Verfängliche Legitimierungsstrategien in Zeiten der Pandemie
Nicht erst seit Beginn der Pandemie ist »Relevanz« zu einem Zentralbegriff zur Beurteilung von künstlerischer Qualität avanciert. Aber ist er selbst in kategorialer Hinsicht überhaupt relevant für die künstlerische Praxis? Und ist die dieser Tage reflexhaft ins Feld geführte Relevanz, ob alt oder neu, das richtige Antidot für das Odiosum der »Systemrelevanz«?
Eine nicht eben subtil verstandene »Relevanz« wird schon seit Jahren als Grundkriterium bei der Beurteilung künstlerischer Werke jeglicher Art bemüht.
Die Verwendung dieses Kriteriums unterstellt nicht selten, dass genuin künstlerische Qualitäten nicht nur irrelevant sind, sondern mangelnde Relevanz regelrecht indizieren. Gleichermaßen erweist sich immer wieder, dass Relevanz nichts anderes bedeutet als – am liebsten offen zur Schau gestellter – aktualpolitischer Geltungsanspruch. In dieser reflexiven Verkürzung hat Relevanz weniger mit künstlerischer Aussagekraft zu tun als das Nilpferd mit dem Ballett: Kunst soll der Oppositionspartei die ideelle Reklame, soll dem Feuilleton das kontrollierte Skandalon, soll dem Publikum die klare Aussage liefern, damit sie es verstanden haben und im Bewusstsein der eigenen moralischen Überlegenheit von dannen schreiten kann.
Folgt das Urteil außerästhetischen, nämlich kunstfremden Kriterien, gibt es gewissermaßen das Innerste der Kultur preis und lizenziert den Verzicht auf deren eigengesetzliches Existenzrecht. Es erscheint nur auf den ersten Blick paradox, dass die derart auf realpolitischen Widerstand eingeschworene Kulturproduktion – da sie ihre ureigene formale Widerständigkeit verliert – in letzter Konsequenz von politischen Agenden vereinnahmt wird und nicht selten einer konformistischen Kurzlebigkeit anheimfällt.
Nachdem nun die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie verabschiedet und damit Kulturveranstaltungen im öffentlichen Raum untersagt wurden, brachten viele Kulturschaffende Protest und Bestürzung zum Ausdruck – ob in kleinen Video-, Bild- und Textbeiträgen im Internet, in großangelegten Aktionen oder aber in Zeitungskommentaren. Unter den letzteren befanden sich nicht wenige gutgemeinte Legitimierungsversuche des Kulturbetriebs, welche unterstrichen, dass Kunst und Kultur einen Bildungsauftrag erfüllten, Aufklärungsarbeit leisteten, in schweren Zeiten erbaulich wirkten, das Gemeinschaftsgefühl stärkten und den gerade jetzt so vermissten persönlichen Austausch förderten – kurzum, dass sie relevant und systemrelevant seien.
Es zu vermuten, dass solche Rechtfertigungen von Kulturtätigen in erster Linie gegen außen vertreten werden –
indem sie die pragmatistische Logik der Führungsriege übernehmen, der die fundamentale Unverzichtbarkeit von Kunst offenbar alles andere als evident ist. So verständlich dieses legitimatorische Ansinnen auch sein mag, verkauft es Kunst, indem es ein erratisches Wertesystem reproduziert, weit unter Wert – und wirft uns so zurück auf die schnöde Intranszendenz jener Alltagslogiken, welche zu übersteigen künstlerische Arbeit gerade berufen ist.
Dass eine solche Selbsterniedrigung der Kulturwelt überhaupt vonnöten zu sein scheint, ist zwar keineswegs neu; aufs Neue demonstriert sie jedoch das desaströse Ausmaß der vorherrschenden kategorialen Verkehrung: Kunst als Mittel zu einem vermeintlich übergeordneten, wichtigeren, bestenfalls ›handfesten‹ Zweck zu begreifen. Doch Kunst ist nicht für etwas Anderes da, für Politik, Demokratie, Umwelt, Bildung oder Gesundheit – auch wenn sie auf allen diesen Terrains Großes leisten kann.
Nein: Kunst gehört zu den wenigen Aspekten unseres Lebens, die sich außerhalb von dessen inhärenten Erfordernissen und Zwängen konstituieren, den Sinn also nicht aus diesen beziehen, sondern wirklichen Sinn überhaupt erst zu stiften vermögen. Wir brauchen Kunst nicht für etwas – sondern für uns. Jede andere Begründung ist nichts als ein Zugeständnis an horizontbeschränkte Zweckrationalitäten.
Die Existenz und Bedeutung von Kunst muss nicht begründet werden. Vielmehr müssten kulturfeindliche Tendenzen in einer Kulturgesellschaft unter Rechtfertigungsdruck stehen: Wenn Kunst aus Sicht eines Systems nicht relevant ist, dann sollte man dringend nach der Relevanz dieses Systems aus Sicht der Kunst fragen.
Autor
Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren, lehrte nach dem Studium deutsche Literatur an verschiedenen Universitäten. Seit 2016 lebt er als freier Autor in Aarau. Seine Texte werden in Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen publiziert; zuletzt erschien das Handwörterbuch der russischen Seele bei der Parasitenpresse Köln.