Nicht nur die Klimaerwärmung, das Artensterben und die Veränderung der Meeresströmungen, sondern auch die ungleicher werdende Vermögensverteilung und die Rückkehr des Autoritarismus sind Symptome grundlegender Probleme. Diese entstehen durch Prinzipien und Ideologien wie die Notwendigkeit des privaten Eigentums (einschließlich des geistigen Eigentums) oder den Irrglauben, der freie Markt würde alles von selbst regeln.
Digitalität ist eine Zumutung
Für eine wünschenswerte Transformation ist die Rolle der Digitalität in den Blick zu nehmen, denn sie ist Teil des Problems. Digitalität wird von Regeln und Ereignissen bestimmt, die von uns gewöhnlichen Menschen nur bedingt transformiert werden können. Nachhaltigkeit setzt eine ständige Regenerierung von unten nach oben voraus. Um Treiber einer Kultur der Nachhaltigkeit zu werden, müsste Digitalität für alle Bevölkerungsschichten zugänglich und vor allem veränderbar gemacht werden. Wir begegnen Digitalität meist in Form einer Ware: käuflich und unveränderlich. Die Entsorgung und Zerstörung von Eigentum gehören zum Warencharakter. Jede Ware ist Eigentum, deshalb ist es auch oft erlaubt, die eigens gekaufte Ware zu zerstören oder einfach wegzuwerfen. Neuerdings gibt es in Europa ein Recht auf Reparatur, das vom europäischen Parlament verabschiedet wurde. Elektronische Geräte sollen wieder reparierbar werden. Das gibt ein wenig Hoffnung, doch es existieren weitere Baustellen, etwa im Softwarebereich. Ein Windows-Update führte am 19. Juli 2024 zu weitreichenden IT-Störungen bei Rechnern in Deutschland vor allem auf Flughäfen, in der öffentlichen Verwaltung und in Krankenhäusern. Solche IT-Katastrophen zeigen immer wieder, dass Dezentralisierung und Selbst-organisation einige Verbesserung bieten könnten.
Digitalität als Kulturtechnik?
Wie können wir eine nachhaltige Beziehung zur Digitalität aufbauen? Zuallererst sollten wir die Vorstellung aufgeben, dass Digitalität eine feste, abgeschlossene Form und eindeutige Bestimmung hat. Digitalität ist in, auf, über, unter, zwischen uns allen. Wenn Digitalität nicht einfach Digitalisierung meint, sondern nach Hilke Marit Berger »die Kulturtechnik, sich im Digitalen zu bewegen«, dann hätte dies zur Folge, dass wir dieses positive Verständnis ernst nehmen und überlegen müssen, wie Digitalität in das Bildungsprogramm in den Schulen aufgenommen werden könnte. Dies ruft bekannte Baustellen auf. Während Lesen, Schreiben, Rechnen und Zeichnen an Schulen gelehrt wird, müssten Formen des Digitalisierens (Fotografieren, Filmen) und Programmierens / Simulierens vermehrt und grundlegender in den Unterricht der Schulen aufgenommen werden. Kulturtechniken sind Tätigkeiten, die sehr nahe beim Technischen liegen und entsprechende Schnittstellen aufweisen. Sie zeichnen sich im Gegensatz zur Medientechnik dadurch aus, dass sie größtenteils und maßgeblich von Menschen mit Menschen kulturell erlernt werden. Ihre Ausgestaltung bleibt veränderlich und damit potenziell nachhaltig. Eingebaut in Medientechnologien wird eine spontane Anpassung schwieriger. Es ist die Ironie der unterlegenen Position des kulturellen Sektors, dass die Kulturtechnik Programmieren zunehmend in algorithmisch-automatischen Dienstleistungen großer Unternehmen transformiert wird. Denken wir dabei an ChatGPT oder OpenAI, wodurch Programmieren als kreatives Vermögen immer mehr in Medientechnik aufgeht. Dagegen muss vorgegangen werden.
Es gibt hier noch Hoffnung. Denn weil Digitalität in, auf, über, unter, zwischen uns allen ist, sind Zugänge zu ihr grundsätzlich nicht versperrt. Digitalität tendiert dazu, dezentrale Wirkungen zu entfalten, nur wird das immer wieder verhindert. Denken wir daran, wie wir heute mit audiovisuellen Daten (Filme, Musik, Computerspiele) umgehen müssen. Wir müssen dafür bezahlen. Sie wurden nach der Zeit der sogenannten Piraterie wieder zu Waren gemacht. Während man Daten und Ideen einfach kopieren konnte, wurde im Namen des geistigen Eigentums mit Hilfe von Kryptografie und juristischen Tricks Kopierschutzmechanismen eingebaut. Überall dort, wo Daten, Algorithmen, Soft- und Hardware jedoch offen und eben keine Waren sind, kein privates Eigentum darstellen und gleichzeitig durch entsprechende Lizenzen vor Raub geschützt sind – denken wir an die Creative Commons oder an freie Software – überall dort können wir ansetzen, um etwas zu verändern. Digitalität muss also frei sein, vor allem frei von Eigentum. Keine Silos!. Das haben viele bereits verstanden. Um aber ein gesamtgesellschaftliches Verständnis dafür zu gewinnen, müssen andere Mittel zum Einsatz kommen. Es sind treibende Visionen, Utopien und Modelle gefragt. Im kulturellen Sektor stellt sich selbstverständlich hier die Frage, wie ihr Betrieb aufrechterhalten werden kann, wenn es kein Eigentum mehr gäbe.
Tanzen als Kulturtechnik
Tanzen ist bemerkenswert, weil es nicht nur eine offen-adaptive Aktivität ist, sondern vor allem auch die Möglichkeit bietet, dass Prozesse zusammenspielen, auch solche, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Nicht nur Menschen tanzen, sondern auch Tiere. Selbst Blätter oder Staub können in Luft und Raum tanzen. Ein Tanz beruht auf Interaktionen mit anderen, aber auch mit sich selbst. Bewegungen müssen geübt und koordiniert werden, vor allem, wenn ein Tanz kultiviert werden soll. Das hat etwas Technisches, denken wir an filmische Bewegungsstudien, Choreografien, grafische Darstellungen oder körperlicher Bewegungen. Letztlich kann Tanzen als Kulturtechnik verstanden werden. Tanzen ist wie Musizieren ursprünglich keine Ware, außer in Form ihres passiven, bezahlten Genusses im Kulturbetrieb (Ballett, moderner Tanz, Tanztheater etc.), in digitalen Streamingdiensten, sozialen Medien (etwa TikTok), off- und online. Sicherlich lässt sich Tanzen als Aktivität auch kommodifizieren, etwa durch Tanzkurse, damit lassen sich aber keine großen Gewinne erzielen. Tanzen will eigentlich wie Information frei und kein Eigentum sein. Was passiert beim Tanzen? Während des Tanzens wird die Kopplung von Körper und Umwelt geübt. Ein erster Schritt zur Nachhaltigkeit ist das Umweltbewusstsein. Es geht also um räumliche Arbeit und die Auslotung der Grenzen zwischen Mensch, Raum und Umwelt. Gleichzeitig geht es beim Tanzen um eine betont zeitabhängige Form von Arbeit. Ereignisse müssen vorausgesehen werden, sonst gelingt der Tanz nicht. Tanzen stellt folglich das Einüben raumzeitlicher Transformationsprozesse und Vorstellungsweisen dar.
Digitalität tanzen!
Tanzen bietet eine hoffnungsvolle Perspektive auf Arbeit. Viele tanzen gerne, aber arbeiten ungern. Tanzen ist wie Arbeit, aber doch anders. Wieso? Die industrielle Transformation begann mit der Automatisierung etwa der Bewegungen am Webstuhl oder anderen körperlich-manuellen Produktionsarten. Mittlerweile können die meisten Körperbewegungen längst durch Maschinen ersetzt werden. Das heißt: Tanzen im Sinne von menschlich getätigter Arbeit wäre obsolet und wir könnten die Maschinen tanzen lassen, doch so einfach ist es nicht. Wie dem auch sei: Tanzen ist die hoffnungsvolle Rückseite der Arbeit! Tanzen ist alltagsnah und hat damit das Potenzial, eine Art Grundbewegung der für die Nachhaltigkeit nötigen ständigen Regenerierung von unten-nach-oben zu werden. Und nicht nur das: Wenn das Einüben raumzeitlicher Transformationsprozessen tanzend erfolgen kann, wie zum Beispiel Demonstrationen und Raves zeigen, dann könnte damit auch das größte Problem gesellschaftlicher Transformation angegangen werden, nämlich der Wechsel vom Kleinen ins Große. Im Kleinen sind Nachhaltigkeit, Solidarität, bedürfnisorientiertes Zusammenleben, gemeinschaftlich-genossenschaftliches Teilen, Organisieren und Produzieren von Ressourcen und einiges mehr schon möglich. Das Tanzen kann hier oft gut gelingen. Wir schaffen aber den Sprung aus diesem eher zwischenmenschlichen und miniökologischen Bereich in den gesamtgesellschaftlichen und planetarischen Bereich im Moment nicht, beziehungsweise können ihn uns nur in der aktuellen Form (kapitalistisch, extraktivistisch, kolonial, umweltzerstörend) vorstellen. Und genau hierin liegt der Grund, warum Digitalität getanzt werden muss!
Mithilfe digitaler Medien könnte dieser Sprung (vom Kleinen ins Große) bewerkstelligt werden. Dabei fallen mir zwei Ebenen ein: Erstens, und das kennen wir relativ gut, können digitale Medien uns miteinander besser vernetzen und zweitens, und das ist nun etwas schwieriger, könnten wir mit Hilfe digitaler Infrastrukturen auf der Vernetzung aufbauend miteinander interagieren, spielen, simulieren, umprogrammieren, diskutieren. Hoffnung geben hier die sogenannten agentenbasierten Computermodelle mit denen bereits verkehrstechnische Probleme oder das Rätsel der Vogelschwärme gelöst und das Entstehen von Massenpaniken bei Großveranstaltungen simuliert werden können. Grundprinzip der agentenbasierten Computermodelle ist das Einprogrammieren einfacher Verhaltensregeln in sogenannte Agenten, die je nach Modell Menschen, Tiere, Moleküle oder Artefakte darstellen können. Die Agenten interagieren mit ihrer Umgebung und anderen Agenten, sie tanzen. Dieser Von-Unten-Nach-Oben-Ansatz klingt sehr simpel, aber damit lassen sich teilweise sehr komplexe Dynamiken entfalten, und vielleicht gelingt es uns kollektiv, das Problem der Nachhaltigkeit tanzend zu bekämpfen! Denn agentenbasierte Modelle lassen sich auch tanzen.
Die einfachen Regeln kann man nicht nur in der Computerwelt, sondern auch in der realen Welt etwa als Tanz durchführen. Damit lässt sich erlernen, wie kleine Änderungen (der Tanzregeln) große Änderungen (für die gesamte Choreografie) bewirken. Diese Art der Computersimulation könnte auch für Fragen wie, was wäre, wenn wir eine Gesellschaft ohne Geld hätten, ohne freien Markt, ohne privates Eigentum, ohne Lohnarbeit herangezogen werden, und wir könnten sie damit spielend beantworten, einüben, tanzen. Und so wäre es zumindest theoretisch möglich, durch stärkere Vernetzung die gesamtgesellschaftliche Beteiligung an einem kostenfreien, populären massenhaft gespielten, vernetzen Rollenspiel, das die große Transformation thematisiert, zu realisieren. Ein Spiel, womit alternative Welten (ohne Eigentum, ohne Geld/ Kapital etc.)[1] durch alle ständig verbessert und erweitert werden. Die Kulturtechnik Programmieren gehörte in dieser theoretischen Welt zur Allgemeinbildung. Mit der Verbreitung des Spiels würden alternative Welten greifbarer, weil spiel- und erlebbar, und so wüssten wir auch alle noch viel besser, wieso wir alles verändern müssen. Wir könnten endlich damit anfangen, Digitalität zu tanzen![2]
[1] Eine Einführung in die Theorie, wie Kapitalismus aufgehoben werden könnte, bietet: Simon Sutterlütti, Stefan Meretz: Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken, VSA Verlag, 2018.
[2] Vgl. Shintaro Miyazaki, Digitalität tanzen! Über Commoning und Computing, transcript, 2022., https://www.transcript-open.de/isbn/6626
Shintaro Miyazaki ist seit 2020 Juniorprofessor für digitale Medien und Computation am Fachbereich Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Er kam im damaligen West-Berlin zur Welt, ist aber in der Dreiländerregion Basel-Freiburg-Mulhouse aufgewachsen (Studium in Basel, Promotion in Berlin). Nach einer langjährigen Feldforschung im praxisorientierten Umfeld einer Kunsthochschule widmet er sich seit einigen Jahren wieder eher theoretischen Gedankenexperimenten und einer konstruktiven Kritik aktueller Technologien.