Kulturförderung ist ein heikles Thema, egal von welcher Seite man sich ihm nähert. Bei Kulturförderung denkt man zunächst an Förderungen durch die öffentliche Hand. An finanzielle Unterstützungen für Projekte, deren Förderungswürdigkeit von Bürger*innen, deren Steuergelder dabei zum Einsatz kommen, mehr oder weniger anerkannt wird. Kein Kulturprodukt oder -projekt gefällt allen, entsprechend gefällt auch geförderte Kultur immer nur einer mehr oder weniger großen Gruppe von Menschen. Insofern erscheint es sinnvoll, sich von der Vorstellung einer allgemeingültigen nationalen Kultur, die besonders förderungswürdig ist, zu verabschieden. Und als zeitgemäßeres Ziel zu definieren, möglichst vielfältig Kulturen repräsentieren zu wollen, um entsprechend viele im Land lebende Menschengruppen anzusprechen.
Dies heißt nicht, dass die überwiegend von ablen weißen cis hetero Männern geprägte Kultur des bürgerlichen Zeitalters keine Rolle mehr spielen soll. Sie soll nur nicht mehr unhinterfragt dominieren und den Blick auf ›die Anderen‹ und ihre Kulturen verstellen. Millionen Menschen sehnen sich nach angemessener Repräsentation in der Öffentlichkeit, auch als Kulturproduzierende, -rezipierende, -vermittelnde. Sie haben längst verstanden, dass die Wahrnehmung ihrer Kulturprodukte und -projekte nicht von Fragen gesellschaftlicher und ökonomischer Partizipation zu trennen ist. Wessen Musik, Literatur oder Kunst nicht als anschauenswürdig gilt, dem kommt in dieser Gesellschaft grundsätzlich eine Randstellung zu.
Mehr als ein guter Vorsatz
Eine Kulturförderung, die nominell die Öffentlichkeit repräsentiert, muss sich auch real an die Öffentlichkeit richten, sonst wird es absurd. Der nötige Perspektivenwechsel, der in Wirklichkeit eine Öffnung des Blicks meint, wird sich ganz unangestrengt von selbst einstellen, sobald Jurys und Gremien, die Förder- und Preisgelder vergeben, in einer Weise besetzt sind, die selbst wiederum gesellschaftliche Vielfalt repräsentiert. Sich Diversität nur als guten Vorsatz auf die Agenda zu schreiben, ist nicht nachhaltig. Sie muss strukturell und dauerhaft verankert werden, um mehr als ein einzelnes gelungenes Event mit wohlwollendem Pressespiegel hervorzubringen.
Gesellschaftliche Vielfalt ›geht nicht mehr weg‹: Die meisten Menschen leben in internationalen Stadtgesellschaften, wir alle leben in einer globalisierten Welt. Statt weiter Zukunftskonferenzen zu veranstalten, macht man Diversität besser sofort zum Maßstab, am dringendsten bei Jobbesetzungen und Auftragsvergaben. Das Wichtigste, was viele Entscheider*innen in der Kulturförderung zu lernen haben, ist der Umstand, dass sie aufgrund ihrer Herkunft und Bildung besonders schlecht über den Rand tradierter weißer europäischer, von der christlichen Aufklärung geprägter Vorstellungen blicken können. Beim Umsehenlernen brauchen sie dringend professionelle Hilfe. Das ist für Menschen mit erheblichem institutionellem und oft zusätzlich akademischem Prestige sicherlich ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. Aber es geht ja um Veränderung, und ohne Aufgabe von Gewohnheiten ist diese nicht zu haben.
Schwarzer Rollkragen, flatternder Schal
Wenn man an die üblichen in klassischen Medien erscheinenden Cartoons über Kultur denkt, posieren alle Philosophen in schwarzen Rollkragenpullovern und mit aufgestütztem Kinn, haben alle Dirigenten flatterndes welliges Haar, tragen alle Intendanten ständig Schal, gibt es Frauen nur in sehr dünn (Tanz) oder sehr dick (Gesang) – und ausschließlich in darstellenden Künsten; Queere, BiPoC, Behinderte hat man hier noch nie gesehen. Diese Cartoons karikieren Vorstellungen von ›Hochkultur‹, zugleich geben sie Auskunft über machtvolle Bilder, die seit Jahrzehnten in unveränderter Form existieren. Für diese Beständigkeit können mehrere Ursachen vermutet werden.
Zum einen wird Kultur zwar in der Realität von ganz unterschiedlichen Menschen geschaffen, performt und rezipiert, doch der in der klassischen Medienöffentlichkeit gezeigte Ausschnitt ist immer noch vergleichsweise monokulturell. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Glücklicherweise sind hier bereits Veränderungen spürbar, aber es könnte, es sollte sehr viel schneller gehen. Die selbstverständliche kulturelle Repräsentation von gesellschaftlicher und ästhetischer Vielfalt ist ein äußerst wirksames Mittel gegen das allseitige Einsickern des Reaktionären. Wenn es keine gesetzte kulturelle Norm mehr gibt, sondern viele Varianten, fällt es schwer, den Mythos vom das Eigene bedrohenden Fremden aufrechtzuerhalten, mit dem Rassismus, Antisemitismus, Klassismus, Sexismus, Queer- und Behindertenfeindlichkeit unterfüttert sind.
Zum anderen partizipieren sehr viele Bürger*innen nur ›gefühlt‹ an weiten Bereichen öffentlich geförderter Kultur. Sie gehen nicht ins Theater, in die Oper, ins Konzert, ins Museum oder zu Literaturfestivals. Die Umfragen des Kulturbarometers zeigen, dass dennoch viele von ihnen die Förderung von Hochkultur und freier Szene, also die Existenz von Opernhäusern, Theatern, Philharmonien, Museen und das Stattfinden von Literaturfestivals als sinnvoll bezeichnen. Man kann ein gutes Gefühl daraus ableiten, dass die Kinder in der Schule Schiller lesen, jederzeit eine tolle Ausstellung besucht werden könnte, ein ›gutes Buch‹ vor einem auf dem Couchtisch liegt. Magisches Denken: Man muss es gar nicht wirklich tun, um sich an der Vorstellung zu erwärmen. An physische Orte und Objekte gebundene Kultur kann also auch unabhängig von konkreter Teilnahme positive Auswirkungen aufs individuelle Selbstbild haben, in einer diffusen Weise ›bedeutend‹ sein. Aus dieser Beobachtung lassen sich alternative Handlungsaufforderungen für Entscheider*innen ableiten. Sie können versuchen, diese ›passiven Kulturfreund*innen‹ zu aktivieren, sie ›zurückzuholen‹, ins Museum, in die Oper, die Bibliothek, zur Lyrik und so weiter. Solche Versuche hat es in den letzten Jahrzehnten vielfach gegeben, der Erfolg war mäßig. Sie können umsehen lernen, anerkennen, dass viele Leute ›einfach so sind‹ und sich freuen, dass ihr Schattenpublikum nichts gegen staatliche Kulturförderung hat. Sie können die kulturelle Repräsentation von gesellschaftlicher und ästhetischer Vielfalt durch ein divers besetztes Team strukturell verankern und so organisch Angebote entwickeln, die eine neue, große Zielgruppe ansprechen, die nicht ›zurückerobert‹ werden muss, sondern sich endlich willkommen fühlen wird.
Echtes kulturelles Leben im Internet
Was als bedeutende Kultur wahrgenommen wird, hat im deutschsprachigen Kulturraum auch sehr viel damit zu tun, in welchen Formaten und Medien etwas präsentiert wird. Und hier liegt ein Kernproblem. Das Geld, die Aufmerksamkeit, die Bedeutung im Bereich offizieller Kultur wird im geringsten Maße der Sphäre zugewiesen, in der gesellschaftliche und ästhetische Vielfalt am plausibelsten abgebildet wird: Auf Social-Media- und Streaming-Plattformen treiben Kulturschaffende und -konsumierende den notwendigen Wandel längst erfolgreich voran, gemeinsam. Die #metoo- und #metwo-Bewegungen etwa haben global das Bewusstsein für strukturellen Sexismus und Rassismus geschärft, was auf international operierenden Streamingplattformen schnell zu vielfältigeren Besetzungen von Serien und Filmen geführt hat. Für die Mehrheit der Menschheit findet das ›echte Leben‹ – kleine, aber einflussreiche Teile der Menschheit können sich dies partout nicht vorstellen – in fluiden Mischungen in der digital-virtuellen Sphäre statt und zwar aus Neigung, freiwillig, nicht wie jetzt im Lockdown erzwungen.
Ein Großteil der als öffentlich relevant geltenden, analogen Kultur in klassischen Konzert- und Opernhäusern oder Theatern könnte ohne erhebliche finanzielle Unterstützung durch Bund und Länder gar nicht existieren. Pandemiebedingt hat sich gerade eine Realität eingestellt, in der diese Angebote tatsächlich nicht existieren, und viele Kulturschaffende sich sorgen, dass das Publikum sich endgültig daran gewöhnen könnte, Videoaufzeichnungen (ohne oder mit stark reduziertem Publikum) als Live-Erlebnis zu empfinden – denn gestreamte Aufführungen sind zeitlich ja live. Man teilt die Zeit, in der eine Aufführung stattfindet, nur nicht in einem gemeinsamen physischen Raum. Verschieben sich Aufführungspraktiken notgedrungen und dann gewohnheitsmäßig, dauerhaft ins Virtuelle, verliert die Vorstellung einer Kultur im physischen Raum, die traditionell besonders förderungswürdig das Wahre, Schöne, Gute des jeweiligen Staates symbolisiert, weiter an Plausibilität.
Der Status des Besonderen
Die Trauer der Menschen, die an diese Form der Kultur gewöhnt sind, ist echt und verständlich, man kann sie mitfühlen. Gleichzeitig regt die aktuelle Situation stark zum Denken an, was sehr positiv ist. Dass man jetzt die wesentlichen Teile dessen, was Kultur ausmacht, verloren hat oder vollständig zu verlieren droht, erscheint übertrieben: Netflix streamt immer noch. Menschen lesen Bücher und Comics, hören Aufnahmen, und sehen Konzertfilme. Nur eine sehr bestimmte Ausprägung von Kultur muss aktuell pausieren beziehungsweise sich im Internet einrichten, so gut es geht. Damit hat sie vorübergehend, vielleicht auch permanent, ihren Status des Besonderen verloren. Schon jetzt scheint es weniger plausibel, dass wenige tausend Personen die Kultur eines ganzen Staates repräsentieren.
Die symbolische und ökonomische Macht greift im Netz weniger stark, aber auch im Lockdown sind nicht alle Menschen gleich, soziale Ungerechtigkeiten verstärken sich eher noch. Kultur jedoch wirkt im Internet während des Lockdowns und nicht zuletzt durch die Banalität der häufig zu sehenden heimischen Bücherwand plötzlich gleichgestellt. Zudem wird deutlicher, dass es ein kategorialer Unterschied ist, ob Kulturschaffende im klassischen Betrieb berühmt und im Netz ›gut sind‹, oder ob sie wirklich existenziell darauf angewiesen sind, im Netz zu sein. Viele Autor*innen beispielsweise würden ohne Fangemeinde in sozialen Netzwerken gar nicht existieren, viele kleine Verlage auch nicht. Die einen hatten mal die Wahl, die anderen nie. Selbst in Coronazeiten interessiert aber im Feuilleton mehr, was Vertreter*innen der Normkultur in der Krise erleben,– warum fragt man sich und fürs Publikum nicht, was von den Anderen im Netz gelernt werden könnte, von Kulturschaffenden und -vermittelnden, die im Lockdown relativ normal weiterarbeiten. Ist es, weil sie zu wenig den Cartoon-Images entsprechen?
Es schadet nicht, jetzt gerade einmal im Netz zu erleben, wie es ist, wenn alle Kultur den gleichen Status hat. Es schadet nicht, als Zuschauende die Live-Lesung des preisgekrönten Autors, der sonst umstandslos in jedes Literaturhaus gebucht wird, direkt neben dem Live-Talk der Journalistin angezeigt zu bekommen, der regelmäßig mit der Bezeichnung ›Netzaktivistin‹ die Professionalität abgesprochen wird. Es schadet nicht, als Mensch zu erleben, wie einen die nicht kompetitive Gemeinschaft der Anderen im Netz durch die Krise tragen kann.
Exklusivität ist kein verlässliches Gütesiegel
Niemand kann sich jetzt in der Krise ernsthaft wünschen, nahtlos an das Vorher anzuschließen, nicht nur, weil es angesichts der kommenden Wirtschaftskrise unrealistisch ist. Warum nicht lieber sofort damit beginnen, repräsentative und performative, analoge und digitale, klassische und neue Kulturen so zusammenzudenken und zu vermitteln, dass viel mehr Menschen daran partizipieren können? Nicht nur, weil dabei die Zuschauer*innenplätze technisch weniger begrenzt sind. Nicht Menschen sind für Kultur, Kultur ist für Menschen. Mehr Kulturen sind für mehr Menschen. Mehr Kulturen in mehr Medien sind für noch mehr Menschen. Exklusivität ist kein verlässliches Gütesiegel besonders guter Kultur.
Es geht nicht darum, Kultur im physischen Raum vollständig durch virtuelle zu ersetzen. Es geht auch nicht darum, komplexe Kultur zu verflachen. Aber es sollte im nächsten Schritt der Kulturarbeit und -förderung um eine möglichst barrierefreie, lebendige Kulturvermittlung gehen, die mit digitalen Mitteln weltweit Menschen anspricht. Viel Geld für Kulturprojekte auszugeben, die jeweils nur eine Handvoll Menschen erreicht, ist konzeptuell nicht mehr akzeptabel. Live-Streams erreichten die breite Öffentlichkeit erst in der Krise des Lockdowns – warum sind sie nicht längst die Norm gewesen?
Im Netz führen Menschen seit Jahren vor, wie man digital Kultur wirkungsvoll vermittelt, in transnationalen Netzwerken zusammenarbeitet, gemeinsam Projektgelder aufbringt und Barrieren erkennt, Grenzen überwindet. Diese Expertisen werden gesamtgesellschaftlich kaum genutzt, weil das Netz entweder dämonisiert oder kleingeredet wird. Es ist aber ein konstitutiver Bestandteil unserer Welt, in der Digitales und Analoges, Virtuelles und Materielles sich längst verschränkt haben. »Es wächst zusammen, was zusammengehört« beschreibt auch, was man während des Lockdowns beobachten kann. Das muss man jetzt, wie im originalen Kontext des Zitats auch, nur noch positiv denken und gestalten. Dabei ist auch ausreichend Raum für interessante Kultur im traditionellen Sinne.
Autorin
Christiane Frohmann
studierte Literaturwissenschaft und Philosophie, ist Autorin und Verlegerin. In Texten und Vorträgen setzt sie sich für eine gelassene Digitalisierung und mehr strukturelle Vielfalt in Kultur- und Bildungsinstitutionen ein. Sie ist Botschafterin von #vielfaltdurchlesen. Der Frohmann Verlag wurde 2020 mit einem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet.