Warum wir uns gerade in der Krise mit Nachhaltigkeit beschäftigen müssen
Kein Text zu den wichtigsten gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen könnte heute geschrieben werden, ohne auf den Bruch in unserer Geschichte einzugehen, den die weltweite Pandemie als Naturkatastrophe ausgelöst hat. Die Langzeitfolgen lassen sich heute nur schwer prognostizieren, sicher scheint aber, dass die Auswirkungen in vielen Ländern und Gesellschaften noch jahrzehntelang und in ganz unterschiedlichen Bereichen spürbar sein werden – in Wirtschaft und im Sozialwesen, in der Bildung und auch in der Kultur.
Gleichzeitig erkennen wir, dass die Lockdown-Regelungen in Deutschland an einigen Stellen etwas geöffnet haben, Verkrustungen und Verhärtungen gelöst wurden und Unvorstellbares innerhalb kürzester Zeit möglich schien. Die Digitalisierung hat einen Schub erfahren. Menschen sind – zumindest virtuell – näher zusammengerückt, obwohl sie sich weiter denn je voneinander entfernen mussten. Bürger*innen in vielen Ländern haben gezeigt, dass sie bereit sind, auf jahrhundertelang umkämpfte Freiheitsrechte zu verzichten, um ein höheres Ziel zu verfolgen: die Eindämmung der Pandemie. Ist es also möglich, dass sich in unserer Gegenwart eine Verhaltensänderung Bahn bricht, die große Teile der Wissenschaft schon seit mindestens den 1970er Jahren einfordern? Nämlich: ein tatsächliches Umdenken hin zu einer nachhaltigeren Lebensweise?
Trotz einiger weniger Initiativen und Publikationen, zum Beispiel derer der Kulturpolitischen Gesellschaft, insbesondere der von Hildegard Kurt und Bernd Wagner, verhandeln wir einen Nachhaltigkeitsdiskurs in Kunst und Kultur erst seit wenigen Jahren. Dazugehörige große Narrative werden womöglich später (nach der Krise?) in den Künsten entwickelt. Warum?
In Grenzsituationen öffnen sich unsere Seelen
Nachhaltigkeit ist ein sperriger Begriff und lässt sich kaum in unser emotionales Verständnis übersetzen. Der Philosoph Karl Jaspers hat, Bezug nehmend auf seinen Kollegen Wilhelm Dilthey ( »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir« 1924: 144), die Naturwissenschaft in ihrer Eigenschaft des Erklärens von den Geisteswissenschaften als verstehende Lehre und Forschung unterschieden. Jaspers, der sich in seiner Philosophie insbesondere mit den Grenzen des Seins beschäftigte, stellte weiter fest: Erklären ließe sich alles. Oder: Dem Erklären sind keine Grenzen gesetzt. Das Verstehen allerdings sei begrenzt (z.B. durch die Grenzen der Einfühlbarkeit). Die Grenzen des Verstehens gelte es immer wieder zu erweitern. Unsere Seele werde offen an den Grenzen, hier könnten wir untersuchen, was wir der Möglichkeit nach selber sind (siehe u.a. Karl Jaspers: »Allgemeine Psychopathologie« 1913, »Die Psychologie der Weltanschauungen« 1919, »Einführung in die Philosohie« 1950).
In Bezug auf Nachhaltigkeit heißt das, die Naturwissenschaften haben den Zustand der Umwelt und die Dringlichkeit zum nachhaltigen Denken und Handeln längst erklärt und die entsprechenden Ableitungen zu weiteren Entwicklungen publik gemacht. Wir hingegen haben diese Erkenntnisse noch nicht in der Art verstanden, als dass wir dringend notwendige Veränderungen in unserer Lebensweise vornehmen würden. Der Philosoph David Hume nahm an, die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung würde man nicht durch Vernunft, sondern durch Erfahrung entdecken – folglich würde menschliches Verhalten in erster Linie durch Gefühle und Affekte gesteuert. Humes Ansatz hält als Erklärung für den Umstand her, dass sich eine nachhaltige Lebensweise, wie sie bereits viele Jahre von den Wissenschaftler*innen gefordert wird, noch nicht ausreichend aus der Vernunft heraus durchsetzen konnte.
Kunst und Kultur im Nahbereich
Wie sollten wir uns auch einfühlen können in Ereignisse, die doch – zumindest für uns in Deutschland – oft in so weiter Ferne, also außerhalb unseren unmittelbaren Alltages liegen? Wenn sich Veränderungen direkt in unserem Nahbereich, also in dem, was wir mitunter auch als Heimat verstehen, in einem Ausmaß abzeichnen, dass wir sie nicht mehr unbemerkt lassen können (etwa: Dürreperioden, Abnahme der Artenvielfalt oder Armut), würden wir beginnen unseren Nahhalt, das, was uns im Nahen hält, sichern zu wollen. Aus diesem Bedürfnis würden sich Veränderungen ganz natürlich ergeben entstehen – gerade um das, was war und ist, zu bewahren.
Unser Nahhalt hat freilich mit Kunst und Kultur zu tun, denn diese wirken direkt hinein. Über künstlerische Erlebnisse finden Verbindungs- und Verständnisprozesse statt und unser Mitgefühl wird angeregt. Der bereits erwähnte David Hume hat darauf hingewiesen, dass Mitgefühl gleichrangig zur Vernunft die Grundlage des menschlichen Zusammenlebens bestimmt. Wenn sich Kunst und Kultur mit Nachhaltigkeit beschäftigen – und diese Entwicklung lässt sich glücklicherweise derzeit an vielen Initiativen und künstlerischen Projekten erkennen – dann kann es uns gelingen, in den Nahbereich der Menschen hineinzuwirken, Mitgefühl zu wecken und Verstehensprozesse anzuregen und die Dringlichkeit von Nachhaltigkeit dauerhaft anzulegen. Verstärkt wirkt dieser Vorgang durch die Krise, wie wir sie derzeit erleben. In dieser Grenzsituation öffnen wir unsere Seelen, erweitern unser Verstehen und können zukünftig die Grundlage für einen anderen Umgang mit dem ermöglichen, was uns die Naturwissenschaften bereits als Problem erklärt haben: dem Klimawandel.
Wandel im Nötigen – Anknüpfung an Bewährtes
An einigen Stellen kann man (noch) Skepsis hören gegenüber strukturellen Veränderungen im Kulturbereich: Die Unvereinbarkeit von Nachhaltigkeit und Kunstfreiheit wird postuliert. Die Vermutung, dass der eigene Sektor bei Umweltbelastungen im Vergleich zu anderen Sektoren unbedeutend sei. Aspekte wie Kostensteigerung oder rechtliche Hürden und Hindernisse etwa im Vergaberecht.
Erstes Argument ist ein vorgeschobenes, denn niemand stellt in Bezug auf Nachhaltigkeit die Kunstfreiheit in Frage. Diese Frage werfen eher diejenigen auf, die unter Nachhaltigkeit vorschnell Verzicht oder Einschränkung verstehen, anstatt eine kritisch abwägende Haltung zum Einsatz von Ressourcen. Zweites Argument mag zutreffen, kann aber doch nicht weiterführend sein, wenn Nachhaltigkeit eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist und jede*n von uns betrifft. Kostensteigerungen sind womöglich kurzfristig tatsächlich zu erwarten, können aber langfristig zu Kostenminderungen führen. Weitere Hindernisse und Hürden werden bereits in Angriff genommen, beispielsweise gibt es schon interne Überlegungen, wie das Vergaberecht im Hinblick auf nachhaltige Aspekte verändert werden muss.
Wichtig ist, sich in eine ehrliche Selbstbefragung zu begeben, keine vorgeschobenen Gründe gelten zu lassen, und vielmehr zu schauen: Was ist möglich und was nicht? Etwa: Trennen wir Müll im Theater? Wie sieht die Mobilität in meiner Kultureinrichtung aus? Wo könnten kleine Veränderungen vorgenommen werden, und wo große? Und: Wie kann meine Kultureinrichtung zu einem gemeinsamen Ziel, nämlich dem zukünftigen guten Leben für alle, beitragen?
Den gesamtgesellschaftlichen Wandel mitzugestalten und im Nahhalt zu wirken, liegt auch in der Verantwortung von Kunst und Kultur. Dabei sollte immer hinterfragt werden, was gut ist und was erhalten bleiben muss. Wir müssen an dem anknüpfen, was bereits war und das Nötige dafür vornehmen, um besser als bisher zu werden. Erst dann kann Kultur ihre Aufgabe erfüllen und die »Beschaffung einer Vorstellung von den Fernwirkungen« (Hans Jonas, »Das Prinzip Verantwortung«, 1979) mit dem unentbehrlichen Handeln im Nahbereich verknüpfen.
Autorin
Juliane Moschell ist Abteilungsleiterin Kunst und Kultur in der Landeshauptstadt Dresden, studierte Medienwissenschaft und Neuere Deutsche Literatur in Marburg sowie Kulturmanagement in Hamburg und arbeitete an Theatern in Koblenz, Frankfurt/M und Dresden. Seit 2017 ist sie tätig für das Amt für Kultur und Denkmalschutz. Nachhaltigkeit hat sie in die Kulturentwicklungsplanung Dresdens eingebracht und leitet das vom Rat für Nachhaltige Entwicklung geförderte Projekt Culture for Future.