Zeit für Transformation(en). Notwenige Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik

Henning Mohr

30. September 2021

Die Kulturpolitische Gesellschaft positioniert sich seit Anfang 2021 als Think-Tank für die Transformation des Kulturbereichs. Es geht dem Verband darum, den Diskurs über Zukunftsfragen und die notwendige Orientierung an gesellschaftlichen Veränderungen zu stärken.

Angesichts einer Zunahme existentieller Krisen (Klimawandel, Corona-Pandemie) und sich verändernder Produktions- oder Rezeptionsgewohnheiten im Kontext vielfältiger, digitalisierter Lebenswirklichkeiten, können wir uns die Aufrechterhaltung eines veralteten Status quo im Handlungsfeld der Kultur schlicht nicht mehr erlauben. Die von vielen traditionsbewussten Führungskräften zurückgewünschte Normalität führt mehr denn je in Richtung Bedeutungslosigkeit. Es braucht dringend eine kritische Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Arbeitsweisen und die damit verbundene progressive Weiterentwicklung kultureller Infrastrukturen.

Aus diesem Grund ist es durchaus ein positives Signal, dass sich in vielen Kulturorganisationen bereits mehr oder weniger ernsthafte Reformbemühungen abzeichnen. Allerdings vollziehen sich diese in der Regel nur auf der programmatischen Ebene und haben selten nachhaltige strukturelle Konsequenzen in Bezug auf den Abbau von Hierarchien oder Machtasymmetrien, sich verändernde kollaborative Arbeitsabläufe im Querschnitt und die Etablierung neuer (Schnittstellen-)Funktionen.

Dabei sind gerade diese strukturentwickelnden Maßnahmen notwendig, um dauerhaft neue Arbeitsergebnisse möglich zu machen. Da derartige Strukturanpassungen in der Regel mit einer Neuverteilung von Macht, Kontrolle, Status und Deutungshoheit in den Institutionen verbunden sind, versuchen Führungskräfte diese zu vermeiden, um ihre eigene Stellung im System nicht zu gefährden. Derartige Veränderungen müssen deshalb von den jeweiligen kulturpolitischen Instanzen von außen eingefordert und begleitet werden. Für diese Entwicklung der (Infra-)Strukturen braucht es eigenständige Fördermittel, Unterstützungsleistungen und Anreize. An dieser Stelle offenbart sich die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels – hin zu einer Kulturpolitik der Transformation.

Der Begriff der Transformation beschreibt den gestaltenden Prozess der Veränderung. Entgegen eines veralteten Begriffsverständnis geht es dabei nicht mehr darum, dass sich ein System vom vorherrschenden Ist-Zustand zu einem ebenfalls fixen Soll-Zustand entwickelt. Angesichts der Schnelllebigkeit und Komplexität gesellschaftlicher Wirklichkeiten bedarf es vielmehr dauerhaft lernender Kulturverwaltungen oder -organisationen, die sich und ihre Arbeitsergebnisse immerwährend im Kontext verändernder Erwartungen reflektieren und diese entsprechend anpassen.

Die mit der Transformation verbundenen Prozesse sind dann nicht mehr temporär, sondern müssen zu einem eigenständigen Bestandteil des Organisationszwecks werden. Dafür braucht es in den Systemen nicht nur entsprechende Funktionsstellen, Handlungskontexte und Methoden, sondern auch ein Wissen über ein transformationsorientiertes Management. Letzteres ist besonders wichtig, da es im Kulturbereich an Kompetenzen und an einem gemeinsam geteilten Begriffsverständnis für die hier beschriebenen Prozesse der Neuausrichtung mangelt.

Viele Kulturmacher*innen diffamieren Transformationsthemen aufgrund einer angeblichen neoliberalen, rein wirtschaftsorientierten Geisteshaltung. Aus diesem Grund sind auch andere Begriffe aus diesem Feld – wie etwa Innovation, Kreativität oder Fortschritt – verpönt, und werden kaum bis nie verwendet. Nicht selten lautet der Vorwurf, dass es letztlich nur um Effizienzgewinne und damit um mögliche Begründungen einer Kürzung von Fördermitteln geht. Diese Kritik ist insofern paradox, da Prozesse der Erneuerung von den unterschiedlichen Stakeholdern (etwa dem Publikum, der Politik oder der Verwaltung) positiv bewertet werden. Tendenziell ließe sich somit eher eine zusätzliche Legitimation der Förderung(en) argumentieren.

Die Abwertung von Transformationsthemen dient in vielen Fällen vielmehr der Absicherung des Status quo. Gerade öffentlich geförderte Kulturinstitutionen sind besonders anfällig für strukturkonservative Haltungen. So führen unter anderem die dauerhafte Förderung, die hohe Machtzentrierung durch das Ideal künstlerischer Universalgenies, ein falsch verstandenes Konzept künstlerischer Freiheit sowie der ausgeprägte akademische Kanon zu einer enormen Selbstbezüglichkeit und einer Entkopplung von gesellschaftlichen Fragestellungen.

Für die Vertreter*innen von Kulturorganisationen gibt es keine wirklichen Verpflichtungen, die eigene gesellschaftliche Verantwortung zu reflektieren und sich dementsprechend zu positionieren. Davon profitieren derzeit insbesondere die oftmals rein fachlich ausgebildeten Führungskräfte, die in den Systemen noch zu oft entsprechend ihrer programmatischen Eigeninteressen agieren können. Mit ernsthaften – von Akteur*innen aus Kulturpolitik und Kulturverwaltung gleichermaßen eingeforderten – Transformationsbestrebungen ließe sich diese Innenorientierung aufbrechen.

Die sich stattdessen etablierende Außenorientierung wäre mit einer stärkeren Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen und damit zusammenhängend mit einer Ausrichtung an sich verändernden Bedarfen verbunden. Nicht ohne Grund wurde in den vergangenen Monaten viel über die gesellschaftliche Relevanz von Kulturproduktionen gesprochen. Diese ist der Kultur auf einer gesellschaftlichen Metaebene durchaus immanent, muss in der alltäglichen Praxis unter Berücksichtigung der Teilhabe möglichst vieler Menschen und unter der Bedingung einer Nutzung digitaler Technologien immer wieder neu unter Beweis gestellt bzw. verhandelt werden.

Hier offenbart sich die Aktualität der Forderung einer »Kultur für alle von allen«, die eine radikalere Publikumsorientierung voraussetzt. Daran anknüpfend muss eine transformationsorientierte Kulturpolitik einfordern, dass Kulturproduktionen viel deutlicher aus der Vermittlungsperspektive gedacht werden, da dieses Handlungsfeld den Wissenstransfer zwischen Produzentinnen und Rezipientinnen organisiert. Trotz jahrzehntelanger Debatten seit den 70er Jahren ist dieser Paradigmenwechsel nie ernsthaft eingeleitet worden.

Der Vermittlungsbereich ist bis heute fast immer der schwächste Organisationsteil, verfügt in der Regel über wenig Einfluss innerhalb der Institutionen und leidet unter prekärer Beschäftigung. Es ist an der Zeit, dass Kulturpolitiker*innen ihren Gestaltungsauftrag für eine Kulturpolitik der Transformation annehmen und die notwendige Weiterentwicklung kultureller Infrastrukturen einfordern. Daran anknüpfend müssen dauerhaft geförderte Institutionen in Bezug auf eine Anpassung an den gesellschaftlichen Wandel stärker in die Pflicht genommen und durch daran angepasste Förderprogramme entsprechend begleitet werden.

Ganz offensichtlich reicht es nicht mehr aus, einen großen Teil der nicht bereits gebundenen Finanzmittel alleine für künstlerisch-kreative Inhalte auszugeben. Gleichzeitig zeigt sich, dass eine projektförmige Transformationsförderung, die oft ebenfalls auf der Ebene des Programms ansetzt, viel zu selten nachhaltige Effekte erzielt. Stattdessen braucht es eine Strukturoffensive zur Stärkung von Transformationen im Kulturbereich.

Es ist bereits deutlich geworden, dass es dem Handlungsfeld der Kultur an Wissen über Transformationsthemen und die damit verbundenen Herangehensweisen mangelt. Im Kontext einer sich rasant verändernden Gesellschaft ist es durchaus problematisch, dass es in diesem Bereich keine Kultur der Weiterbildung gibt und in vielen Kulturorganisationen deshalb kaum Budgets dafür vorhanden sind.
Neben einer systematischen Förderung der Weiterentwicklung organisationaler Strukturen – etwa durch neue Funktionsstellen zur Strukturentwicklung – sind deshalb auch entsprechende Programme der Kompetenzentwicklung im Sinne von (kollegialen) Beratungen, Coachings oder Weiterbildungen notwendig.

Daran anknüpfend wäre es durchaus sinnvoll, wenn flächendeckend intermediäre Organisationen aufgebaut oder gestärkt werden, die Kulturmacher*innen bei der Neuausrichtung ihrer Kulturarbeit unterstützen. Diese neuen Institutionen könnten als Wissensspeicher dienen, Transformationsprozesse begleiten, das notwendige Methodenwissen vermitteln und themenspezifische Vernetzungen unterstützen. Durch den Aufbau derartiger Strukturen ließe sich zudem verhindern, dass diese Aufgaben an teure Agenturen aus der Wirtschaft ausgelagert werden.

Darüber hinaus sollte eine Strukturoffensive für Transformationen auch Maßnahmen zur Stärkung des Cultural Leaderships unterstützen. Bis heute existieren in Deutschland keine staatlich finanzierten Weiterbildungsangebote für Führungskräfte im Kulturbereich – und das obwohl das Leitungspersonal in der Regel oftmals deutlich zu programmatisch entsprechend eines akademischen Fachkanons ausgebildet ist und die Steuerung von Organisationen erst in der Praxis erlernt. Dadurch sind die aktuell notwendigen Transformationskompetenzen für die infrastrukturelle Weiterentwicklung der eigenen Systeme nach wie vor unterrepräsentiert.

Die Strukturoffensive sollte auch die Stärkung kommunaler Kulturverwaltungen als Trägerinstanzen vieler Kulturorganisationen beinhalten. Im Kontext der New Public Management-Bewegung der 1990er-Jahre wurde dieser Bereich in vielen Fällen an die Grenze der Arbeitsfähigkeit konsolidiert. Gerade in finanzschwachen Städten und Gemeinden mangelt es an Schnittstellenfunktionen, die Kulturmacher*innen (aus den Institutionen) bei der Qualifizierung und inhaltlichen Neuausrichtung begleiten. Durch entsprechende Unterstützungsleistungen könnten sich Kulturverwaltungen deutlich stärker als Moderator*innen des Wandels positionieren.

Lange Zeit spielte das Thema der Transformation auf der kulturpolitischen Agenda nur eine untergeordnete Rolle. Die Corona-Pandemie wirkte hier allerdings als Katalysator, da viele altbekannte Problemstellungen des Kulturbereichs wieder in den Blick geraten sind und neue Herangehensweisen erforderlich machen. Die Kulturpolitik muss nun die richtigen Rahmenbedingungen auf den Weg bringen, um zukunftsweisende Reformen unterstützend zu begleiten.

Dieser Text erschien bereits unter der Rubrik »Texte zur Kulturpolitik« des Deutschen Kulturrats am 01. September 2021.



Autor

(c) Helena Grebe


































Dr. Henning Mohr ist Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. in Bonn. Der Kultur- und Innovationsmanager hat u.a. für das Deutsche Bergbau-Museum Bochum gearbeitet. Zuvor promovierte er am DFG-Graduiertenkolleg »Innovationsgesellschaft heute« (TU Berlin, Institut für Soziologie) über die Innovationspotentiale künstlerischer Interventionen in Transformationsprozessen.