Theater der Zukunft – eine Utopie

Patrick Schimanski

6. März 2024

Das Schmieden von Utopien erweist sich bei kulturpolitischen Zusammenkünften häufig als Motor für gesellschaftliche Prozesse, so auch im Februar 2024 am Stadttheater Gießen und an den Münchner Kammerspielen, den Austragungsorten des »2. Forums für Theater, Digitalisierung und Nachhaltigkeit«. Die von Maik Romberg, dem Leiter der Stabstelle Digitalisierung der Münchner Kammerspiele, und mir selbst kuratierten Veranstaltungen waren Inspiration für meine eigene Utopie für das Theater der Zukunft: Es ist ein Ort der Kollaboration(en) und der Partizipation. Ein Ort der Begegnung auf Augenhöhe. Eine kollektiv entworfene und in allen Belangen nachhaltige, dem Gemeinwohl verpflichtete Organisation. Im Theater entsteht eine »fluide« Form des kreativen Miteinanders, die sich der nahezu instantanen Technologien des World Wide Web proaktiv bedient und diese immer wieder geschickt unterläuft und hinterfragt. Es ist ein 24 Stunden geöffneter Ort, real und virtuell. Die Besucher*innen des Theaters der Zukunft sind gleichzeitig Gestalter*innen desselben.

Das Theater der Zukunft ist sicher kein Ort des Verzichts und Verlusts: Ein wirklich nachhaltiger und nicht mehr dem neoliberalen Paradigma verpflichteter Kulturort wird vielmehr einen beträchtlichen Gewinn an Lebensqualität mit sich bringen und dem existentiell notwendigen radikalen Umdenken hin zu einer Gesellschaft jenseits des zerstörerischen Wachstumsstrebens den dringend notwendigen Schub verleihen. Es geht darum, Wege zu einer neuen Aufklärung zu finden. Die Kunst der Zukunft ist demütig und humorvoll, kritisch und abstrakt und somit vielgestaltig. Sie ist emotional und fordert ein gänzlich neues, anderes Verhältnis der Menschen zur Mitwelt. Um dieses Theater zu ermöglichen, müssen sämtliche Türen und Fenster weit geöffnet werden, real und im übertragenen Sinne. Der Veränderungsbedarf in den Institutionen ist so groß, dass die einseitige Setzung von Prioritäten nicht zielführend ist. Wir müssen unsere Bubble(s) verlassen und mit offenen Augen und Ohren die großartigen Möglichkeiten erkennen, die in der Tat bereits vorhanden irgendwo im Schatten des falschen Lebens darauf warten, genutzt zu werden. Im Angesicht der drohenden Klimakatastrophe ist eine globale Perspektive jenseits tradierter Vorstellungen und Erwartungen gefordert.

Ein Blick in die Welt

Perspektiven aus dem globalen Süden können uns helfen, andere und gegebenenfalls sogar utopische Narrative zu entwickeln. Indigene australische Traumerzählungen sind ein zentraler Bestandteil der Kultur und des spirituellen Lebens der Ureinwohner*innen Australiens, die »Dreamtime«-Geschichten vermitteln wichtige kulturelle, moralische und soziale Lehren. Solche Geschichten können dazu dienen, Verhaltensweisen zu thematisieren, die als schädlich für die Gemeinschaft angesehen werden. Sie betonen oft die Bedeutung von Kooperation, Respekt und dem Gleichgewicht mit der natürlichen Welt.

Eine wesentliche Wahrheit, die sich in vielen indigenen Erzählungen und philosophischen Lehren weltweit widerspiegelt, beschreibt die Idee, dass wir eine symbiotische Einheit mit unserer Mitwelt bilden. Dies ist ein zentraler Gedanke, der uns lehren sollte, respektvoll und nachhaltig mit unserer Mitwelt und ausnahmslos allen darin lebenden Wesen umzugehen. Indem wir den Fokus von einem »Ich bin besser als Du«-Modus, wie Tyson Yunkaporta es in seinem Buch »Sand Talk« nennt, zu einem kooperativen und integrativen Ansatz verschieben, können wir Wege finden, die aktuellen ökologischen, sozialen und ökonomischen Herausforderungen effektiv anzugehen. Diese Transformation erfordert ein Umdenken in vielen Bereichen unseres Lebens und Arbeitens. Um einen Einblick in ein sehr interessantes, institutionelles Beispiel für praktizierte Kollaborationen auf Augenhöhe und ein respektvolles Miteinander zu bekommen, lohnt sich ein Blick auf das »Kulturforum Witten«.

Die erschöpfte Gesellschaft

»Die scheinbar überbordenden gesellschaftlichen Herausforderungen wären Grund genug, dass wir uns einstimmen, aber auch eingestimmt werden darauf, unsere Daseinsbewältigung durch Anpacken und Verändern anzugehen. Aber wie soll eine Gesellschaft, die sich als von Veränderungen erschöpft geriert, Neues generieren können? Ich ende also mit Skepsis, aber mein letztes Wort soll heißen: trotzdem!«

Prof. Dr. Reinhard Pfriem beim 2. Forum für Theater, Digitale Transformation und Nachhaltigkeit

Den Zustand unserer Gesellschaft und die Herausforderungen, die damit einhergehen, gilt es demnach weiterhin genau zu betrachten und dabei Handlungsmöglichkeiten auszuloten: Der vorherrschende, bereits erwähnte »Ich bin besser als du«-Modus führt zu Vereinsamung und permanentem Stress, der, wie Dirk Baecker bereits 1994 beschreibt, die Kommunikation verunmöglicht, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Unser Bestreben, noch ein wenig hoffnungsfroh in die Zukunft schauen zu können, weicht zunehmend einer traurigen, resignierten Grundstimmung innerhalb der Gesellschaft und macht es den Rattenfängern leichter ihre unsäglichen Parolen an die Menschen zu bringen. Wir brauchen mehr offenen Dialog und Diskurs im direkten, persönlichen Kontakt mit den Menschen. Wir benötigen noch mehr vernetzte Strukturen, die das Gemeinwohl stets im Blick haben. Ein radikales Umsteuern zu nachhaltigem Handeln in allen Bereichen unserer Gesellschaft ist geboten. Die Digitalisierung kann und sollte uns hier weiterführende Werkzeuge liefern.

Vergessene Vision: Ein Blick zurück nach vorn

Das »Projekt Cybersyn« war ein ambitioniertes Vorhaben der chilenischen Regierung unter Salvador Allende in den frühen 1970er Jahren, das darauf abzielte, mithilfe von Technologie die Wirtschaft und im Verlauf auch weitere Bereiche der Gesellschaft des Landes mittels demokratischer Steuerung zu optimieren. Unter der Leitung des britischen Kybernetikers Stafford Beer sollte ein Netzwerk aus Computern, Software und Kommunikationsinfrastruktur geschaffen werden, um Echtzeitdaten aus Betrieben zu sammeln, zu verarbeiten und darauf basierend Entscheidungen zu treffen. Allende verfolgte die Vision eines demokratischen Sozialismus. Nach dem blutigen Militärputsch 1973 und der Ermordung Allendes wurde das Projekt eingestellt. In einer vorurteilsfreien Analyse kann die Relevanz von Cybersyn für die heutigen Diskussionen über Digitalisierung und Nachhaltigkeit aus mehreren Perspektiven beleuchtet werden: Zentral oder dezentral? Eine Frage, die auch für Kulturbetriebe – und hierbei nicht nur in Bezug auf die Digitalisierung von Beständen – hohe Dringlichkeit hat: Die »Just In Time«- und »Mehr ist Mehr«-Mentalität, die sich spätestens seit den 1990er Jahre auch fest in die ansonsten weitgehend aus dem 19. Jahrhundert stammenden Organisationsstrukturen unserer Stadt- und Staatstheater als vermeintliche Innovation eingebrannt hat, ist immer noch »Standard«, trotz der zahlreichen lobenswerten Initiativen in puncto neuer nachhaltiger Praktiken. Das Projekt Cybersyn war ein Versuch, Bedarfe zentral zu steuern. Es basierte auf dem Prinzip der Echtzeit-Rückkopplung, was heute eine allgemein verfügbare Technologie ist, die unter anderem beim Ermitteln von Klimadaten und daraus folgenden spontanen Reaktionen und Entscheidungsfindungen auf höchster Ebene, beispielsweise im Fall von Unwetterkatastrophen, lebensrettend sein kann. Heutige Ansätze tendieren eher zu dezentralisierten Netzwerken, in denen Entscheidungen näher an der Datenquelle getroffen werden. Dezentralisierte Systeme können resilienter und noch anpassungsfähiger sein, was für nachhaltige Entwicklungsziele von Vorteil ist. Cybersyn war seiner Zeit voraus und stieß daher auf technologische Grenzen.

Perspektiven für ein gelungenes Zusammenspiel der beiden großen Transformationen

»Digitalisierung schafft ein nachhaltiges Mindset. In Unternehmen, die in Sachen Digitalisierung bereits vorangeschritten sind, hat auch Nachhaltigkeit einen hohen Stellenwert.«

Dr. Josephine Hofmann, Claudia Ricci, Christiane Kleinewefers, Adriana Laurenzano
(Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO) (2023: S. 19)

Heute stehen uns fortschrittliche Technologien und Strategien wie KI, Big Data, IoT, Cloud Computing und nicht zu vergessen die Open Source Community zur Verfügung, die die Gedanken hinter Cybersyn realisierbar machen können und dabei helfen, Ressourcen effizienter zu nutzen und Entscheidungsprozesse in Hinblick auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit zu optimieren.

Ein Ziel des historischen Projektes in Chile war es bereits, die Bevölkerung direkt in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen und eine gerechte Wirtschaftssteuerung zu ermöglichen. Risiken wie Überwachung, Kontrolle und Ungleichbehandlung waren auch den damaligen Entwickler*innen bekannt. Wer kontrolliert die Technologien, wer profitiert davon und wie wird Macht verteilt? In den Kulturbetrieben können und sollten wir, vielleicht inspiriert von den visionären Ideen des geschilderten Projekts Testlabore aufbauen und mit den großartigen Möglichkeiten heutiger Digitaltechnik verschiedenste Zukunftsmodelle in Sachen nachhaltige Planung und Steuerung durchspielen. Wir können vorhandene Technologien in unserem kreativen Umfeld radikal umwidmen und künstlerisch zweckentfremden. Wir können kleine Open Source -KI-Modelle selbst trainieren. Wir könnten uns durch eine richtig verstandene Vernetzung und Zusammenarbeit den Datenkrallen der globalen Tech-Riesen entziehen. Das Netzwerk eröffnet uns die Möglichkeit Ungewissheiten zu denken. Dies alles ist machbar und wird in kleinen Initiativen und Gruppierungen bereits gemacht, wie auf unserem Forum gezeigt wurde[1]. Nachhaltige Digitalisierung muss zwingend soziale Aspekte wie Fairness, Transparenz und Inklusion berücksichtigen. In diesem Sinne entstehen bundes- und weltweit Projekte, die uns inspirieren können, partizipative und transparente Systeme zu entwickeln, die sowohl ökologische als auch soziale Nachhaltigkeit fördern.

Utopien entwerfen

Wir müssen die Fähigkeit, gegensätzliche Ideen oder Standpunkte zu erkennen und sie in einem neuen, umfassenderen Zusammenhang zu vereinen, neu erwerben. Dieser Prozess ermöglicht es, scheinbar widersprüchliche Konzepte zu integrieren und eine höhere Ebene der Erkenntnis oder Lösung zu erreichen, indem man die Vielfalt der Perspektiven berücksichtigt und sie in einer umfassenderen Synthese zusammenführt. So kann man die Komplexität der grundlegenden Veränderungen soziotechnischer Systeme, die die Digitalisierung und die Transformation zur Nachhaltigkeit mit sich bringen, erkennen, beschreiben und dabei deren dynamische Natur berücksichtigen. Dieser 360-Grad-Blick findet sich auch im chinesischen I GING, dem »Buch der Wandlungen«, dessen Wurzeln bis ins 3. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen. Die Anwendung derlei dialektischer Methode(n) verhilft uns zu einem umfassenderen Verständnis und möglicherweise zu neuen Lösungsweisen. Zudem lernen wir wieder anständig miteinander umzugehen und das kreative und lustvolle Schmieden von Utopien, wie oben erwähnt, ist hoffentlich keine Seltenheit mehr.


[1]      Ein Beispiel dafür ist die 2013 gegründete Performancegruppe Artes Mobiles, die Grenzen zwischen Kunst, Theater und Technik zukunftsweisend aufzubrechen sucht und von der Regisseurin Nina Stemberger und dem Medienkünstler Birk Schmithüsen beim »2. Forum für Theater, Digitale Transformation und Nachhaltigkeit« in Gießen vorgestellt wurde: www.artesmobiles.art.

Autor

Patrick Schimanski ist Komponist, Regisseur, Klangkünstler, Dramaturg und Performer. Er arbeitet bundesweit und international sowohl in der Freien Szene als auch an Stadt- und Staatstheatern und beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit den Themen Nachhaltigkeit und Digitalität. Aktuell ist er als »Leiter Digitale Prozesse« und des »Forum Nachhaltigkeit« am Stadttheater Gießen. Er ist zudem Klimabeauftragter des Hauses im Zusammenhang mit einer Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes im Projekt »Fonds Zero«.