Selbstbezüglichkeit statt Relevanz.
Transformationsdefizite öffentlich geförderter Kulturorganisationen

Henning Mohr

23. Dezember 2020

Der kulturpolitische Diskurs beschäftigt sich nicht erst seit der Corona-Krise mit den vielfältigen strukturellen Defiziten des Kulturbereichs. Eigentlich befinden wir uns schon seit Jahrzehnten in einem wiederkehrenden Dialog über die Transformationsdefizite des Sektors und einer fehlenden Anpassung kultureller Infrastrukturen an den immer schnelleren gesellschaftlichen Wandel. Insbesondere öffentlich geförderte Kulturorganisationen müssen sich den Vorwurf der Veränderungsunfähigkeit gefallen lassen, da wichtige Zukunftstrends – wie etwa die Digitalität, Diversität oder Nachhaltigkeit – angesichts bestehender Pfadabhängigkeiten alltäglicher Steuerungs-, Arbeits- sowie Produktionsroutinen nur unzureichend aufgegriffen werden. Es existieren eine Reihe institutioneller Blockaden, die oftmals ungewollt die Transformationsfähigkeit von Kultureinrichtungen reduzieren.


Ein wesentlicher Faktor für die vorherrschende strukturkonservative Ausrichtung sind die Mechanismen der öffentlichen Förderung durch Bund, Länder und Gemeinden, die wenig Anreize für eine Weiterentwicklung setzen, sondern den vorherrschenden Status quo zementieren. Der größte Teil der Förderung geht dauerhaft an bestimmte Kulturinstitutionen mit den darin verinnerlichten Spartenlogiken. Angesichts dieses in der Regel einigermaßen sicheren Finanzrahmens besteht innerhalb der Systeme keine Pflicht zur Legitimation gegenüber fördermittelgebender Instanzen und damit auch kein Anpassungsdruck. Die dauerhafte Förderung steigert vielmehr die Selbstbezüglichkeit und blockiert eine stärkere Reflexion externer Bedürfnisse im Sinne einer Professionalisierung des künstlerischen Produktionskontexts.


Dieser Aspekt wird dadurch verstärkt, dass sich die öffentliche Förderung durch den Aspekt der künstlerischen Autonomie selbst legitimiert. Eine direkte Beeinflussung der strukturellen Ausrichtungen von Kulturorganisationen durch externe Stakeholder wie Kommunen, Land oder Bund wird häufig kritisiert und die Freiheit zur Selbstgestaltung hochgehalten. Dieses Ideal kultureller Produktionen als Selbstzweck eröffnet dem Kulturbereich in der Selbstwahrnehmung erst den Raum für eine kritische Reflexion gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Allerdings blockiert dieser Anspruch nicht selten eine fundierte Auseinandersetzung mit den sich verändernden gesellschaftlichen Legitimations- oder Relevanzkriterien. Sicherlich ist die hier gemeinte künstlerische Freiheit ein hohes Gut und absolut schützenswert. In ihrer derzeitigen Ausgestaltung wird sie als Totschlagargument ins Feld geführt und verhindert die dringend notwendige Debatte über Veränderungsprozesse im Kulturbereich. Auch der Kulturbetrieb ist geprägt von weißen Menschen aus der Mittelschicht, die tendenziell hohe Bildungsabschlüsse haben. Wenn im Kulturbetrieb also künstlerische Freiheit gefordert wird, sollte mindestens ebenso kritisch zurückgefragt werden, wessen Freiheit hier eigentlich gemeint ist.


Zur Fundierung des Diskurses braucht es eine gedankliche Trennung zwischen strukturellen und programmatischen Eingriffen kulturpolitischer Entscheidungsträger*innen. Externe Vorgaben und Unterstützungsleistungen für eine Neuausrichtung des Produktionskontexts sind mittlerweile notwendig, um zeitgemäße sowie relevante Produktionen zu stärken. Dadurch lässt sich auch das Handlungsfeld der Kulturpolitik professionalisieren, das sich – auch aufgrund der nicht akzeptierten Einflussnahme – zu einer Art Kulturförderpolitik entwickelt hat. Kulturorganisationen basieren oftmals auf einer akademischen Produktionslogik, sind nicht selten extrem hierarchisch ausdifferenziert und verinnerlichen dadurch eine starke Machtzentrierung auf wenige Funktionsträger. Diese althergebrachten Strukturen der Ablauforganisation stehen aufgrund ihrer Tradition zwar für Stabilität, allerdings sorgen sie auch für Trägheit bei der Neuausrichtung. In diesem Zusammenhang wirken auch die Verflechtungen und Pfadabhängigkeiten zwischen den unterschiedlichen Träger-, Verwaltungs- und Politikebenen als Barrieren für Veränderungen. Nicht selten werden etwa Digitalisierungsvorhaben durch bürokratische Vorgaben blockiert oder verhindert. Mahnende Beispiele sind die vielen kommunalen Kultureinrichtungen, die nur aufgrund ihrer Einbindung in die hierarchische Ordnungsstruktur der Verwaltung keine eigene Webseite und auch keine Social-Media-Kanäle betreiben dürfen.

Die hier gemeinten Verflechtungen und Pfadabhängigkeiten führen auch dazu, dass es im Kulturbereich an querschnitts- und damit ressortübergreifenden Prozessen mangelt, die Synergien durch vernetztes Denken und kollaboratives Arbeiten ermöglichen würden. Gerade der Aspekt der Kollaboration ist eine entscheidende Voraussetzung für mögliche Veränderungen im Kulturbereich, da in derartig organisierten Arbeitskontexten unterschiedliche Expertisen – auch außerhalb der Organisation – in den Produktionsprozess integriert werden und in der Regel auch Personen beteiligt werden, deren Ansprüche, Denkweisen oder Fähigkeiten in der Kulturarbeit noch zu wenig repräsentiert sind. Aus diesem Grund braucht es gerade heute eine starke Kulturpolitik, die neue Leitbilder, Vorgaben, Forderungen und Förderungen erarbeitet oder bereitstellt, mit denen Kulturorganisationen dazu gebracht werden können, die eigene Arbeit stärker zu überprüfen und neu auszurichten. Es bedarf veränderter Unterstützungsleistungen, wie Coachings, Beratungs- und Weiterbildungs- bzw. Kompetenzentwicklungsangebote für neues Arbeit oder Innovationen für Kulturschaffende und -institutionen. Im Kulturbereich gibt es indes – nach Abschluss der Berufsausbildung – aufgrund fehlender Budgets und Infrastrukturen kaum Möglichkeiten zur weiteren Qualifizierung für das eigene Wirkungsfeld. Es mangelt schlicht an einer Kultur der Weiterbildung und gezielten Kompetenzentwicklung.

Die Kulturpolitik versucht derzeit den Wandel im Feld der Kultur durch projektbasierte Innovations- oder Transformationsförderungen zu erreichen, die allerdings nur äußerst selten eine dauerhafte und damit nachhaltige strukturelle Anpassung des Kultursystems möglich machen – in der Regel nur dann, wenn in der Führung und bei den Beschäftigten ein Wille zur Veränderung sowie eine Akzeptanz damit verbundener Anpassungen der Strukturen vorhanden sind. Ernsthafte und langfristige Veränderungen müssen in Abstimmung zwischen den fördermittelgebenden Instanzen und den Organisationen erfolgen und auf Dauerhaftigkeit entsprechend gemeinsam entwickelter Zielstellungen ausgerichtet sein. Diese Prozesse der Abstimmung, Verhandlung und Koordination struktureller Anpassungen müssen mitsamt damit verbundener Methoden oder Strategien von den beteiligten Akteurinnen noch gelernt werden. Passend dazu braucht es – verstärkt durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie – einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs über Zukunftsfragen in Kunst und Kultur.


Angesichts der Vielzahl an Verflechtungen, Pfadabhängigkeiten und Bürokratien stellt sich durchaus die Frage, wie sich der Kulturbereich dauerhaft entsprechend des gesellschaftlichen Wandels weiterentwickeln kann. Die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung wird in den kommenden Jahren einer der zentralen Schwerpunkte der kulturpolitischen Forschungsarbeit des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft, das sich auf diese Weise stärker als Think Tank für die Transformation des Kulturbereichs positionieren und eine dringend notwendige Debatte über die Zukunfts- beziehungsweise Innovationsfähigkeit des Kulturbereichs führen möchte.

Autor

Foto: Roland Baege

Dr. Henning Mohr, Bochum

Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.