Eine Krise der Konzepte
Warum Kulturförderung neu denken und sprechen lernen sollte

Jens Badura, Martin Zierold

11. August 2021

Alle reden von Transformation – ohne aber die Rede von »Transformation« zu transformieren. Wer die Debatten über »Kultur“ und „Gesellschaft« selbst während des oft konstatierten »Ausnahmezustands« der Pandemie verfolgt, dem begegnen immer wieder Begriffe, Bilder und Argumentationsmuster, die über die Jahre bemerkenswert konstant geblieben sind. Ja, bisweilen konnte der Eindruck entstehen, der vermeintliche Ausnahmezustand wurde als Einladung verstanden, die Positionen, die man auch vorher schon hatte, nun lediglich mit noch mehr Lautstärke und Dramatik zu vertreten – als Amplifikation des Bekannten. Die Krise der Pandemie fügte sich so diskursiv recht nahtlos ein in gleich mehrere gefühlte Dauerkrisen »der Kultur«: So sahen sich gleichermaßen die bestätigt, die schon immer den Eindruck hatten, dass die herausgehobene Bedeutung »der Kultur« von »der Gesellschaft« oder »der Politik« zu wenig anerkannt werde – und andererseits auch die, die schon seit langem fordern »die Kultur« müsse endlich in plausibler Form ihren Relevanznachweis liefern, um ihren öffentlichen Auftrag zu erfüllen und ihre Förderung zu legitimieren – um nur zwei Standardpositionen des vertrauten Diskurses zu nennen.

So berechtigt diese Positionen in sich auch sein mögen, so unbefriedigend ist der diskursive Stillstand, der sich in der Wiederkehr und Form der Argumente zeigt. Erstens gibt es wenig Grund zur Hoffnung, dass die bloße mantraartige Wiederholung wohlvertrauter Positionen plötzlich eine Veränderung der Situation bewirkt, wenn dies über Jahre hinweg bisher nicht gelungen ist. Zusätzlich schal wirkt die diskursive Trägheit durch den inneren Widerspruch, dass viel über »Transformation«, »Wandel« oder gar »Disruption« gesprochen wird, ohne dass sich dieser behauptete oder geforderte Wandel in den Diskursen selbst grundlegend widerspiegelt: Wenn die Diagnose zutrifft, dass wir in einer Zeit tiefgreifender technologischer, sozialer und kultureller Veränderungen leben – müsste sich dies nicht auch ebenso tiefgreifend auf unsere Leitbegriffe auswirken, auf die Methoden, mit denen wir Evidenzen schaffen, auf die Formate, in denen wir miteinander kommunizieren, auf die Darstellungsweisen, in denen wir unsere Positionen dokumentieren?

Krise des Denkens und Sprechens

Vor diesem Hintergrund erscheint die in dieser Ausgabe der Kulturpolitischen Mitteilungen verhandelte Krise der Kulturförderung zuvorderst als eine Krise des Denkens und Sprechens. Dies zeigt sich exemplarisch an dem ganz grundlegenden kulturpolitischen Diskurs zur Frage, warum es Kultur braucht und warum diese öffentlich gefördert werden sollte. In der Pandemie wie schon davor kommt regelmäßig eine zweiteilige Strategie zum Einsatz: Zum einen wird das humanistische Motiv »der Kultur« als »Lebensmittel« aktiviert und in zuweilen beschwörender Form mit dem Nutzen der Kultur für das (individuelle wie kollektive) gute Leben argumentiert. Zum anderen kommt das BIP-Argument zum Einsatz, bei dem auf die mehr oder weniger erhebliche ökonomische Wertschöpfung der Kulturbranche hingewiesen wird. Zusammengeführt mündet man dann seit jüngster Zeit vermehrt beim Begriff der »Systemrelevanz«, der inzwischen zu einer Art Leitvokabel wurde und für die Forderung steht, dem Kultursektor einen gesellschaftlichen Status zuzuschreiben, der anderen zentralen Feldern wie der Wirtschaft nicht nachstehen soll.

Beide Argumentationslinien jedoch sind problematisch und mit ihnen auch die Rede von der vermeintlichen »Systemrelevanz«: Die humanistische Perspektive hat den Hang zur Sonntagsredengeste und bleibt meist appellativ und notorisch vage, das BIP-Argument neigt zu einer Anbiederung an eben jene Herrschaftslogik der Ökonomie, die gerade im Kulturbereich vielseitig kritisiert wird. Diese Problematik wird nicht geringer, wenn »die Kultur« argumentativ mit weiteren Nutzenfunktionen zusammengebracht wird: Prominent sind beispielsweise Hinweise auf die sozial-integrierende Funktion »der Kultur« – gern verbunden mit der Metapher, »die Kultur« sei der »Kitt« der Gesellschaft – bis hin zur Preisung positiver gesundheitlicher Auswirkungen von Kulturrezeption im Kontext von Achtsamkeits- und anderen Wellnesstrends.

All diese Versuche, »der Kultur« ein Set an festen und mehr oder minder konkreten Nutzeneffekten und -funktionen zuzuschreiben, führen letztlich dazu, sie entweder als sakrosankten Selbstzweck gegen jegliche Infragestellung ihrer Bedeutung zu immunisieren (prototypisch hier das einstige Motto des Bühnenvereins: »Theater muss sein«) oder als unverzichtbares Mittel für andere, vermeintlich wünschenswerte Zwecke zu instrumentalisieren. Weder zur Orientierung von Kulturpolitik noch für die strategische Ausrichtung von Kulturorganisationen lässt sich mit diesen Ansätzen fruchtbar arbeiten.

Stattdessen müssen wir uns – so unser Plädoyer – einmal mehr ans Eingemachte wagen, tiefenscharf neu nachdenken und über den spezifischen Nutzen des Kulturbetriebs debattieren, über die Kompetenzen, die diesen Nutzen in Wirkung bringen und über die Grenzen dessen, was dem Kulturbetrieb zugeordnet wird oder nicht. An dieser Stelle sei lediglich auf zwei Kernfragen in diesem Zusammenhang hingewiesen, die für eine nicht als krisenhaft empfundene Kulturförderung zentral sind: die Frage der Spezifikation und die der angemessenen Honorierung von Kulturarbeit.

Grenzziehungen

Keine Kulturförderung ohne Grenzziehungen: Was ist förderungswürdig und was nicht? Am Anfang einer Verhandlung dieser Frage steht der unspektakuläre Befund, dass die Kulturbranche in sich längst nicht mehr durch verstaubte Hierarchisierungen von »E« und »U«-Kultur differenziert werden kann. Doch allein diese Diagnose ist längst nicht in der Kulturförderung der Gegenwart angekommen, die bis heute die Großinstitutionen der Hochkultur gegenüber den freien Szenen und Popkulturen begünstigt und dies letztlich nur durch historische Pfadabhängigkeiten begründen kann. Noch komplizierter wird die Lage dadurch, dass das kulturelle Feld längst uneinheitlich und vielfältig mit Politik, Wirtschaft, Bildung, Religion – um nur einige zu nennen – verschränkt ist. Gerede die wachsende Bedeutung der »Kultur- und Kreativwirtschaft« mag hier als Beispiel dafür dienen, dass sich Grenzen verschieben bzw. durchlässig werden. Die lange Zeit dem Kunst- und Kultursektor als Spezifikum zugeschriebene »Kreativität« – repräsentiert insbesondere in der Figur der Künstler*in – hat sich bekanntermaßen längst zu einem Leitbild für nahezu alle Lebensbereiche entwickelt. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass »die Kultur« einerseits gesellschaftlich so erfolgreich war, dass sie heute mit allen Feldern Schnittmengen bilden kann und bildet, und andererseits gerade dieser Erfolg dazu führt, dass ihre unterstellte Eigenart viel schwerer zu behaupten ist, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten möglich gewesen sein mag.

The Business of Culture is also Business

Der Siegeszug der Figur der Künstler*in vom Rand hin zum Leitbild der Gesellschaft hat sich zeitlich parallel entwickelt zur Prekarisierung zahlreicher Arbeitsmärkte. Schon in den 1990er Jahren wurde problematisiert, dass die Kulturalisierung der Wirtschaft diese nur in der Rhetorik »weicher« gemacht hat, nicht aber in der Sache und ihrer Orientierung an den Erfolgslogiken neoliberaler Strategien. Die wirtschaftliche Lage im Kulturmilieu ist im Vergleich dazu noch ambivalenter. Die im »soften« Kapitalismus geförderte Bereitschaft zu Selbstausbeutung ist unter den Kulturschaffenden ebenfalls vorhanden, doch sie paart sich mit einer milieueigenen Betonung der Ablehnung von Orientierung an wirtschaftlichen Eigeninteressen: Allzu laut über individuelle Verdienstansprüche zu sprechen, scheint gewissermaßen die Glaubwürdigkeit des eigentlich vor allem intrinsischen Motiviertseins zu kompromittieren. Solange aber nicht auch auf der Ebene des individuellen Verdienstes Klartext gesprochen werden kann, kann kaum eine offene Diskussion darüber geführt werden, wie sich das Verhältnis von Arbeit und Lohn im Kultursektor zu jenem in anderen Feldern verhält. Diese Diskussion wird notwendig sein, wenn man hier nicht immer wieder auf die genannten Motive von Kultur als Selbstzweck zurückfallen und in immer noch gut geschmierten Vorurteilsautomatismen der Art »Warum sollten wir Steuerzahler denen ihre Selbstverwirklichungsambitionen finanzieren« münden will.

Wege aus der Krise der Begriffe

Ein neues Denken und Handeln der Kulturförderung wird ohne neue Antworten auf diese Fragen nicht möglich sein, und dazu ist ein neuer Typ von Debatte dringend nötig: Es ist höchste Zeit, der Rede von Transformation auch eine Suche nach neuen Begriffen, Konzepten und Modellen folgen zu lassen, die die verschiedenen gesellschaftlichen und ökonomischen Funktionen des Kulturbetriebs, seine porös gewordenen Ränder in andere sozioökonomische Felder, die heterogenen Interessenlagen und Erwartungshaltungen der in ihm tätigen Akteur*innen und anderer Stakeholder*innen möglichst unvoreingenommen und differenziert zur Verhandlung bringen. Es wird keinen Weg aus der Krise der Kulturförderung geben, wenn wir die Stagnation im Reden und Denken über »die Kultur« nicht überwinden.


Dieser Beitrag ist bereits in der Ausgabe 173 der Kulturpolitischen Mitteilungen erschienen. Sie kann hier erworben werden.



Autoren

(c) privat
(c) Christina Körte

Dr. Jens Badura betreibt das berg_kulturbüro in Berchtesgaden. Der habilitierte Philosoph und Kulturmanager lehrt zudem Kulturtheorie und Ästhetik an der Zürcher Hochschule der Künste und forscht dort am Zurich Center for Creative Economies sowie am »Institut Kulturen der Alpen« der Uni Luzern. Er lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe in Marktschellenberg.









Prof. Dr. Martin Zierold ist Leiter des Instituts für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, an dem er die Zajadacz Stiftungsprofessur für Innovation durch Digitalisierung
innehat. Dort befasst er sich mit Fragen der Strategie und Organisationsentwicklung angesichts der großen
gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Gegenwart. Martin Zierold arbeitet zudem freiberuflich als systemischer Coach, Lehrtrainer und Berater.