Kulturförderung 2040

Joël Luc Cachelin

4. August 2021

Kulturförderung befindet sich in einem stetigen Wandel. Megatrends wie die Digitalisierung, die Urbanisierung oder die grüne Transformation verändern nicht nur die gesellschaftlichen Herausforderungen und damit die Fragestellungen, mit denen sich Kulturschaffende beschäftigen. Genauso schaffen sie neue künstlerische Ausdrucksformen und kulturelle Speicher. Schließlich etablieren sie neue Ansätze, wie Politik, Wirtschaft, Stiftungen oder auch Privatpersonen das kulturelle Schaffen unterstützen.

Vor gut zwei Jahren unternahm ich im Auftrag des Forums für Kultur und Ökonomie eine Reise in das Jahr 2040 – und setzte mich auf dieser Zeitreise mit den Trends, den Kulturformen und Szenarien der künftigen Kulturförderung auseinander. Etwa mit der Unterstützung von Künstler*innenkollektiven, entscheidenden Algorithmen oder der Förderung von Kultur im Untergrund. Doch was war damals mein Fazit dieses Ausflugs in die Zukunft – kurz bevor das Corona-Virus uns mit ganz neuen Fragen konfrontierte?

Kulturförderung stärkt das Alternative und Nichtökonomische

In der Logik der Märkte der Zukunft zählt die Rendite. Man misst sich am globalen Publikum, Skalierung ist gefragt. Will Kultur in diesem Kontext reüssieren, vernetzt sie sich international und folgt den entsprechenden Rastern. Aus europäischer Sicht sind Alternativen zu den Plattformen, Deutungsangeboten und Megastars aus China und den USA wünschenswert. Kulturförderung unterstützt die kritische Reflexion bestehender Angebote und pflegt den kreativen Nährboden für Alternativen. Weil aber im Skalieren Vielfalt, Nuancen, lokale Bezüge und Gesellschaftskritik verlorengehen, fördert sie genauso, was ökonomisch (noch) nicht funktioniert und sich der Logik der Skalierung entzieht: Das Unikat, das Unvollkommene, das nicht Vervielfachbare.

Kulturförderung leuchtet digitale und analoge Extreme aus

Die Wunderländer, in die wir reisen, in denen wir spielen, kulturellen Veranstaltung in Events und Simulationen beiwohnen, entwickeln sich in den nächsten 20 Jahren parallel in eine hyperdigitale und eine retro-analoge Richtung. In der digitalen Variante sind sie virtuell, hypervernetzt, vom Ort entkoppelt, von Maschinenwesen kreiert und bevölkert. Analog ausgeprägt sind die Wunderländer Räume der Begegnung, die wir mit all unseren Sinnen erfahren. Wir gehen bewusst offline, um nicht abgelenkt, beobachtet und vermessen zu werden. Beide Extreme haben ihren Reiz, spannend sind konsequente Kreuzungen. Um das Neue zu entdecken, hilft Kulturförderung, beide Extreme des menschlichen Habitats auszuloten, unterstützt Crossmediales und Übersetzungsleistungen: Augmented Reality, Digitalisierungsvorhaben, Prints des Digitalen.

Kulturförderung vertraut auf Expert*innen und Crowds

Crowds sind wie Expert*innen berechtigt zu wählen, welche Kultur sie fördern wollen. Dasselbe gilt für das Speichern der Vergangenheit – wenn es darum geht Geschichte zu schreiben, zu bestimmen, welche Bilder, Serien, Bauten, Cyborgs und Tweets wir in die Zukunft übertragen. Plakativ skizziert sind Crowds näher am Zeitgeist, digitalaffiner und geschickter darin, Ideen zu multiplizieren. Expert*innen haben umgekehrt einen besseren Überblick. Sie sind potenziell die besseren Hüter*innen von Diversität. Wollen sie diese Aufgabe glaubwürdig wahrnehmen, müssen die Instanzen der Kulturförderung jedoch ihre eigene Diversität kritisch prüfen. Bilden sie Frauen, die Jugend, die Hundertjährigen, den hyperdigitalen und grünen Zeitgeist, Einwandernde genügend ab?

Kulturförderung konzentriert sich auf die Infrastruktur einer kreativen Gesellschaft

Zu dieser Infrastruktur gehören Räume, in denen Kulturschaffende an ihren Werken arbeiten und auf ein Publikum treffen. Durch neue Kulturformen ändern sich die Anforderungen: Genauso wichtig, um kreative Potenziale zu entfalten, Resonanz zu erfahren und Diskurse auszutragen, ist die immaterielle Infrastruktur. Diese umfasst Zeit – um zu lesen, zu denken, zu diskutieren, auszuprobieren, zu entdecken. Zeit ist wertlos ohne die Möglichkeit, frei zu denken. Je konkreter Kulturförderung Ziele vorgibt oder verlangt, desto mehr schwinden die Freiräume. Eine kreative Gesellschaft braucht schließlich Institutionen und Räume des Wissens. Ohne Wissenschaft und Wissensspeicher vergisst sie, erkennt sie keine Optionen für die Zukunft.

Kulturförderung darf ein Experiment sein

Meist läuft (helvetische) Kulturförderung in geregelten Bahnen. Man definiert Kriterien – auch um sich abzusichern. Neue Wege ergeben sich durch neue Kriterien, um Förderentscheide zu treffen – nach Postleitzahl, Alter, Farbe des eingereichten Dossiers, thematisierten Megatrends, digitalen und analogen Extremen. Ganz neue Formen der Kultur und Kulturförderung helfen, bisher unbeachtete Personen für das Kulturelle zu begeistern. Sie könnten ein mehrjähriges Grundeinkommen umfassen oder den Auftrag, in Experimenten Utopien zu simulieren. Auch die zufällige Auswahl von Dokumentierenden der Vergangenheit, Gegenwartsdeutern und Erfinderinnen der Zukunft aus allen Bürgerinnen per Losentscheid könnte die Diversität des Kulturschaffens stärken.

Kulturförderung wagt ein neues Verhältnis zu den Geförderten

Dazu braucht es neue Rollen der Kulturförderung. Zu diesen gehört die Coachin. Sie beobachtet, gibt Feedback, begleitet, vernetzt. Zweitens könnte Kulturförderung als Dienstleistende den Geförderten Aufgaben abnehmen – als Budgetplaner*innen, Vermarktungsprofis, Influencer*innen. Drittens könnte Kulturförderung in einer gewerkschaftlichen Funktion die Interessen prekär arbeitender Kulturschaffender schützen. Auf einer Metaebene könnte Kulturförderung die Gestaltung der Zukunft und das Speichern der Vergangenheit moderieren. Sie lanciert einen Dialog, welche Infrastruktur, welche Aus- und Weiterbildung und Persönlichkeitsentwicklung, welche Reflexionsräume, welche Inhalte die Kultur braucht.

Kulturförderung begeistert für die Vergangenheit

Der Mensch lebt im Wandel. Das Neue interessiert ihn ungemein. Gewiss, es lockt, weil es neue Märkte und Machtformen bringt. Aber genauso vereinfacht es unsere Leben, es entstehen neue Perspektiven, es ist spannend, vertreibt die Langeweile, intensiviert. Kulturförderung könnte als Ergänzung zum Zukunftsfetisch das Interesse an der Vergangenheit wecken. Das erfordert neue Wege, um diese zu erleben, sowie ein Verständnis dafür, wie relativ und dynamisch Geschichte ist, wie vernetzt Personen, Orte, Entwicklungen waren. Neue Technologien etablieren neue Formen, um die Vergangenheit zu interpretieren, zu speichern, zu erleben, zu bereisen. Um von diesen zu profitieren, braucht es Mittel und Zeit, die anfallenden Informationen zu deuten.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der Studie »Kultur 2040 – Trends, Potenziale, Szenarien der Förderung«. Sie kann hier erworben werden.



Autor

(c) Carlos Meyer

Joël Luc Cachelin analysiert, strukturiert, kombiniert – als interdisziplinärer und multimedial tätiger Zeitreisender. 1981 in Bern geboren, führten ihn Studium, Promotion und Weiterbildung in den Disziplinen Betriebswirtschaftslehre, Technologiemanagement, Statistik und Geschichte an die Universitäten St. Gallen, Bern und Luzern sowie an die HWZ Zürich. Er begleitet und berät in Zukunftsfragen.