Wer wirklichen Wandel will, braucht einen langen Atem!

Julian Stahl

11. Januar 2021

Die Pandemie macht die Unsicherheit und Dynamik unserer Zeit erfahrbar. Sie zwingt uns zur Auseinandersetzung mit den großen gesellschaftlichen Herausforderungen – sei es Klimawandel, Nachhaltigkeit, Digitalisierung oder gesellschaftlicher Zusammenhalt. Auch für Organisationen im Kulturbereich werden die damit einhergehenden Veränderungen immer stärker spürbar, beispielsweise durch Fragen neuer gesellschaftlicher Legitimation, digitaler Technologien oder dem Wunsch nach anderen Formen der Zusammenarbeit. Um dieser Dynamik nicht nur passiv ausgesetzt zu sein, sondern sie aktiv mitzugestalten, braucht es in den Organisationen tiefgreifende Transformationsprozesse. Die Geschwindigkeit, mit der Wandel grundsätzlich möglich ist, zeigt die teilweise rasante Anpassung der Arbeitsabläufe in der aktuellen Krise. Warum brauchen Veränderungen im Kulturbereich dann dennoch oft so lange? Neben vielen guten Ideen braucht es ein erweitertes Verständnis von Transformationsprozessen in Organisationen, mit dessen Hilfe genauer justiert werden kann, an welchen Stellen Innovation gefördert werden kann.

Wandel als Evolutionsprozess

Niklas Luhmann beschreibt in seinen organisationssoziologischen Arbeiten Wandel als evolutionären Prozess mit drei Stufen: Variation, Selektion und Re-Stabilisierung (Luhmann, Niklas. 2000. Organisation und Entscheidung. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag GmbH.). Mit dieser Dreiteilung lässt sich ein besseres Verständnis dafür gewinnen, warum gute Ideen und einzelne Veränderungen oft nicht zu wirklichen Veränderungen der Struktur und des Arbeitsalltags führen. Denn entscheidend für strukturelle Veränderungen ist erst die Re-Stabilisierung und Integration von Neuerungen in den Arbeitsalltag. Was heißt das konkret?

Variationen sind Abweichungen von bisherigen Routinen. Dabei spielt es keine Rolle, ob neue Ideen von Mitarbeiter*innen oder aus der Führungsebene kommen. Gleichwohl macht es einen entscheidenden Unterschied, ob das Ausprobieren neuer Ideen gefördert wird oder Abweichungen eher Skepsis hervorrufen. In Kultureinrichtungen mit starkem Traditionsbewusstsein und einem hohen Anspruch an Exzellenz werden Abweichungen von bestehenden Routinen oft eher als Störung wahrgenommen und sanktioniert. Mit der Konsequenz, dass sich Mitarbeiter*innen zweimal überlegen werden, eine neue Idee vorzuschlagen oder ein neues Projekt anzustoßen. Produktiver wäre es, Irritation zu fördern, den Austausch mit unterschiedlichen Akteur*innen innerhalb und außerhalb der eigenen Organisation zu suchen oder eine gesunde Fehlerkultur zu etablieren. Verläuft beispielsweise ein neues Digitalprojekt anders als gedacht (Variation), könnte das Projekt nach Abschluss in der internen Kommunikation als gescheitert kommuniziert und damit negativ selektiert werden. Eine innovationsfördernde Maßnahme wäre, differenzierter zu überlegen, welche Lerneffekte das Projekt und sein Verlauf haben können: Vielleicht hat die erstmals ins Leben gerufene Zusammenarbeit zwischen zwei Abteilungen besonders gut funktioniert? Konnten möglicherweise Erfahrungen mit der Nutzung neuer Technologien gesammelt werden? So findet eine positive Selektion einzelner Elemente statt, mit denen im Anschluss weitergearbeitet werden kann.

Doch erst wenn die Neuerungen auch tatsächlich in den Arbeitsalltag integriert werden, findet auch auf struktureller Ebene eine Veränderung statt (Re-Stabilisierung). Wenn beispielsweise die mit viel Aufwand entwickelte neue Nachhaltigkeitsstrategie zwar kommunikativ von der Leitungsebene genutzt wird, um die Organisation in einem guten Licht darzustellen, heißt das eben noch nicht, dass sich in der Breite der Organisation auch tatsächlich etwas verändert.

Innovation als sozialer Prozess

Es braucht also alle drei Stufen, um nicht nur einzelne Experimente zu ermöglichen, sondern einen strukturellen Wandel in Organisationen voranzutreiben. (1) Die Förderung neuer Ideen, die Irritation bestehender Routinen und das Schaffen von Räumen zum Experimentieren, (2) die bewusste Selektion und Weiterentwicklung der Variationen und (3) die Integration, also Re-Stabilisierungen, der Abweichungen in die Organisationsstrukturen. Erst dann werden Innovationen tatsächlich nachhaltig in der Organisation verankert.

Mit Blick auf die aktuelle Krise und die großen Herausforderungen unserer Zeit wird immer deutlicher, dass ein Zurück in eine vermeintliche stabile Vor-Krisen-Normalität unmöglich der richtige Weg sein kann. Kultureinrichtungen dürfen nicht nur passiv auf diese Transformationsprozesse reagieren, sondern müssen sie aktiv mitgestalten, evaluieren und weiterdenken. Dabei wird ihre Transformationskompetenz sowohl während als auch nach der Krise zentral sein, um weiter gesellschaftlich relevant zu bleiben.

Autor

Julian Stahl, Friedrichshafen

promoviert am WÜRTH Chair of Cultural Production bei Prof. Dr. Martin Tröndle an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen an den Schnittstellen von Organisationstheorie und Kulturmanagement und ist Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Darüber hinaus verantwortet er seit 2016 den Digitalbereich von PODIUM Esslingen und ist Host des PODIUM Podcasts.