gesellschaft und Ökonomie wieder im Wachstumsmodus brummen.

Eine Frage der Wertschätzung

Doch nicht nur die politische Ebene, auch das Publikum bringt den kulturellen Nöten gegenwärtig wenig Wertschätzung entgegen. Sicher, wir erinnern uns an den Applaus für Balkonkonzerte vor einem Jahr und kennen die über die sog. „sozialen“ Medien und in Gesprächen immer wieder geäußerte Sehnsucht nach Kino, Konzerten und Cluberlebnissen. Dagegen beispielhaft die Erfahrung: Vorhandene Möglichkeiten, auch online Künstler*innen für ihre Arbeit zu bezahlen anstatt kostenlos zu streamen (oder über Streamingdienste, die Künstler*innen kaum Tantiemen überweisen), werden sowohl spärlich genutzt als auch verhalten angeboten. Wie stark ist tatsächlich die Bereitschaft, Kultur nicht nur in Anspruch zu nehmen, sondern ihren Wert zu schätzen?

Nach einem Jahr Pandemie ist der Kulturbereich schwer angeschlagen und für den Neuanfang schlecht aufgestellt. Persönliche Erschöpfung, wirtschaftliche Insolvenz, berufliche Umorientierung in immer breiterer Bahn kommen hinzu, die Resilienz einzelner Akteur*innen wird zwischen ökonomischer Katastrophe und immer wieder verschobenem Neubeginn zerrieben. Neue Argumente entgegen der oben benannten Verknüpfung zwischen Wachstum und Kultur wirken zunächst schal und verbraucht. In diesem Licht ist die starke Bewegung aus der Soziokultur heraus gegen erste pandemiebedingte kommunale Haushaltssicherungskonzepte wie in einzelnen Kommunen in NRW oder gar in den vergleichsweise wohlhabenden kleinen Großstädten Bamberg oder Jena nicht zu unterschätzen. Sie bietet einen mit der Beständigkeit der eingangs erwähnten aktivistischen Bewegungen vergleichbarer Hoffnungsschimmer.

II. Bewegung

Wie gelingt nun der Neuanfang? Und wie können wir jenseits der Wachstumslogik die Frage beantworten, was Kultur als Sinnstifter und Raumöffner innewohnt? Dazu einige bewusst nur assoziative Denkanstöße:

Heilung

Wir werden alle verwirrt, fragend und verletzt aus dem Coronageschehen herausgehen. Psychische und seelische Verfasstheit, materielle Existenz und physische Gesundheit – all dies wird bei vielen von uns zur Disposition stehen. Wir werden Räume und Zeiten zur Genesung brauchen, Formen, Bilder, Klänge, die zeigen können, was wir selbst nicht auszusprechen im Stande sind. Kultur und Künstler*innen haben nach den größten Unheilen immer ihre zentralsten Arbeiten schaffen können.

Ob Dante Alighieri in den Krisen des Mittelalters, Heinrich Schütz nach dem 30jährigen Krieg, oder u.a. Wolfgang Borchert, Inge Müller, Heinrich Böll, Günter Eich und Ingeborg Bachmann nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs. Auch diesmal müssen wir nicht befürchten, dass solche kulturellen Würfe nicht entstehen werden – und auch nicht bangen, dass sie ihr Publikum finden werden, dem sie bei der Bewältigung des Erlebten helfen werden. Was könnte dies für kulturpolitische Akteur*innen bedeuten? Wäre es vielleicht eine Möglichkeit, analog früherer Themenjahre die Nachpandemiejahre 2022/23 zu Jahren der Heilung zu erklären und die Förderprogramme danach auszurichten, Orte, Ereignisse und Zeiten für diese heilsame Begegnung zu organisieren?

Resilienz

Doch Heilung ist noch an einer anderen Stelle nötig: Gerade die Künstler*innen (und auch das begleitende Kreativgewerbe) sind durch die gegenwärtige Krise verletzt. All das oben Beschriebe trifft sie in einem besonderen Maße, ihre existentielle Not und deren Missachtung sitzen als materielle und symbolisch-emotionale Erfahrungen tief. Jetzt gerade in ihre Krise hinein zu sparen, wird ihren Existenzkampf endgültig zum Scheitern verurteilen. Stattdessen sind sogar zusätzliche Hilfen für den Wiederaufbau nötig – auch auf kommunaler Ebene. Förderprogramme, mit denen wohl eher selten zu rechnen ist. Dennoch muss in der Folge der Krise überlegt werden, wie der Kulturbereich mehr Resilienz gegenüber zukünftigen Krisen aufbauen kann.

Es gilt, dieses Thema als eines der Themen der kommenden Jahre zu benennen, sowohl innerhalb der Kulturbetriebe, als auch in der Kulturpolitik. Ohne Bearbeitung dieses Themas wird sich die gegenwärtige Katastrophe in der Kultur wiederholen. In diesem Zuge bleibt immer wieder darauf hinzuweisen, dass Kultur ihrerseits in empirisch belegtem Maß resilienzbildend auf Einzelne und die Gesellschaft als Ganzes wirkt. Ihre Abwesenheit in der Pandemie, selbst als passiv vermisstes Gut, ist momentan in aller Munde.

Qualität

Daher sind wir überzeugt: Will sich die Kultur aus dem ökonomischen Wachstumsdenken lösen, gelingt dies nur, indem sie sich selbst ökonomischen Bewertungsmaßstäben und funktioneller Verwertung entzieht. Als einziges Bewertungskriterium bliebe die Qualität der Kunst selbst. Ein umstrittenes Diktum, entlang der Grenze zur Lagerbildung und zum Geschmäcklerischen. Dennoch plädieren wir für den stetigen Versuch der Versachlichung der entsprechend zu führenden Debatten: Jede Form lässt sich wenigstens im Abgleich des künstlerischen Ziels mit den gewählten Mitteln und der Konsequenz ihrer Durchführung diskutieren. Nimmt man dies im politischen Raum ernst, kann jedoch die Politik Kultur schlecht bewerten, sie wäre noch mehr als bisher von fachlicher Expertise von außen angewiesen.

Eine radikale Konsequenz wäre es, Kulturförderentscheidungen konsequent an externe, divers zusammen gesetzte Fachgremien zu delegieren, im letzten Schritt auch die Erarbeitung von Kulturentwicklungsplänen sowie der darin beschriebenen Entwicklungsschritte samt benannter Bedarfe externen Fachgremien oder sogar den Akteur*innen selbst zu überlassen. Dafür Modelle für die Kultur jenseits der gegenwärtigen politischen Gremien zu erarbeiten, könnte das Ziel einer Diskussion der kommenden Jahre werden – das Ziel einer längst überfälligen kulturpolitischen Debatte, die daraufhin in Richtung zweier ebenso fragmentarischer gedanklicher Ansätze verlaufen könnte, wie wir sie in den nächsten beiden Anstrichen formulieren:

Radikale Subjektivität

Wie können wir in Ausstellungen, Aufführungen und Programmen künstlerische Positionen und subjektive Ansätze stärken? Wir glauben: Löst sich Kultur stärker von ökonomischen Zielen, kann Kunst wieder der Raum werden, in dem Subjektivität radikal möglich ist. Entstehung und Rezeption wird in erster Linie ein individueller Prozess, der sich objektivierender Verwertung entzieht. Durch subjektive Sichtweisen und Aneignungen kann ein wacher Blick auf die eigene Person und die der anderen gewonnen werden, auf die eigene fragile Existenz und die fragile Existenz der Umgebung, die persönliche Krisenbewältigung und Transformation und die der Anderen.

Nur auf dem Weg des Bekenntnisses von Subjektivität in der Kultur kann auch die zunehmende Diversität unserer Gesellschaft widergespiegelt werden. Wir bemühen dazu zwar keinen intersektionalen Ansatz, aber gerade angesichts der derzeitigen Identitätsdebatten kann eine radikal subjektive Kunst abseits festgefahrener Fronten ihren eigenen Beitrag leisten – und vor allem eins: wirklich beim jeweils realen Individuum mit ihrer/seiner Geschichte und Prägung, ihren/seinen Gefühlen und Gedanken bleiben.

Radikale Objektivität

Und gleich widersprechen wir uns: Wollen wir nicht gerade eine wissenschaftsgeleitete Politik, insbesondere in der Gegenwart von Klimawandel und Pandemie? Und geht es nicht bei Wissenschaft um nachvollziehbare, überprüfbare Erkenntnisse, um Nachweise, Belege, Fakten? Vielleicht ist es gerade in einer Wissensgesellschaft wie der bundesrepublikanischen eine spannende Möglichkeit, Subjektivität der Kultur und Objektivität der Wissenschaft in ein spannungsreiches, wechselseitiges Gespräch zu bringen? Wissenschaft böte der Kultur inhaltliche Relevanz; Kultur böte der Wissenschaft gesellschaftliche Resonanz. Wirklich spannend werden entsprechende transdisziplinäre Diskurs- und Festivalformate, wenn Kultur nicht für Illustration oder Vermarktung benutzt wird, sondern beide Seiten ihr eigenes Recht behalten, sich auf Augenhöhe begegnen und unterschiedliche Wege der Erkenntnis und Verwirklichung mit einander durchspielen.

Urbanität

Auf diese Weise gälte es, in die wesentlichen Spannungsfelder unserer Zeit einzusteigen. Urbanität kulturell neu zu denken, hieße, zunächst existierende Konflikte und Divergenzen der Städte als die zentrale gesellschaftliche Größe unserer Zeit zu benennen und sichtbar zu machen, die sie sind. Sie neu zu denken, hieße, zu verdeutlichen, dass es unterschiedliche gegensätzliche Interessenlagen, soziale, politische und kulturelle Anliegen gibt, die nicht wegmoderierbar sind. Verlassene Fabrikgelände sind zunächst keine neue Kulisse für Ateliers und Kreativwirtschaft, sondern können und sollten als unmittelbares Zeugnis ehemaliger, gescheiterter Industrie und abgebauter Arbeitsplätze mit all ihren Folgen benannt werden – glatte Fassaden und betonierte Flächen sollten nicht als neue, nutzbare Stadträume, sondern zunächst als anonyme Leerflächen für sich selbst stehen. Um wie viel mehr wird dies für verlassene Ladenflächen und unwirtliche öffentliche Räume in der Folge ihrer Nichtnutzung während der langen Monate der Pandemie gelten?

Urbanität würde so erst einmal nicht die Schönheit der Stadt bedeuten – sondern im ästhetischen Sinn die Benennung, Sichtbarmachung, gar Inszenierung des Konfliktes ihrer Bevölkerungsgruppen und dessen vielfältige Hintergründe. Im Bewusstsein, dass es in dieser Auseinandersetzung Verlierer*innen und Gewinner*innen gibt und kein allseits befriedigendes Verhandlungsergebnis möglich ist, sind es Kunst und kulturelle Äußerungen, die einseitige Parteinahme wiederentdecken (und nicht Gegensätzlichkeit verschönen). Erst darüber werden auch verbindende Elemente wieder sichtbar.

Zur Illustration dieser etwas abstrakten Überlegung zwei Beispiele aus dem ehemaligen Textilindustriezentrum Łódź, der zweitgrößten Stadt Polens. Hier dienen z.B. Murales (großflächige Wandmalereien) nicht (nur) der Verschönerung der Stadt, sondern offenbaren deren Verletzlichkeit und ihre Untiefen.

Daneben haben sie ein Zeichen der Verbundenheit der Menschen mit ihrer Stadt manifestieren können. Der Hauptboulevard der Stadt, die Piotrkowska-Straße, wurde mit Steinen ausgeschlagen; zu lesen sind die Namen von Bürger*innen, die für die Stadtgesellschaft einen Beitrag geleistet haben. Eine im doppelten Wortsinne niedrigschwellige Arbeit. Derzeit sind dort über 10.000 Platten zu sehen; hunderte weitere kommen jedes Jahr dazu. Wie könnten solche Zeichen in NRW, Bamberg oder Jena aussehen? Wie können die dortigen urbanen Konflikte kulturell sichtbar gemacht werden?

Rückbindung

Zu Entwicklung, Aufbruch und Transformation der Kultur brauchen Kunst und Kultur nicht nur progressive, sondern auch konservative Kräfte. Feste Konfliktlinien mögen künstlerisch inspirierend und dem eigenen (partei)politischen Selbstgefühl entgegenkommen, gesellschaftlich und kulturpolitisch jedoch verzögern und verhindern sie notwendige Entscheidungen und Projektentwicklungen. Nach der Pionierarbeit der Freien Szene und Soziokultur ab den 1960er Jahren, nach der Neuen Kulturpolitik einer Kultur für Alle ab den 1970er Jahren waren in den 00er und 10er Jahren Entwicklungen der freien Kultur, neue Konzepte und Angebote auch deswegen möglich, weil auch die konservativen Bildungsbürger*innen und Kulturpolitiker*innen in Gespräche zur Kulturentwicklung eingebunden und nicht ausgegrenzt wurden (was mehrheitstechnisch vielerorts möglich gewesen wäre).

Es herrschte, neben immer wieder zermürbenden Debatten, eine gegenseitige Anerkennung eines dialogischen Kulturverständnisses, sich verändernder Hör- und Sehgewohnheiten, sodass Konservative für Freiräume für neue, aktuelle Kunst gewonnen werden konnten. Wer hätte vor 50 Jahren gedacht, dass John Cage oder Joseph Beuys eines Tages zu Lieblingen auch der hochkulturellen Institutionen oder des konservativen Feuilletons werden? Erstaunlicherweise entdeckt gleichzeitig die progressive Seite beim Blick zurück wiederkehrende Sichtweisen und Denkmuster:

Was lässt sich angesichts der aktuell laufenden aktivistischen Diskurse von der lebensreformerischen Ganzheitlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts, dem Getriebensein der 1920er, was von den Utopien, Protest- und Aktionsformen nach 1968 in Berkeley, Westberlin oder Prag, was von den kulturellen und politisierten Dissidenzen und Renitenzen in der ostdeutschen Diktatur und anderen osteuropäische Staaten der 1970er und 80er Jahre lernen?  Wie prägen diese Entwürfe und Aktionen Widerständigkeit und Aufbruch gegenüber dem Zeitgeist und verdeutlichen Wege, notwendige, umstürzende Veränderungen in Gesellschaft und Stadt auch künstlerisch auszudrücken?

Rückbesinnung

Zur Rückbindung gehört die Rückbesinnung auf die dunklen Seiten von National- und Stadtgeschichte. Zunächst scheint die bundesrepublikanische Gedenkkultur hier gut aufgestellt – regelmäßige (selbst)kritische Debatten, jährliche Gedenktage und Stadtgeschichtstage, Stolpersteine, NS- und DDR-Aufarbeitungsinstitutionen u.a.m. Und doch wird in Stadt und Staat Vergangenes immer wieder aufs Neue erratisch diskutiert – im Zeichen der aktuellen identitätspolitischen und postkolonialen Debatten oftmals einhergehend mit materiellen und symbolischen Aneignungskämpfen um Deutungshoheiten, Infragestellungen neuer Erkenntnisse und politischer Profilierungsbemühungen verschiedener Beteiligter.

Wir betrachten das Feld der Erinnerungskultur und Gedenkarbeit in einer sich stark diversifizierenden Gesellschaft als einen der Schlüsselmomente der kulturellen Entwicklung nach der Pandemie. Bei aller berechtigen Forderung nach Berücksichtigung marginaliserter Perspektiven benötigt die Debatte dennoch auch weiterhin das stete Bemühen um rationale Argumente, gegenseitigen Respekt und – abseits von jeglicher Moralisierung und Emotionalisierung – die Trennung von Person und Sache. Rückbesinnung braucht Struktur, Verlässlichkeit, Augenhöhe untereinander und Langatmigkeit. Dieser Anspruch ist und bleibt mühevoll, solange Aufarbeitung mit Sprechenlassen von Fakten, Differenzierung und Überzeugen verbunden wird.

Sehen, was ist: Die*der Kulturpolitiker*in als Künstler*in?

Beginnen wir daher bei uns selbst: Progressive Kulturpolitiker*innen sehen sich gegenwärtig als Ermöglicher*innen. Sie stellen Räume für Kultur zur Verfügung, Ressourcen für deren Ermöglichung, Proviant für die künstlerische Reise. Sie tun dies scheinbar selbstlos – für Andere. Das klingt zunächst positiv – Kulturpolitik wird so nicht als Durchsetzung einer eigenen ideologischen oder ökonomischen Agenda verstanden. Doch zugleich besteht die Gefahr, sich damit auf pragmatistische und technizistische Positionen zurückzuziehen, die im Wettstreit mit anderen politischen Zielen verhandelt werden.

Wie mag es sein, wenn die Kulturverantwortlichen ihre Arbeit selbst als kulturelle Äußerung, als künstlerische Aktion begreift? Könnten in der Kulturpolitik dann Begriffe wie Ambition, Scheitern, kreatives Handeln, Berührtsein, das Zulassen poetischer Situationen, von Lücken eine stärkere Rolle spielen? Worin bestünden dann die künstlerischen Ansprüche, die Materialien, Bezugsrahmen, Selbstverwirklichungen? Wie würden die anderen Politiker*innen darauf reagieren? Würden diese künstlerischen Kulturpolitiker*innen auch so unmittelbar und radikal ihre Werke verteidigen wie Künstler*innen? Eines würde sicherlich geschehen: Sie könnten mit den Künstler*innen wieder auf einer anderen Ebene, auf deren eigenen Ebene, sprechen.

Intensität vs Depression

Doch das Staccato und die Lautstärke des gegenwärtigen Kulturbetriebes – und auch dieser, unserer Gedanken – mag noch einen anderen Hintergrund haben. Menschen mit Depressionen kennen diese Momente, wenn eine gläserne Gummiglocke die eigenen Sinne abschirmt, Eindrücke, Emotionen, Signale das Innere nicht mehr erreichen, die innere Schwingung nicht mehr auf Äußeres antwortet. In solchen Situationen mögen Betroffene oder deren Umfeld verleitet werden, die Regler aufzudrehen, das Tempo zu erhöhen um wieder etwas zu spüren. Doch dieser Reflex nützt nichts, zumindest nicht auf Dauer. Helfen kann vielleicht das Gegenteil: der Abstand zu sich, um sich zu verstehen und sich zu verzeihen, die Verlangsamung, das Leiserwerden, das Zulassen von Trauer als Kraft. Intensität statt Tempo, Bei-sich-sein statt Anerkennung. Ein Moment der Heilung vielleicht auch im Raum der Kunst.

Heimat

In der Kultur kann somit etwas Neues entstehen, das wir mit dem alten und mittlerweile von anderen politischen Kräften missbrauchten Wort Heimat verbinden möchten. Heimat kann verschieden verstanden werden, als Herkunft, als Verortung in Raum und Zeit, als kulturelle Identität, neurobiologisch als Unmenge von Engrammen, die mit einem Ort verbunden sind, als politische Zugehörigkeit, als Verweis ins Jenseits, als individuelles Empfinden… Wir möchten für unsere Kultur die utopische Interpretation von Ernst Bloch zitieren und dann umformulieren:

»Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt, sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 5. Teil / Kap. 55, S. 1628, Frankfurt a.M., 1985)

Wenn wir beginnen, Kultur als Utopie zu sehen, arbeitend und schaffend, die Gegebenheiten umbildend und uns mit ihr an unsere Wurzel fassen, und dies für uns und doch im Miteinander tun, gehen wir auf etwas zu, das uns seit Kindheitstagen her scheint, was in uns sehnt und wo wir noch nicht sind – und was uns doch wohl immer schon umgibt: Heimat.

III. Resonanz

Kehren wir also dorthin zurück, wo wir noch nicht sind: Zu uns. Die Basis für diesen Mut, diesen Geist des Aufbruchs ist und bleibt die Stabilität der institutionellen Förderung, der institutionellen Grundausstattung der Kulturfinanzierung, der Kulturinstitutionen selbst. Ohne sie ist weder die Gestaltung der eingangs beschrieben Grunddynamik der laufenden großen, noch die Verwirklichung der im Laufe des Textes beschriebenen kleineren Transformationen irgend möglich.

Wir glauben, dass ein wesentlicher Teil des aktuellen Transformationsdiskurses an der Kultur als Betrieb vorbeiläuft. Die Dynamik im Schlagabtausch von Künstler*innen und Publikum mit- und jeweils untereinander überfährt viele Möglichkeiten der notwendigen Organisationsentwicklung der Kulturinstitutionen. Sinnbildlich zugespitzt im Brennglas der letzten Monate: Während einerseits ein regelrechter Kulturkampf im Feuilleton tobt, beschäftigen sich Geschäftsführungen und Belegschaften andererseits mit dem eigenen Fortbestehen, stecken wahlweise in Kurzarbeit oder im Home Office.

Kultur und Resonanz

Mit dem Jenaer Soziologen Hartmut Rosa knüpfen wir in diesem Zusammenhang an eine der ureigensten Erfahrungen sowohl beim Erleben, als auch bei der Kreation von Kultur an: Die Rede ist von Resonanz als Selbst(wirksamkeits)erfahrung und Intensitätsereignis in der Rückkoppelung des Einzelnen mit der Welt. Jeder Mensch kennt diese grundhaften Erlebnisse des Eins-Werdens mit seiner Umwelt, sei es im familiären und sozialen Raum, inmitten der Natur, beim Sport oder in der Religion. In seiner Resonanztheorie beschreibt Hartmut Rosa auch sogenannte Resonanzachsen der Produktion und der Rezeption von Kunst und Kultur.

Eine allgemein bekannte eindrückliche Beschreibung dieser oftmals gemeinschaftlich erlebten Resonanz ist etwa das Singen im Chor und das daraus entstehende Potential einer kollektiven Performanz und Intensität. Umgekehrt erinnert sich rein empirisch betrachtet jede*r an Konzert- oder Theaterabende, an Ausstellungsbesuche, Lese- oder Filmerlebnisse, bei denen das Gefühl der direkten Verbindung der einzelnen Zuschauer*innen oder gar der kollektiven Erfahrung eines Publikums im Hier und Jetzt des Kosmos eines Kunstwerks entstand. Mystiker*innen beschreiben solche Erfahrungen als Räume, die sich in und durch Kultur für innere Wege und Erkenntnisse öffnen, als Räume zwischen Entsagung des Eigenen, Entfernung von täglichem Getriebensein und des Einlassens auf etwas Unbekanntes, der Erfahrung einer unmittelbaren Begegnung. Dazu muss man nicht gläubig sein, diese Seite ist der Kultur eigen. Wir erinnern uns und fragen uns gegenseitig: Weiß Du auch noch, wie das war, als Du das erste Mal Radiohead gehört hast/ Tarkowskij gesehen/ das ensemble resonanz live erlebt hast?!

Drei Resonanzachsen

Neben diesen Beschreibungen von Resonanz bei der Kreation oder beim Erleben von Kunst und Kultur fehlt eine dritte Resonanzachse. Während die Kreation eine vertikalen Achse bildet, auch im Sinne der Rückbindung der künstlerischen Praxis an Traditionen und Wissen des jeweiligen Genres, lässt sich im Hinblick auf Zugänglichkeit und Rezeption des Publikums von einer horizontalen Achse sprechen, die auf dem Weg eines gemeinschaftlichen Erlebens gesellschaftliche Unterschiede inkludiert und zu einer temporären Kontingenz, Offenheit im Sinne einer flachen Hierarchie führt.

Diesen beiden Resonanzachsen fehlt eine dritte Dimension, die der Übersetzer*innen, der Brückenbauer*innen – die Dimension der Kunstinstitution, des Kulturbetriebs. Anders als bei Hartmut Rosa würden wir diese diagonale, oder Z-Achse im Kulturbetrieb verorten. Kunst- und Kulturinstitutionen sind nicht irgendwelche Betriebe. Sie sind die dritte Resonanzachse als Gelingensbedingung für das Ereignis der Entgrenzung und Resonanz von Kunst. Nur wenn das dort geteilte Wissen, die dort tradierte Erfahrung als stetig experimentierende Institution und lernende Organisation selbst in ein Resonanzverhältnis zur Produktion und Rezeption von Kunst gebracht werden, entstehen außergewöhnliche Situationen, gar Epochen, wie sie post coronam wieder möglich sein könnten und nötig sein werden.

Kunst und Institutionen

Am Ende des ersten Teils von Christoph Menkes »Kraft der Kunst« gibt es ein kurzes, kleines, aber entscheidendes Post Scriptum. Menke spricht darin vom Spannungsverhältnis zwischen Kulturinstitutionen und Künstler*innen. Ausgerechnet am Beispiel des Grünen (Bayreuther) Hügels beschreibt er das Wechselspiel zwischen der ungerichteten, unbändigen Kraft der Künste und der formenden, organisierenden Hand der Institution. Anhand von Friedrich Nietzsches Antikenrezeption der »Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik« lassen sich hier zwei Kraftfelder ausmachen, die in einer fruchtbaren Reibung miteinander stehen: Die dionysische und maßlose Kraft der Kunst begreift die künstlerische Arbeit als exzentrischen, immer weiter suchenden, nie zufriedenen Prozess; das apollinische Vermögen der Institution mit all ihren räumlichen, zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen ermöglicht und begrenzt diese.

Ohne das Setzen von Rahmenbedingungen wie Budgets und Terminen, der Organisation von Kommunikation sowohl in internen Abläufen, als auch in Form von Marketing und Vermittlung gegenüber der Öffentlichkeit, käme es nie zur Veröffentlichung, zur Vernissage, zur Premiere. Unterschätzen wir nicht die darin liegende besondere Resonanzqualität einer Institution, die jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit künstlerischen Produktionsprozessen mitbringt! Man denke nur an die in der kulturpolitischen Debatte als durchweg positiv beschriebene, von allen Tarifparteien politisch stets heftig verteidigte und auf der Aufnahme-Liste des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO stehende deutschsprachige Orchester- und Theaterlandschaft mit ihren zwei wesentlichen weltweiten Alleinstellungsmerkmalen: der fest angestellten Ensembles und des im Rahmen einer Stadtgesellschaft verorteten Repertoire-Spielbetriebs.

Kurzum: Kunst und Institution, damit auch Kunst und Publikum, stehen in einem paradoxen Verhältnis zueinander: Einerseits die wuchernde, frei-radikale, chaotische, dionysische Kraft der Kunst; andererseits der formende, organisierende, übersetzende, apollinische Rahmen der Institution für ein Publikum. Beide Seiten brauchen einander und stehen daher in einem für beider Erfolg unabdingbaren wechselseitigen Kräftemessen. Vergessen wir also nicht die Dimension des Betriebs als Resonanzachse und Gelingensbedingung für die Produktion und das Erlebnis von Kunst und Kultur!

Der resonante Kulturbetrieb

Werden wir zum Abschluss noch etwas konkreter und deuten an, welche praktischen Auswirkungen ein derartig alteriertes Verständnis der Kulturbetriebe als Resonanzkörper mit sich bringen müsste.  Aus unserer Sicht kommt es auf nichts mehr oder weniger an, als darauf, die Arbeit innerhalb der Betriebe gänzlich und ganzheitlich neu zu organisieren:

Das beginnt bei einer rationalen, aber nie in die Freiheit der Kunst eingreifenden Kulturpolitik, die sich für die Kompetenzen – nicht nur die künstlerischen oder wissenschaftlichen, sondern vor allem die Führungs- und Changekompetenzen – des von ihr auszuwählenden und eng zu begleitenden Führungspersonals interessiert, die sich anhand der Instrumente von Kulturentwicklungsplänen mit klaren Visionssetzungen und Zielstellungen auseinandersetzt, sich für die Gestaltung und Entwicklung von Personal und Organisation der Kulturbetriebe interessiert und diese mittels Rahmenplänen und -verträgen sowie Zielvereinbarungen begleitet und forciert. Und zugleich eine eigene künstlerische Sprache findet, die – wie oben beschrieben – selbst Ambition, Berührtsein und Scheitern zulässt.

Das geht über ein neues Selbstverständnis von Personal- und Organisationsentwicklung, das die Leitungskräfte dazu empowert, sich Neue Arbeit (sog. „New Work“) im Rahmen flacher Formen der Selbstverständigung zu eigen zu machen, das auf die überzeugende Sinnhaftigkeit gemeinsam gesteckter Ziele und daraus entstehende intrinsische Motivation der Mitarbeiter*innen setzt, die Mitarbeiter*innen also nicht als Instrumente begreift, sondern sie als Organismus des Kulturbetriebs pflegt und diese Ressourcen als stetig zu regenerierende Quellen versteht.

Das reicht bis hin zur intrinsisch motivierten Selbstorganisation und -führung der Mitarbeiter*innen selbst, die ihre Arbeit als sinnhaft erleben und eigenverantwortlich in ihre Hände nehmen, bis hin also zu einem Verständnis von Arbeit als künstlerischem Prozess im weitesten Sinn (wie oft wurde doch Joseph Beuys mit seinem berühmt-berüchtigten Satz, jeder Mensch sei ein Künstler, genau an dieser Stelle missverstanden!) und einem daraus entstehenden gänzlich gewandelten Binnenklima des Kulturbetriebs der Zukunft.

Nochmal: Kulturbetriebe sind nicht einfach irgendwelche Betriebe. Sie sind die Grundlage, das größte, das bleibendste Risiko, aber auch die größte, stabilste Chance für die Entfaltung von Kunst. Es gilt, sie genau so sehr in eine innere Resonanz zu versetzen wie die Kunst und ihr Publikum!

IV Coda im Dreiklang

Kurz gefasst möchten wir die notwendige und längst laufende Transformation von Kunst, Kultur und des Kulturbetriebs auf die einfache Formel eines Dreiklangs bringen: Relevanz, Resilienz, Resonanz. Damit beschreiben wir nicht nur die drei zentralen Begriffe der kulturpolitischen Diskussion in der Pandemie, sondern auch den groben Verlauf, die großen Züge der Debatte der letzten 20 Jahre. Seit den 2000er Jahren war die kulturpolitische Debatte von der Frage nach der Relevanz, nach der Welthaltigkeit von Kunst und Kultur, geprägt. Immerzu ging es um eine rechtfertigende, funktionalisierende Selbstbehauptung des Kulturbetriebs:

Kunst als Standortfaktor, Kunst für die Umlagerentabilität, Kunst als sozialer Kitt einer Teilhabe Aller. Nie allerdings: Kunst als eigenlogischer Selbstzweck. Parallel dazu lief und läuft die schleichende Implosion, der verkappte Infarkt der Betriebe, deren Ressourcen kaum so nachhaltig gesteigert wurden, dass sie den immer neuen Ansprüchen an Öffnung und Diversifizierung, an Digitalisierung und Innovation gerecht werden konnten.

Spätestens seit Beginn der Pandemie geht es nun um die Resilienz, schlicht und ergreifend die Widerstandsfähigkeit und den Überlebenswillen von Kunst und Kultur. Letztlich aber führt auch diese Diskussion auf die einfachste und zugleich schwierigste aller kulturpolitischen Fragen hinaus: Was sind uns Kunst und Kultur als Gesellschaft wert? Was sind wir bereit, zu ihrem Unterhalt an Ressourcen beizutragen? Mit dieser Frage kommen wir zur Urerfahrung, unser ursprünglichsten Motivation von und für Kunst und Kultur zurück:

Zur Erfahrung von Resonanz, sowohl auf der Ebene der künstlerischen, als auch der institutionellen Produktion, sowie ihrer Rezeption auf Seiten des Publikums. In der Balance dieser drei Resonanzachsen, zwischen Künstler*innen, Institution und Zuschauer*innen, erweist sich der Kunst- und Kulturbetrieb der Zukunft; in der Balance dieser drei Diskursfelder, zwischen Relevanz, Resilienz und Resonanz erweist sich die Kulturpolitik der Zukunft.



Autoren

(c) privat

(c) Matthias Eckert

Tilo Schieck, geboren 1964 in Leipzig, aufgewachsen in Arnstadt / Thüringen. Studium der Landwirtschaft in Halle in der 80ern (konnte aus politischen Gründen nicht beendet werden), Studium der Theologie in Jena (aus persönlicher Entscheidung nicht beendet). Seit über 20 Jahren in einem Jenaer Hightech-Unternehmen der Optikbranche tätig. Politisiert in den 80er Jahren in der DDR-Opposition (Friedenskreise, Theaterarbeit …). 1989-1994 bei den Reformprozessen an der Jenaer Universität in verschiedenen Ämtern…. 1994-2019 kommunalpolitisch tätig, Stadtrat, Schwerpunkt Kulturpolitik (u.a. 2009-2019 Werkausschussvorsitzender JenaKultur), seit einigen Jahren auch fotografisch unterwegs.

Jonas Zipf studierte Psychologie in Berlin und Paris sowie Sprech- und Musiktheaterregie in München. Als Dramaturg und Regisseur arbeitete er für eine Vielzahl von Produktionen in In- und Ausland (u.a. Thalia Theater Hamburg, Schaubühne Berlin, Schauspielhaus Zürich, Theater Basel, Alfortville Paris, Wagenhallen Stuttgart, Staatstheater Mainz, Wiesbaden Biennale). Von 2011 bis 2013 war er leitender Dramaturg am Theaterhaus Jena und in der Spielzeit 2014/15 Schauspieldirektor am Staatstheater Darmstadt. Er arbeitete als Festival-Kurator (Rodeo-Festival München, Datterich-Festival Darmstadt) und Lehrbeauftragter (u.a. LMU München, HfMT Leipzig, TU  Darmstadt, JGU Frankfurt, JGU Mainz, FSU Jena). Seit Juli 2016 ist er als sog. Werkleiter des städt. Eigenbetriebs JenaKultur der Kulturverantwortliche der Stadt Jena; seit 2020 Präsident des Thüringer des Kulturrats.