Gestaltende Verantwortung

Hilke Marit Berger

20. November 2023

Oder wie entsteht nochmal Transformationswissen?

In Zeiten von multiplen Krisen und allgemeiner Überforderung wird die Zukunft derzeit mal wieder zu einem hot topic. Allein in den letzten drei Wochen war ich zu vier Veranstaltungen eingeladen, die alle das Wort »Zukunft« im Titel trugen. Zu verstehen und zu prognostizieren, was die Zukunft bereithalten könnte, scheint ein zentraler Baustein zur Selbst-Vergewisserung in der Gegenwart zu sein. Gerade in Zeiten der (zumindest von Vielen akut gefühlten) Beschleunigung. Dass sich die Taktzahl der Veränderung durch die Digitalisierung erheblich erhöht hat, ist ein alter Hut. Denn wir leben nun schon seit Jahrzehnten im post-digitalen Zeitalter. Die so genannten Digital Natives, Menschen also, die in Zeiten geboren sind, in denen das Digitale zum selbstverständlichen Bestandteil des Lebens gehört, sind zum Teil bereits älter als 30 Jahre alt. Darum ist längst nicht mehr nachvollziehbar, dass in manchen Kulturinstitutionen noch so getan wird, als wäre die Digitalisierung unserer Lebenswelt etwas, das dann mal irgendwann in der Zukunft geschehen wird, denn entsprechende Technologien begleiten fast jede unserer Alltagshandlungen.

Data Stories als wirkmächtige Narrative

Diese gesellschaftliche Realität ist kein passiver Vorgang, sondern wir alle stellen die digitale Lebenswirklichkeit tagtäglich und aufs Neue durch unsere Handlungen her. Während Digitalisierung einfach die Übertragung von analogen Inhalten ins Digitale meint, ist Digitalität die Kulturtechnik, sich im Digitalen zu bewegen. Sie ist ganz einfach ein Set von Möglichkeiten. Mit diesen Möglichkeiten werden vor allem auch mögliche Zukünfte entworfen, denn die digitale Simulation und Prognostik sind nicht nur die Basis für Entscheidungen. Data Narration z.B., also die Art wie wir Daten darstellen, welche Daten für welche Geschichten wie genutzt und visualisiert werden, und vor allem welches Storytelling dafür verwendet wird, hat erheblichen Einfluss darauf, was wir uns überhaupt vorstellen können. Denn: Durch Data Narration entstehen Narrative mit entsprechender Wirkmächtigkeit. Im Entwerfen der Zukunft entsteht Zukunft eben auch ein Stück weit. Die Perspektive der Kunst halte ich gerade in diesem Zusammenhang für gleichermaßen zentral wie massiv unterschätzt. Für unsere Weltsicht und jeden Entwurf für zukünftiges Zusammenleben sind die spielerischen Möglichkeiten künstlerischer Auseinandersetzung wesentlich. Hierfür möchte ich den Begriff der Gestaltenden Verantwortung stark machen.

Das große Missverständnis liegt meines Erachtens in der Befürchtung, es gehe damit um eine Instrumentalisierung von Kunst. Einerseits spricht diese Haltung Künstler*innen, die mit ihren Arbeiten auch gesellschaftspolitisch Relevanz entfalten möchten, diese Selbstermächtigung ab, und andererseits reduziert sie die Kraft von Kunst, die vordergründig rein ästhetische Zwecke verfolgt, vielleicht sogar explizit sinnlos agiert, auf eine vermeintliche gesellschaftliche Wirkungslosigkeit, ein reines L’art pour l’art. Die im Grundgesetz verankerte Freiheit von Kunst adressiert gerade diesen großen Radius künstlerischer Ziele. Darum brauchen wir die Kraft der Kunst fernab einer redundanten Utilitarismusdebatte. Es geht mir dabei nicht um das beschränkte Entweder-oder-Denken, das in nützliche oder nutzlose Kunst teilen will, sondern im Sinne der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera und ihres Konzepts einer Arte Útil um »benutzbare« Kunst. Es geht um die Frage, welche Rolle Künstler*innen selbstgewählt einnehmen wollen, und darum, wie die Ergebnisse künstlerischer Produktionen sich auf gesellschaftliche Fragestellungen auswirken können.

Transformationswissen ist gefragt

Angesicht der klimatischen Katastrophe wird die Rolle und die Notwendigkeit der gestaltenden Verantwortung einmal mehr offensichtlich und deutlich drängender. Denn für zukunftsfähige Gesellschaften brauchen wir Transformationswissen. Oder anders formuliert, Wissen um Praktiken, die notwendige Anpassung an Veränderungen ermöglichen. Denn egal welche Zukunft wir entwerfen, es wird nicht ohne Adaption an neue klimatische Umstände mit allen gesellschaftspolitischen Folgen möglich sein. Wir alle werden dafür Resilienz trainieren müssen. Transformationswissen aber entsteht nicht im diskursiven Aufarbeiten. Nicht in der reinen Theorie. Es entsteht durch die praktische Gestaltung von Perspektivwechseln, dem Testen und Erfahren realer Fiktionen und der kollaborativen Entwicklung von alternativen Zukünften. Dafür ist das Aufbrechen von Silos – in Köpfen, Förderpolitiken und Datenbanken – genauso notwendig wie die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft.

Dazu ein konkretes Beispiel: Als Wissenschaftlerin, die sich mit digitalen Tools für kollaborative Stadtgestaltung beschäftigt, habe ich viel mit Daten zu tun. Wie in allen Lebensbereichen werden auch im urbanen Kontext permanent Daten gesammelt: soziale Daten der Stadtbewohner*innen (z.B. demographische Daten), Daten zur Infrastruktur (z.B. der Anzahl von Schulen, Krankenhäusern, Bibliotheken, usw.), Energiedaten (z.B. Art der Stromerzeugung, Nutzung und Verteilung), Mobilitätsdaten (z.B. zu Verkehrsströmen und Nutzungsverhalten) oder Umweltdaten (z.B. zur Qualität von Luft, Wasser und Boden, Wetter, Baumbestand, Wasserstand) – um hier nur ein paar Beispiele zu nennen. Mit diesen Daten lässt sich ein ziemlich genaues Bild des gegenwärtigen Zustandes einer Stadt entwerfen. Die Analyse von Daten ist in unserer postdigitalen Gesellschaft längst der wichtigste Baustein für alle zukünftigen Entscheidungen und Entwicklungen. Aber Daten allein bilden nur ab. Sie zeigen einen bestimmten Status Quo, ein digitales Spiegelbild, das Entscheidungen erleichtern und effizienter machen kann. Entscheidend jedoch ist, welche Frage man versucht, mit diesen Daten zu beantworten. Dabei spielt es nicht nur eine große Rolle, welche Daten man wie kombiniert, sondern auch wie man sie darstellt, interpretiert oder übersetzt.

Alleinstellungsmerkmale der Kunst

In Statistiken beispielsweise lassen sich Entwicklungslinien zeigen und Prognosen errechnen, aber so entstehen keine Ideen für urbane Zukünfte, keine alternativen Lebensentwürfe, keine Handlungsmöglichkeiten und für viele Menschen, auch kein Zugang im Sinne eines Verständnisses für diese Daten. Und genau darum ist die Perspektive von Kunst- und Kulturschaffenden eben nicht nur irgendwie nice to have. Sie ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Wir brauchen diese Perspektive, dringend. Denn nur so können wir einerseits verstehen, was sich den allermeisten Menschen im Angesicht der technologischen Komplexität zu entziehen scheint und sind andererseits in der Lage, neue Möglichkeiten zu erforschen und Zukunft mitzugestalten. Denn die diskursive Auseinandersetzung in journalistischen oder wissenschaftlichen Formaten dient der Aufklärung und dem Verständnis der Komplexität der Thematik. Sie stärkt öffentliches Bewusstsein wie Diskussion gleichermaßen, übt Kritik und schafft Räume der Auseinandersetzung. Das zentrale Alleinstellungsmerkmal der Künste ist die spielerische Entwicklung dystopischer wie utopischer Szenarien. Das Spiel mit der Zukunft ist hier ungleich leichter und dennoch vielschichtiger, denn in der Praxis der Kunst fallen diskursive Aufarbeitung, Sichtbarmachung und die Entwicklung neuer Möglichkeiten ebenso zusammen wie die unterschiedlichen Kunstformen. Das Wissen um Storytelling und Dramaturgien, um Vermittlung, um Vernetzung, um das Entwerfen von realen Fiktionen, wie auch das Hinterfragen und Neu-Denken, das Einbeziehen und Abholen und vor allem das Sichtbarmachen von komplexen Strukturen, all dies sind Alleinstellungsmerkmale der Kunst und damit zwingende Gründe, gestaltende Verantwortung zu übernehmen und vor allem durch entsprechende Förderung auch zu ermöglichen.

Zum Projekt: https://www.creativecoding.city/.

Zur Studie: Cyane: An Emergent Organism and Its Adaptive Strategies in the Future Urban Ecology of HafenCity (2050-2090)

Autorin

Hilke Marit Berger (Dr. phil.) ist die wissenschaftliche Leiterin des City Science Labs an der HafenCity Universität in Hamburg. Als Stadtforscherin beschäftigt sie sich an der Schnittstelle von Kulturwissenschaften und Stadtplanung u.a. mit Praktiken der Teilhabe, Fragen kollektiver Stadtgestaltung und Projekten im Themenfeld Kunst, Daten und Klimawandel. Sie ist als Jurorin tätig, entwickelte, koordinierte und arbeitete für mehrere künstlerische und wissenschaftliche Projekte, für Festivals, Theater, Universitäten und Behörden. Sie hält international Vorträge und publiziert

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