Künstliche Intelligenz und generative Textrobotik: Wenn Maschinen für Menschen sprechen

18. Dezember 2023

Ein Jahr nach seiner Markteinführung am 30.11.2022 wird ChatGPT, die generative Textrobotik aus dem Hause Open AI, immer noch gehypt, als sei der Pankreator, wie der Science-Fiction Autor Stanislaw Lem den maschinellen »vernünftigen Weltkonstrukteur« nannte, aus dem Silicon Valley entsprungen. 180,5 Millionen Menschen stellen monatlich 1,43 Milliarden Anfragen an den Kommunikationssimulator, für Hausaufgaben, Marketing-Slogans, E-Mails, Newsletter, Propaganda-Bausteine, Fake-Bücher – auch Bundesministerien nutzen Chatbots und erwägen, vermehrt generative Informatik in der Verwaltung zu nutzen. Medien konstatieren immer noch das Ende der Autorenschaft oder lassen die Plagiatsmaschine Textbausteine »im Stil von« nachahmen, um zu beweisen – ja, was eigentlich? Dass wir es mit einer denkenden Struktur zu tun hätten? Oder dass Autor*innen sich ja nichts einbilden sollten auf ihr Handwerk oder ihre Bedeutung?

Dabei beruht generative Informatik auf Diebstahl von geistigem Eigentum und privaten Daten, auf Ausbeutung menschlicher Arbeiter in Entwicklungsländern, und wird dem Klima mehr zusetzen als die cleane Oberfläche es suggeriert. Entsprechend stehen wir an einem Moment der Geschichte, in dem digitale Nachhaltigkeit nicht allein von verspielter Begeisterung und utilitaristisch orientierten Wirtschaftshoffnungen gesteuert werden sollte, sondern mit einer menschenzentrierten Haltung.

Textrobotik schreibt nicht. Sie stiehlt, dekonstruiert, rechnet und zensiert.

KI ist im Grunde doof. Seit der Entwicklung von »künstlicher Intelligenz« in den 1950er Jahren handelt es sich ausschließlich um »schwache KI«, die sich nur auf eine einzige Aufgabe fokussieren kann. Auch ChatGPT weiß nicht, was es da tut, denn Wörter sind in algorithmische Formeln und Token, Erkennungsmarken umgewandelt – der Bot rechnet Begriffe, Themenfelder und Recht­schreibung in Mathematik um, aber verbindet mit Bedeutungsuniversen wie »Freiheit«, »Sehnsucht« oder »Kulturpolitik« keinerlei Kontext. Es rechnet in der (Re)Produktion immer nur das nächst­wahrscheinliche Wort hoch, und vermeidet durch eine werksseitig eingestellte content control, auch Censorpolicy genannt, eine Reihe von »verbotenen« Begriffen und Sachgebieten, um bloß niemanden zu entrüsten. Oder gar, wie in seinen Anfangszeiten, in simulierten Therapeutengesprächen zu Selbstmord zu raten, und antisemitische Hassreden hervorzustammeln. Bis Open AI zum Beispiel eine Legion von Labellern in Kenia und Venezuela für Stundenlöhne unter zwei Dollar engagierte, die toxische Begriffe in den Abermillionen Vorlagen kennzeichneten, um sie aus dem Output fernzuhalten. Diese Auslagerung an Arbeiter*innen in Drittländer, in denen keine Gewerkschaft für einen Mindestlohn streitet, wird im gleißenden Schimmer der smarten Anwendung übersehen.

Dass die Produktion von reiner Wahrscheinlichkeit des nächsten Wortes übrigens nicht gleich so auffällt, liegt an den zugegeben beeindruckenden 175 Milliarden Parametern, die dem großen Sprachmodell als Rechengrundlage dienen, sowie einem Textfundament (foundation model oder auch: Grundlagenmodell), das aus mindestens 45 Terabyte an Material besteht, das bis Januar 2022 zusammen geplündert wurde. Umgerechnet 293 Millionen Seiten – von privaten Homepages, Presseportalen, Foren, 51 Millionen Amazon-Rezensionen, Social Media, Wikipedia, gemeinfreien Werke, Fan Fiction – und: bis zu zwei Millionen urheberrechtlich geschützte Bücher, die unter anderem über Piraterieseiten und sehr vermutlich auch GoogleBooks abgerufen wurden.

Der Philosoph Noam Chomsky nennt ChatGPT einen »High-Tech-Plagiator«, wenn Nutzer*innen Texte »im Stil von…« (Harari, Rowling, Neruda) bestellen, und die Kopiermaschine aus degustierten Büchern munter memorisiert. Gefragt oder vergütet wurden die Rechteinhaber, deren Werke seit 2012 zum Training dienten, natürlich nicht. Autor*innen nachträglich zu bezahlen, würde laut Microsoft, Open AI, Google oder Meta »Milliarden über Milliarden kosten«, und die »KI-Entwicklung hemmen«, so die Monopole gegenüber des U.S. Copyright Office.

Wirtschaft sticht Ethik?

Wenn es aber Milliarden über Milliarden kostete, alle Beteiligten, deren Arbeitsleistung es überhaupt möglich gemacht hat, dass diese generativen Systeme existieren, angemessen zu vergüten, von den Urheber*innen bis zu den Labellern – wie massiv ist dieser Diebstahl tatsächlich? Wie bewusst ist es Unternehmen, die Textrobotik in eigene Angebote einbauen, den Ministeriumsmitarbeiter*innen oder Endnutzer*innen, dass sie ein Produkt von Rechtsbrüchen und Ausbeutung nutzen? Und wie sehr müsste es politische Entscheidungsträger*innen alarmieren, dass die Verheißung von KI auf ethisch und rechtlich fragwürdigen Handlungen gebaut ist – plus Karbonemissionen, Wasser– und Stromverbrauch, der jetzt schon höher ist als der aller menschlichen Arbeitsplätze zusammen.

Müsste, hätte, könnte. Schaut man dieser Tage auf die neue deutsche Haltung zur im Trilog diskutierten KI-Grundverordnung der EU, dann stellt man mit Bestürzung fest, dass nachhaltige Grundsätze rein konjunktiv bleiben: Weder Digitalminister Volker Wissing noch Wirtschaftsminister Robert Habeck wollen auf die Herstellungsbedingungen von generativer Informatik und seiner foundation models eine gesetzliche Pflicht legen, etwa auf Transparenz zur Provenienz der zum Training genutzten Werke und Privat-Daten, auf Risikoassessment oder ökologische Sicherheits­vorkehrungen. Sondern: Unternehmen sollen sich ungestört Haus-Regeln aufstellen dürfen. Sanktionen für Urheberrechts-, Datenschutz- oder Persönlichkeitsrechtsverletzungen sind nicht vorgesehen. Forscher*innen, Kultur– und Literaturbranche protestierten.

Am Anfang war das freie Wort. Und jetzt?

Regulierung ist nur ein Element dessen, was eine digitale Nachhaltigkeit in der Evolution des Informatikzeitalters benötigt. Es braucht außerdem: Haltung, Aufklärung inklusive Medienpädagogik, und Risikomanagement. Denn generative Informatik – seien es gefakte Bilder aus Kriegszonen, artifiziell generierte Video-Ansprachen des Kanzlers, sei es Textrobotik, die sich zwar gut anhört, aber häufig lügt, und sich Daten, Gerichtsurteile, Biografien »ausdenkt« (könnte der Simulator denken) –, kann nicht nur Desinformation und Diffamierung auslösen. Sondern auch Bias, verzerrte Wahrnehmungen, vertiefen, wenn ein Bildgenerator auf die Bitte hin, einen CEO oder Reinigungspersonal oder Terroristen zu generieren, reihenweise Klischees produziert.

Man kann davon ausgehen, dass die Wenigsten der 180 Millionen Chat-GPT-Nutzer*innen in Frage stellen, was sie bekommen, und sich mit der rhetorischen Ödigkeit als auch mit angeeigneten Stilen bestohlener Autor*innen ganz wohl fühlen. Text-KI nimmt Verantwortung ab, was wie verfasst wird, welche Schwerpunkte gesetzt, es spart Recherche, und erlöst davon, sich mit allen Konsequenzen der eigenen Individualität und Freiheit aktiv zu bedienen.

Mit der zunehmenden Verbreitung der gleitfreudigen Texte, die rechtlich gesehen niemandem und damit Allen gehören, und streng genommen nicht gegen Honorar verkauft werden dürfen, wird sich die nächste Generation womöglich an den kreuzfaden Sound der Botlinguistik gewöhnen. Sich mit komplexeren, meinungsstarken Inhalten immer schwerer tun oder damit ringen, dass die Kulturtechnik des Schreibens nicht mehr gelernt wird. Nachrichten und Bilder verlieren ihre Glaubwürdigkeit. Derweil Unternehmen mit Censorpolicy entscheiden, welche Wörter und Kontexte akzeptabel sind. Eigentlich erstaunlich: Da ringen Menschen um das freie Wort, und in jenen Ländern, in denen freedom of speech etabliert ist: Da überlässt man zensierten Maschinen, für den Menschen zu sprechen.

KI-Rat mit Tempo

Eine nachhaltige Regulation von generativer KI für eine Gesellschaft, die in globalen Polykrisen agieren wird, muss heute viel weiterdenken als nur bis zu wirtschaftlichen Profiten, und sich zudem ein Tempo aneignen, in dem das Recht nicht immer der Technik zwanzig Jahre hinterher trottelt.

Ich rege an, einen ständigen KI-Rat zu etablieren, etwa nach dem Vorbild Irlands, in dem Bürger*innen und vor allem: Schriftsteller*innen sitzen; diese sind es gewohnt in Dystopien und Utopien zu denken. Ebenso muss sich die Bundesregierung, ressortübergreifend, die Mühe einer Evaluation machen, um sich über die bereits entstandenen rechtlichen, wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Schäden gewahr zu werden. Das Geschehene lässt sich damit nicht heilen, aber rückt die bizarre Idee, dass Maschinen Menschen erst bestehlen und dann ersetzen könnten, in ein pragmatischeres Licht.

Letztlich muss sich auch die Europäische Kommission der Entscheidung stellen: Verklagt sie die US-Unternehmen darauf, dass diese sich seit zehn Jahren rechtlich ungedeckt von europäischen Hirnen bedient haben? Dann bekämen wir einen zweiten Cambridge Analytica-Moment, der die größte geistige Plünderung der Gegenwart zumindest als solche anerkennt.


Foto: Julia Baier

Nina George ist Schriftstellerin und Ehrenpräsidentin des European Writers’ Council (EWC). Für den EWC ist George als Beauftragte für internationale Angelegenheiten zu Urheberrecht, Digitalwirtschaft und Meinungsfreiheit tätig. Ihr New York Times Bestseller »The Little Paris Bookshop« erschien in 36 Sprachen und wurde von Open AI illegitim verwendet. www.ninageorge.de

Digitale Nachhaltigkeit geht uns alle etwas an

4. Dezember 2023

Stellen Sie sich vor, Ihre Freundin Margarete will Ihnen ein Bild zeigen, das sie von ihrer Katze gemacht hat. Sie fragt also die klassischen Übertragungswege ab – WhatsApp? Signal? Email? Brieftaube? Stellt sich raus, den einzigen Übertragungsweg, den Margarete und Sie gemeinsam haben, ist das Fax. Verdammt. Während Sie sich also seelisch darauf vorbereiten, eine eher niedrig aufgelöste Katze in schwarz-weiß auf Thermopapier ausgedruckt zu sehen, gehen die nächsten Probleme los. Margaretes Fax kann nur JPGs verarbeiten, Ihr Fax aber nur GIFs empfangen. Sie einigen sich also nach einer halbstündigen Suche eines Weges, wie Sie beide das Bild anschauen können darauf, dass Margarete Ihnen am Telefon erzählt, was die Katze Lustiges gemacht hat – dabei geht die Pointe zugegebenermaßen etwas verloren. Klingt total unrealistisch und zudem noch sehr anstrengend, oder? Dabei ist das der Stand digitaler Kulturprojekte in Deutschland. Was wir am Allerbesten können, ist das Bauen von Silos. Datensilos, Projektsilos, auch unsere Institutionen sind überwiegend noch Silos. Diese Silos aufzubrechen und weitreichend miteinander in Verbindung zu setzen, wird die übergeordnete Aufgabe der Kulturpolitik der nächsten 20 Jahre sein.

Wer über Nachhaltigkeit in Bezug auf Digitalität nachdenkt, kommt unweigerlich bei den harten Fakten raus – wieviel kostet der Strom, mit dem die Rechenzentren betrieben sind, in dem generative KI trainiert wird? Wer baut eigentlich auf wessen Kosten endliche Rohstoffe ab, damit wir von Laptop bis E-Auto überhaupt über digitale Transformation nachdenken können? Eine umfangreiche Aufarbeitung und Transparenzmachung der tatsächlichen globalen Kosten fehlt überwiegend und der Kulturpolitik fehlt auch eine fundierte Reflektion dieser harten Fakten jenseits von einem gewissen Unwohlsein beim Nachdenken über Digitalität.

Weg von den Silos: Die Dimension der Nachnutzbarkeit als Faktor digitaler Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit hat aber noch einen weiteren Faktor – einen, der sehr viel näher an uns dran ist und bei dem wir uns ausschließlich an die eigene Nase fassen müssen. Ein digitales Projekt, das nicht nachnutzbar ist, das nicht modular auf andere Kontexte und Institutionen anpassbar ist, das mit proprietärer Software entstanden und nicht auf GitHub unter einer Open Source Lizenz allen zur Verfügung steht, das undokumentiert oder nur für einen seltsamen Einzelfall erschaffen wurde, ist ein Silo, das im Gefüge einer nachhaltigen digitalen Transformation keinen Einfluss haben wird. Diese Projekte sind allenfalls Fingerübungen für Ihre Institution, zum Akklimatisieren der Belegschaft, zum Überprüfen, ob Ihre Infrastruktur solcherlei Projekten bereits standhält, zum Vorbereiten; sie sind Einbahnstraßen ins Nirgendwo auf der digitalen Kulturautobahn.

Wir sind Weltmeister*innen darin, das Rad neu zu erfinden. Immer wieder. Weil Originalität im Kulturbereich oft noch die Reputationswährung ist, mit der wir uns auf weitere Stellen und den nächsten Karriereschritt empfehlen. Weil Originalität auch oft noch von Trägerseite gefordert wird: Schauen Sie mal in das enttäuschte Gesicht Ihres kommunalen Kulturausschusses, wenn Sie denen erzählen, dass sie die Projektidee nicht erfunden, sondern nur für Ihre Institution sinnvoll angepasst haben. Und dabei ist Originalität nicht nachhaltig. Wie die nichtkommunizierenden Faxgeräte im Eingangsbeispiel ist die App für Ausstellung XY eben genau das. Ein Digitalprodukt, das sich nicht mit anderen verbinden lässt, das nicht adaptierbar ist und nicht nachnutzbar. Ein Produkt, das nach Ausstellungsende in der Mottenkiste von Einmalprojekten verschwinden wird, ohne Spuren bei Ihnen und Ihrem Publikum hinterlassen zu haben.

Public Money, Public Institution, Public Code

Dabei haben wir als öffentlich geförderte Kulturinstitutionen eine entscheidende Verantwortung, die auch unsere allergrößte Chance ist. Sie lautet »Public Money, Public Code«, also, dass mit öffentlichem Geld auch öffentliche Software entstehen soll. Open Source, Open Access, Open Data sind die drei Grundsätze der Öffentlichkeit bei digitalen Kulturprojekten und wir sollten uns alle diesen Pfeilern des digitalen Gemeinwohls verpflichten. Open Source bezieht sich dabei auf die Offenlegung des Quellcodes und die damit verbundene Möglichkeit, Teile oder alles für eigene Projekte nachnutzen zu können. Und zwar frei und letztlich unkontrolliert. Andere profitieren von Ihren Ideen. Und das ist so angelegt und gut so. Das ist digitales Gemeinwohl. Die einmalige Investition in ein nachnutzbares und gut dokumentiertes Projekt ist ein »pay it forward« Modell für Einrichtungen, die sich vielleicht die Anpassung, nicht jedoch die Neuentwicklung leisten können – denn das nächste Mal finden Sie vielleicht auf GitHub das Framework eines Projektes, das perfekt zu Ihrer nächsten Ausstellung passt. Die Realität sieht derzeit leider anders aus. Es entstehen single-use Apps für einmalige Ausstellungen, und jede einzelne mittelgroße deutsche Kleinstadt, die mal das Pech hatte, in ihrer Stadtgeschichte von den Römern heimgesucht worden zu sein baut grade eine eigene Softwarelösung für ihre Stadtmuseen und Schulklassen; Wissen und Gelerntes über Digitalprojekte wird höchstens in »guck mal was wir können!« Best-Practice-Beispielen auf Konferenzen weitergegeben; Vernetzung findet anekdotisch im Mittelbau der Institutionen statt; auf infrastruktureller Ebene hadert währenddessen die Chefetage immer noch damit, ob man jetzt WIRKLICH Internet flächendeckend und ohne Zugangsbeschränkungen haben MUSS und ob es nicht das Faxgerät im Vorzimmer vielleicht auch tut.

Eine vorausschauende Kulturpolitik muss hier langfristige Entwicklungen in die richtigen Bahnen lenken und von jedem einzelnen Kulturbetrieb eine langfristige Digitalstrategie abfordern, die über Einzelprojekte hinausgeht und darlegt, welche Leerstellen und Desiderate sich in der Institution und in der eigenen Branche ergeben und wie man diese gedenkt zu füllen. Wie dann dieses Ausfüllen der digitalen Transformation vonstattengeht ist ebenfalls lenkbar und hier brauchen wir in den Betrieben Hilfe, denn unser Blick reicht in der Regel nur bis vor die eigene Tür. Eine Stelle, die von oben draufguckt und die die kluge Vernetzung einfordert und gestaltet, und die Nachnutzbarkeit und Dokumentation zur Grundlage einer Förderung macht, kann hier maßgeblich etwas beitragen. Die Kulturpolitik kann uns hier Leitplanken an die Hand geben und eine Struktur bauen, in der echte, nachhaltig wirkende Vernetzung möglich wird, in der gemeinwohlorientierte Digitalprojekte im Kulturbereich entstehen können, auf denen wir dann gemeinschaftlich aufbauen können. Weg von den Silos. Hin zu einem lebendigen, vernetzten Ökosystem digitaler Kultur, das auf freiem Austausch beruht.


Autorin

Tina Lorenz wurde um die Jahrtausendwende im Chaos Computer Club erwachsen, studierte dann aber Theaterwissenschaft und Amerikanische Literaturgeschichte in Wien und München. Sie war Dozentin für Theatergeschichte an der Akademie für Darstellende Kunst Bayern, später Dramaturgin am Landestheater Oberpfalz und Referentin für digitale Kommunikation am Staatstheater Nürnberg. Von 2020-2023 baute sie die Sparte Digitaltheater am Staatstheater Augsburg auf, die sie mit grossem Erfolg leitete. Sie ist Gründungsmitglied der Hackspaces metalab Vienna und Binary Kitchen Regensburg.

Ab Januar 2024 wird Tina Lorenz die Abteilung Forschung & Produktion am ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe leiten.

Gestaltende Verantwortung

20. November 2023

Oder wie entsteht nochmal Transformationswissen?

In Zeiten von multiplen Krisen und allgemeiner Überforderung wird die Zukunft derzeit mal wieder zu einem hot topic. Allein in den letzten drei Wochen war ich zu vier Veranstaltungen eingeladen, die alle das Wort »Zukunft« im Titel trugen. Zu verstehen und zu prognostizieren, was die Zukunft bereithalten könnte, scheint ein zentraler Baustein zur Selbst-Vergewisserung in der Gegenwart zu sein. Gerade in Zeiten der (zumindest von Vielen akut gefühlten) Beschleunigung. Dass sich die Taktzahl der Veränderung durch die Digitalisierung erheblich erhöht hat, ist ein alter Hut. Denn wir leben nun schon seit Jahrzehnten im post-digitalen Zeitalter. Die so genannten Digital Natives, Menschen also, die in Zeiten geboren sind, in denen das Digitale zum selbstverständlichen Bestandteil des Lebens gehört, sind zum Teil bereits älter als 30 Jahre alt. Darum ist längst nicht mehr nachvollziehbar, dass in manchen Kulturinstitutionen noch so getan wird, als wäre die Digitalisierung unserer Lebenswelt etwas, das dann mal irgendwann in der Zukunft geschehen wird, denn entsprechende Technologien begleiten fast jede unserer Alltagshandlungen.

Data Stories als wirkmächtige Narrative

Diese gesellschaftliche Realität ist kein passiver Vorgang, sondern wir alle stellen die digitale Lebenswirklichkeit tagtäglich und aufs Neue durch unsere Handlungen her. Während Digitalisierung einfach die Übertragung von analogen Inhalten ins Digitale meint, ist Digitalität die Kulturtechnik, sich im Digitalen zu bewegen. Sie ist ganz einfach ein Set von Möglichkeiten. Mit diesen Möglichkeiten werden vor allem auch mögliche Zukünfte entworfen, denn die digitale Simulation und Prognostik sind nicht nur die Basis für Entscheidungen. Data Narration z.B., also die Art wie wir Daten darstellen, welche Daten für welche Geschichten wie genutzt und visualisiert werden, und vor allem welches Storytelling dafür verwendet wird, hat erheblichen Einfluss darauf, was wir uns überhaupt vorstellen können. Denn: Durch Data Narration entstehen Narrative mit entsprechender Wirkmächtigkeit. Im Entwerfen der Zukunft entsteht Zukunft eben auch ein Stück weit. Die Perspektive der Kunst halte ich gerade in diesem Zusammenhang für gleichermaßen zentral wie massiv unterschätzt. Für unsere Weltsicht und jeden Entwurf für zukünftiges Zusammenleben sind die spielerischen Möglichkeiten künstlerischer Auseinandersetzung wesentlich. Hierfür möchte ich den Begriff der Gestaltenden Verantwortung stark machen.

Das große Missverständnis liegt meines Erachtens in der Befürchtung, es gehe damit um eine Instrumentalisierung von Kunst. Einerseits spricht diese Haltung Künstler*innen, die mit ihren Arbeiten auch gesellschaftspolitisch Relevanz entfalten möchten, diese Selbstermächtigung ab, und andererseits reduziert sie die Kraft von Kunst, die vordergründig rein ästhetische Zwecke verfolgt, vielleicht sogar explizit sinnlos agiert, auf eine vermeintliche gesellschaftliche Wirkungslosigkeit, ein reines L’art pour l’art. Die im Grundgesetz verankerte Freiheit von Kunst adressiert gerade diesen großen Radius künstlerischer Ziele. Darum brauchen wir die Kraft der Kunst fernab einer redundanten Utilitarismusdebatte. Es geht mir dabei nicht um das beschränkte Entweder-oder-Denken, das in nützliche oder nutzlose Kunst teilen will, sondern im Sinne der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera und ihres Konzepts einer Arte Útil um »benutzbare« Kunst. Es geht um die Frage, welche Rolle Künstler*innen selbstgewählt einnehmen wollen, und darum, wie die Ergebnisse künstlerischer Produktionen sich auf gesellschaftliche Fragestellungen auswirken können.

Transformationswissen ist gefragt

Angesicht der klimatischen Katastrophe wird die Rolle und die Notwendigkeit der gestaltenden Verantwortung einmal mehr offensichtlich und deutlich drängender. Denn für zukunftsfähige Gesellschaften brauchen wir Transformationswissen. Oder anders formuliert, Wissen um Praktiken, die notwendige Anpassung an Veränderungen ermöglichen. Denn egal welche Zukunft wir entwerfen, es wird nicht ohne Adaption an neue klimatische Umstände mit allen gesellschaftspolitischen Folgen möglich sein. Wir alle werden dafür Resilienz trainieren müssen. Transformationswissen aber entsteht nicht im diskursiven Aufarbeiten. Nicht in der reinen Theorie. Es entsteht durch die praktische Gestaltung von Perspektivwechseln, dem Testen und Erfahren realer Fiktionen und der kollaborativen Entwicklung von alternativen Zukünften. Dafür ist das Aufbrechen von Silos – in Köpfen, Förderpolitiken und Datenbanken – genauso notwendig wie die Zusammenarbeit von Kunst und Wissenschaft.

Dazu ein konkretes Beispiel: Als Wissenschaftlerin, die sich mit digitalen Tools für kollaborative Stadtgestaltung beschäftigt, habe ich viel mit Daten zu tun. Wie in allen Lebensbereichen werden auch im urbanen Kontext permanent Daten gesammelt: soziale Daten der Stadtbewohner*innen (z.B. demographische Daten), Daten zur Infrastruktur (z.B. der Anzahl von Schulen, Krankenhäusern, Bibliotheken, usw.), Energiedaten (z.B. Art der Stromerzeugung, Nutzung und Verteilung), Mobilitätsdaten (z.B. zu Verkehrsströmen und Nutzungsverhalten) oder Umweltdaten (z.B. zur Qualität von Luft, Wasser und Boden, Wetter, Baumbestand, Wasserstand) – um hier nur ein paar Beispiele zu nennen. Mit diesen Daten lässt sich ein ziemlich genaues Bild des gegenwärtigen Zustandes einer Stadt entwerfen. Die Analyse von Daten ist in unserer postdigitalen Gesellschaft längst der wichtigste Baustein für alle zukünftigen Entscheidungen und Entwicklungen. Aber Daten allein bilden nur ab. Sie zeigen einen bestimmten Status Quo, ein digitales Spiegelbild, das Entscheidungen erleichtern und effizienter machen kann. Entscheidend jedoch ist, welche Frage man versucht, mit diesen Daten zu beantworten. Dabei spielt es nicht nur eine große Rolle, welche Daten man wie kombiniert, sondern auch wie man sie darstellt, interpretiert oder übersetzt.

Alleinstellungsmerkmale der Kunst

In Statistiken beispielsweise lassen sich Entwicklungslinien zeigen und Prognosen errechnen, aber so entstehen keine Ideen für urbane Zukünfte, keine alternativen Lebensentwürfe, keine Handlungsmöglichkeiten und für viele Menschen, auch kein Zugang im Sinne eines Verständnisses für diese Daten. Und genau darum ist die Perspektive von Kunst- und Kulturschaffenden eben nicht nur irgendwie nice to have. Sie ist eine gesellschaftliche Notwendigkeit. Wir brauchen diese Perspektive, dringend. Denn nur so können wir einerseits verstehen, was sich den allermeisten Menschen im Angesicht der technologischen Komplexität zu entziehen scheint und sind andererseits in der Lage, neue Möglichkeiten zu erforschen und Zukunft mitzugestalten. Denn die diskursive Auseinandersetzung in journalistischen oder wissenschaftlichen Formaten dient der Aufklärung und dem Verständnis der Komplexität der Thematik. Sie stärkt öffentliches Bewusstsein wie Diskussion gleichermaßen, übt Kritik und schafft Räume der Auseinandersetzung. Das zentrale Alleinstellungsmerkmal der Künste ist die spielerische Entwicklung dystopischer wie utopischer Szenarien. Das Spiel mit der Zukunft ist hier ungleich leichter und dennoch vielschichtiger, denn in der Praxis der Kunst fallen diskursive Aufarbeitung, Sichtbarmachung und die Entwicklung neuer Möglichkeiten ebenso zusammen wie die unterschiedlichen Kunstformen. Das Wissen um Storytelling und Dramaturgien, um Vermittlung, um Vernetzung, um das Entwerfen von realen Fiktionen, wie auch das Hinterfragen und Neu-Denken, das Einbeziehen und Abholen und vor allem das Sichtbarmachen von komplexen Strukturen, all dies sind Alleinstellungsmerkmale der Kunst und damit zwingende Gründe, gestaltende Verantwortung zu übernehmen und vor allem durch entsprechende Förderung auch zu ermöglichen.

Zum Projekt: https://www.creativecoding.city/.

Zur Studie: Cyane: An Emergent Organism and Its Adaptive Strategies in the Future Urban Ecology of HafenCity (2050-2090)

Autorin

Hilke Marit Berger (Dr. phil.) ist die wissenschaftliche Leiterin des City Science Labs an der HafenCity Universität in Hamburg. Als Stadtforscherin beschäftigt sie sich an der Schnittstelle von Kulturwissenschaften und Stadtplanung u.a. mit Praktiken der Teilhabe, Fragen kollektiver Stadtgestaltung und Projekten im Themenfeld Kunst, Daten und Klimawandel. Sie ist als Jurorin tätig, entwickelte, koordinierte und arbeitete für mehrere künstlerische und wissenschaftliche Projekte, für Festivals, Theater, Universitäten und Behörden. Sie hält international Vorträge und publiziert

Theater als Universallösung? Nachhaltigkeit und digitaler Wandel in der Kultur

26. Oktober 2023

Drei Dimensionen der Nachhaltigkeit

Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist als Übersetzung des englischen Wortes „Sustainability“ selbstverständlicher Teil des öffentlichen Diskurses geworden. Während damit umgangssprachlich der sorgsame Umgang mit der Umwelt und der Klimaschutz gemeint sind, lässt sich Nachhaltigkeit viel weiter fassen. Neben einer ökologischen Dimension geht es um eine verantwortungsbewusste wirtschaftliche Entwicklung, soziale Fragen sowie Teilhabe. Um diese verschiedenen Dimensionen zu veranschaulichen, wird ein Drei-Säulen-Modell aus Ökologie, Sozialem und Ökonomie verwendet, von dem konkrete Handlungsmaximen – man denke etwa an die Nachhaltigkeitsziele der UN – abgeleitet werden. Sie sind darauf ausgelegt, dass die Lebensgrundlage für derzeitige und zukünftige Generationen erhalten bleibt und der Wohlstand gerechter verteilt wird.

Strategien zur Steigerung von Nachhaltigkeit

Unter den unterschiedlichen Herangehensweisen zur Umsetzung einer Nachhaltigkeitsstrategie gibt es verschiedene Ansätze, die parallel verfolgt werden können (vgl. Kropp 2019, 23-25): Erstens das Mittel der Effizienzsteigerung, um mit weniger Arbeitsaufwand und Ressourceneinsatz gleiche oder gar bessere Ergebnisse zu erzielen, zweitens die Konsistenzstrategie, nach der man Abläufe, Verfahren und Herangehensweisen ändern kann, sodass möglichst alle Endprodukte durch Recycling oder Umwidmung wiederverwendet werden können und drittens die Suffizienzsteigerung, also durch Verzicht und Vermeidung weniger Ressourcen zu nutzen. Im Einsatz innovativer Technik liegt in der Anwendung digitaler Instrumente der Schlüssel zum Erfolg. Digitalität kann die Möglichkeiten zur Steigerung von Effizienz, Konsistenz und Suffizienz merklich erhöhen. Diese Prozesse gelten für Unternehmen und Institutionen gleichermaßen, so können sie auch für Kultureinrichtungen in Anrechnung gebracht werden. Um zu verstehen, warum Kultur und digitale Innovation zusammengehören, lohnt ein mediengesellschaftstheoretischer Blick.

Zur Bedeutung von digitaler Innovation für eine Kultur der Nachhaltigkeit

Die Schule von Toronto geht davon aus, dass Technik und Medien die Kultur und Gesellschaft irreversibel prägen. Sie formulierte die These, dass nicht zuvörderst die Aktionen von einzelnen Personen, Regeln, Moden oder gar Appelle den Verlauf der Geschichte prägen, sondern die vorherrschende Technik und damit verbunden die Medien als Werkzeug des Menschen zur Speicherung und Weitergabe von kulturellem Wissen.

Was heißt das für unsere Überlegungen zu Kultur, Digitalität und Nachhaltigkeit? Die digitale Transformation verändert Kunst und Kultur und damit die kulturelle Infrastruktur. Gleichzeitig eröffnet sie dort Lösungen für Nachhaltigkeit. Kulturinstitutionen bieten per se den Raum zum Erleben und Ausprobieren sowie zur freien Rede. Das bedeutet, Kultureinrichtungen können auf der einen Seite Nachhaltigkeit avancieren und den öffentlichen Diskurs prägen. Die Forderung nach Nachhaltigkeit, die noch durch das Bedrohungsszenarium des Klimawandels eindrücklich gesteigert wird, stellt eine gesellschaftliche Störung dar, die unterschiedliche Reaktionen hervorruft. Die kulturelle Infrastruktur wird in dieser Situation der prägende Resonanz- und Diskursraum. Was der Soziologe Erving Goffman für das Individuum konstatierte, kann auf der institutionellen Ebene angewendet werden: „Eine Rolle, die im Theater dargestellt wird, ist nicht auf irgendeine Weise wirklich und hat auch nicht die gleichen realen Konsequenzen wie die gründlich geplante Rolle eines Hochstaplers; aber die erfolgreiche Inszenierung beider falscher Gestalten basiert auf der Anwendung realer Techniken – der gleichen Techniken, mit deren Hilfe man sich im Alltagsleben in seiner realen Situation behauptet.“ (Goffman 2003, 233) Andererseits können Kultureinrichtungen praktisch Nachhaltigkeit umsetzen. Im Folgenden möchten wir kursorisch aufzeigen, inwiefern Kultureinrichtungen, die sich bewusst mit der digitalen Transformation auseinandersetzen, ihren wesentlichen Beitrag zu einer nachhaltigeren Gesellschaft und Umwelt leisten können.

Effizienz, Konsistenz und Suffizienz durch Digitalität im Kulturbereich

Durch Effizienzsteigerung werden Ressourcen optimal eingesetzt. Investitionen in eine starke Online-Präsenz, digitale Plattformen und Technologien können die Reichweite von Kultureinrichtungen erweitern. Durch die Bereitstellung von virtuellen Touren, Online-Ausstellungen, Live-Streams oder interaktiven Inhalten wird ein breiteres Publikum erreicht. Generative KI-Programme können Entwürfe für Texte, Schaubilder und Ideen in sehr kurzer Zeit für Drittmittelanträge, Kataloge, Marketingmaterialien erstellen; hierzu ließen sich viele der Tools, die heute schon in der Wirtschaft und Wissenschaft angewandt werden, auf den Kulturbereich übertragen (einen guten Überblick der Programme erhält man beispielsweise über das »Kompetenzzentrum zum Schreiben mit Künstlicher Intelligenz« der FH Kiel). Die Sammlung und Analyse von Daten über Besucher*innenströme, Interessen und Präferenzen kann Kultureinrichtungen zudem dabei unterstützen, ihre Angebote gezielter anzupassen. Dadurch wird der ökologische Fußabdruck besonders beim Austausch oder bei der An- und Abreise von Besucherinnen und Besuchern reduziert. Wichtig sind flexibles Raummanagement und geschickte Personalplanung. Zu beachten ist, dass viele digitale Anwendungen ihrerseits einen hohen CO2-Ausstoß erzeugen (Streaming oder KI). Hier muss genau geschaut werden, welche Anwendungen wirklich notwendig sind und wirklich die Effizienz steigern und welche nicht. Sich für digitale Anwendungen zu entscheiden bedeutet immer, andere Angebote (z.B. im analogen Marketing) zurückzufahren. Bei der Steigerung der Konsistenz in Kultureinrichtungen spielen digitale Technologien insofern eine wesentliche Rolle, da sie die Möglichkeit bieten, Prozesse zu optimieren, Kommunikation zu verbessern, Daten zu verwalten und ein nahtloses Erlebnis für unterschiedliche Zielgruppen zu schaffen. Dies reduziert Wartezeiten vor Ort und schafft eine konsistente Buchungserfahrung. Die Steigerung der Suffizienz erfolgt durch digital gestütztes nachhaltiges Ressourcenmanagement. Statt auf übermäßige Verschwendung zu setzen, können Kultureinrichtungen Programme entwickeln, die auf Bildung, Kreativität und nachhaltigen Werten basieren. Kultureinrichtungen können sich auf die Essenz ihrer Angebote konzentrieren und dabei einfache und minimalistische Ansätze verfolgen. Die Steigerung der Suffizienz erfordert eine ganzheitliche Herangehensweise und die Integration nachhaltiger Praktiken in alle Aspekte der Einrichtung. Dies kann nicht nur die Umweltbelastung reduzieren, sondern zur Förderung von umweltbewussten Werten und zur Schaffung eines sozialen Erlebnisses für das Publikum beitragen.

Fazit

Techniken, die in der Kultur erprobt, angewendet oder diskutiert und präsentiert werden, werden sich in der Folge in der gesellschaftlichen Realität behaupten. Im Gegensatz zur Logik von hierarchischen Linienorganisationen, die für neue Aufgaben stets mehr Ressourcen einfordern, eröffnet Digitalität – sofern sie sinnvoll eingesetzt wird – die entscheidende Voraussetzung für mehr Effektivität, Suffizienz und Konsistenz in Kultureinrichtungen. Wichtig ist dabei systemisches Denken. Ähnlich wie die Digitale Transformation stellt die Nachhaltigkeit keine unverbindliche Möglichkeit, kein Add-on dar. Indem Nachhaltigkeit immer wichtiger wird und die digitale Transformation unumgänglich ist, müssen alle Faktoren miteinander verknüpft und diskutiert werden. Digitalisierung darf nicht ohne Nachhaltigkeit gedacht werden und Nachhaltigkeit kann nicht ohne digitale Technik gedacht werden. Die gute Nachricht ist: Transformation findet statt, Störungen ereignen sich und die beste Strategie ist, sich Veränderungen zu stellen, als sie zu verdrängen. Akteur*innen in der kulturellen Infrastruktur dürfen mutig vorangehen. Spielen wir also digital-analog das (reale) Nachhaltigkeits-Theater!

Quellen und Literaturverzeichnis:

Kropp, Ariane (2019): Grundlagen der Nachhaltigen Entwicklung. Handlungsmöglichkeiten und Strategien zur Umsetzung, Wiesbaden: Springer

Goffmann, Erving (2003): Wir spielen alle Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Pieper

Prof. Dr. Martin Lätzel studierte nach dem Abitur an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist seit 1996 in Kiel ansässig. Nach einer Tätigkeit beim katholischen Erzbistum Hamburg war er Verbandsdirektor des Landesverbandes der Volkshochschulen Schleswig-Holstein, stellvertretender Abteilungsleiter der Kulturabteilung des Landes Schleswig-Holstein und ist seit 2019 Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek. Darüber hinaus ist er als Honorarprofessor an der Fachhochschule Kiel tätig.

Prof. Dr. Tobias Hochscherf studierte Kultur-, Literatur und Medienwissenschaften. Er ist Professor für audiovisuelle Medien an der Fachhochschule Kiel und Leiter des interdisziplinären Projekts »Künstliche Intelligenz in Einrichtungen der kulturellen Infrastruktur«. Zusammen mit Martin Lätzel hat er im August den Sammelband »KI & Kultur: Chimäre oder Chance« (Neumünster: Wachholz) veröffentlicht. Seit 2020 ist er Vizepräsident der Fachhochschule Kiel und hat – zusammen mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen – den Forschungsschwerpunkt »Digitale Transformation und KI« umgesetzt.

Auf welchem Weg in die Next Society?

4. Oktober 2023

Ein paar Gedanken…

In den letzten Jahrzehnten haben wir über verschiedene Gesellschaften diskutiert. Es ging um die Risikogesellschaft (vgl. Beck 1986), die digitale Gesellschaft, die Kulturgesellschaft, die Kreativgesellschaft (vgl. Florida 209) etc. Und nun sprechen wir über ein neues Thema, eine neue Gesellschaft, die »Next Society».

Aber was ist denn diese »Next Society«? Und wie kommen wir dahin? Müssen wir überhaupt eine »Next Society« anstreben oder passiert dieser Entwicklungs- und Transformationsprozess ohne unser Zutun? In den letzten Jahren habe ich mich auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Kontexten mit der Idee einer Next Society beschäftigt. Und mir scheint es, als wäre der Begriff der Next Society vor allem eine Projektionsfläche für verschiedene Visionen und Ideen.

Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass sich etwas ändern muss. Mit dem Klimawandel stehen wir vor der größten Katastrophe der Menschheit, auf die wir bis heute aber keine adäquate Antwort gefunden haben. Wir sind gescheitert, wollen dies aber nicht anerkennen. Wir wussten seit Jahrzehnten von der drohenden Katastrophe, waren aber nicht bereit, etwas bzw. uns zu ändern. Wir sind immer noch auf der Suche nach dem »richtigen Weg«, und so langsam verstehen wir, dass es nicht um punktuelle Veränderungen, sondern um die komplette Transformation unserer Gesellschaft geht. Meine These ist deshalb, dass wir neu lernen müssen, unseren Lebens- und Kulturraum aktiv zu gestalten.

Der Begriff der »Next Society« klingt wie eine neue, bessere Version unseres Ist-Zustands. So wie wir das Web2.0 und dann das Web3.0 hatten. Aber so einfach ist es nicht. Eine Next Society wäre demnach kein definierter Zielpunkt, kein verheißenes Land, sondern eine Gesellschaft, die in der Lage ist, sich umfassend zu verändern und weiterzuentwickeln, damit sie die großen Herausforderungen wie den Kampf gegen den Klimawandel angehen kann.

Die »Next Society« ist ein Optionsraum, und es geht darum, diesen Optionsraum zu gestalten. Wir entscheiden nicht, ob es die »Next Society« geben wird oder nicht. Wir können aber darüber entscheiden, wie diese »Next Society« aussieht. Zwei Enabler, die dabei eine gewichtige Rolle spielen, sind Nachhaltigkeit und Digitalität. Ich möchte diese beiden Enabler kurz skizzieren:

In den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten ist uns die Endlichkeit unserer Ressourcen immer deutlicher vor Augen geführt worden. Wir müssen uns in unterschiedlichen Situationen und Perspektiven überlegen, wie wir anders, wie wir nachhaltig mit unseren Ressourcen umgehen wollen. Dies betrifft nicht nur ökologische Fragestellungen. Auch der nachhaltige Umgang mit der Zeit oder der eigenen Gesundheit wird immer bedeutender. Nachhaltigkeit betrifft also alle Lebensbereiche. Eine Next Society muss in der Lage sein, nachhaltig zu funktionieren. Sie muss den bewussten Umgang mit allen Ressourcen hervorheben. Das bedeutet aber auch, dass es zu Aushandlungsprozessen bezüglich der Nutzung von Ressourcen kommen wird. Dabei müssen Funktionen von Ressourcen getrennt werden. Wir trennen dann beispielsweise die Funktion Mobilität von der Ressource Automobil. So entsteht eine neuer multifunktionaler Optionsraum. Übertragen auf die Kultur könnte dies beispielsweise bedeuten, dass Konzerthäuser oder Museen in der Zukunft als digital-analoge Gesamtsysteme gedacht werden, die viele verschiedene Funktionen, auch außerhalb der klassischen Aufgaben anbieten, inkl. einer 24/7-Öffnung.

Kommen wir nun zum Enabler »Digitalität«. Ich spreche bewusst von Digitalität und nicht von Digitalisierung. Digitalität meint dabei nicht nur digitale Technologien an sich, sondern auch die damit umgesetzten Funktionen sowie die daraus resultierenden Denk- und Handlungsweisen im Sinne einer digital-analogen Kultur. Durch Digitalität ergeben sich viele neue Optionen für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. So können wir riesige Datenmengen erstellen und analysieren, um Prozesse zu verbessern. Wir können Inhalte visualisieren und so neuartigzugänglich machen. Und wir können Menschen auf nie dagewesene Art und Weise miteinander vernetzen und so immer wieder neue Communitys entwickeln. Wir können die Komplexität unserer Lebensrealität minimieren (vgl. Nassehi 2019). Durch die Nutzung digitaler Technologien entstehen neue Denk- und Handlungsweisen und neue Formen der Partizipation. Viele aktuelle Bewegungen wären ohne digitale Technologien und/oder die damit verbundenen Mindsets nicht möglich gewesen. Digitalität ermöglicht eine neue und erweiterte Form der Öffentlichkeit.

Wenn ich im Kontext des Begriffes »Next Society« von einem Optionsraum spreche, dann möchte ich dies auch bezogen auf die Themen Nachhaltigkeit und Digitalität tun. Dabei muss auch auf die Risiken und offenen Fragen eingegangen werden. Ja, wir können den Enabler der Nachhaltigkeit nutzen, um anders und besser über die Verteilung von knappen Ressourcen nachzudenken. Aber wer entscheidet wie, welche Ressourcen für welchen Zweck genutzt werden? Wie verhindern wir (neue) Ungerechtigkeiten? Welche neuen Muster und Lebensrealitäten sollen entstehen und was ist mit den Menschen, die diese neuen Lebensrealitäten nicht akzeptieren möchten? Sind unsere vorhandenen Formen des Aushandelns in der Lage, die Komplexität der damit verbundenen Fragestellungen zugänglich und transformierbar zu machen? Und welche Rolle kann und/oder soll der Kultursektor darin spielen?

Und auch der Enabler der Digitalität bringt einige Risiken mit sich. Wer darf entscheiden, wie Daten erhoben, analysiert und bewertet werden? Was bedeutet die in Teilen noch immer mangelnde digitale Infrastruktur? Wie können wir Digitalität als Motor neuer Aushandelsprozesse nutzen, wenn gleichzeitig Fake-News und Hate-Speech ihr Unwesen treiben? Wie verhindern wir, dass eine neue digitale Elite entsteht, die diesen Enabler für die Erschaffung ihrer eigenen Vision einer »Next Society« nutzt und dabei ganze Gesellschaftsgruppen ausschließt?

Digitalität und Nachhaltigkeit sind zwei zentrale Enabler für den Optionsraum einer Next Society. Dabei bestehen zwischen beiden weitreichende Wechselwirkungen und Rückkopplungseffekte. Digitalität ermöglicht neue Formen der Nachhaltigkeit, indem beispielsweise Datenmodelle ein besseres Verständnis von Ressourcen ermöglichen oder Optionsräume simuliert und zugänglich gemacht werden können. Zudem können durch digitale Technologien neue Formen des Austausches und der Aushandlung umgesetzt werden. Auf der anderen Seite kann Nachhaltigkeit eine umfassende Wirkung auf die Digitalität haben, indem sie Denk- und Handlungsweisen hinterfragt und somit eine erweiterte Perspektive in die Nutzung digitaler Technologien, aber auch der damit verbundenen Denk- und Handlungsweisen ermöglicht.

Natürlich müssen wir auch über die Rolle des Kultursektors bei der Entwicklung einer »Next Society« diskutieren. Meine These ist hierbei, dass die dort vorhandenen Strukturen, Ressourcen und Mindsets sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene mit einer »Next Society« in der Breite nicht kompatibel sind bzw. die Entwicklung einer solchen Vision eher behindern, anstatt sie zu befördern. Des Weiteren möchte ich behaupten, dass der Kultursektor im Kontext einer »Next Society« selbst vor weitreichenden Transformationsprozessen steht, da er zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachhaltig agiert und letztlich noch immer in der prä-digitalen Ära existiert. Auch der Kultursektor ist ein riesiger Optionsraum.

Was wir feststellen können, ist, dass die Enabler Nachhaltigkeit und Digitalität keine fertigen Werkzeuge sind, die wir nach Belieben für die Entwicklung einer »Next Society« nutzen können. Vielleicht ist das die große Chance: Wir müssen zuerst akzeptieren, dass weder die »Next Society« an sich noch die damit verbundenen Enabler Nachhaltigkeit und Digitalität klar definiert sind. Sicher ist nur, die »Next Society« ist unausweichlich, weil wir uns weiterentwickeln müssen und/oder weiterentwickelt werden. Aber sie muss aktiv gestaltet werden. Wir müssen Verantwortung übernehmen.

Wir möchten dies u.a. in den Future Talks tun. Die Future Talks sind keine Strategiegespräche. Es geht nicht darum, die fünf Parameter für eine erfolgreiche »Next Society« zu definieren. Es geht vielmehr darum, zu überlegen, wie wir diese neue Gesellschaft aktiv gestalten können. Dies bedeutet auch eine Rückschau auf die Formen der Transformation, die wir in unserer Gesellschaft etabliert haben. Wir müssen uns beispielsweise fragen, warum wir bis heute nicht in der Lage waren, den digitalen Optionsraum zu nutzen und zu gestalten? Was passiert mit einer Gesellschaft, die Angst vor ihrer eigenen Weiterentwicklung hat? Ist es nachhaltig, Angst zu haben? Vielleicht basiert die »Next Society« auf einem Gedanken des Komponisten Arnold Schönberg: »Ich bin ein Konservativer – ich bewahre den Fortschritt«. In diesem Sinne freue ich mich auf einen spannenden Austausch, in der Hoffnung, am Ende mehr neue Fragen als Antworten generiert zu haben.

Quellen und Literaturverzeichnis:

Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne.
Florida, Richards (2019): The rise of the creative class.
Nassehi, Armin (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft.

Christoph Deeg bezeichnet sich selbst als Gestalter des digital-analogen Lebensraumes. Der studierte Jazz-Musiker beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Transformation von Organisationen im Kontext der Digitalisierung. In diesem Zusammenhang hat er mehr als 150 Kultur-Institutionen, Organisationen und Unternehmen beraten und begleitet und war dabei in mehr als 20 Ländern aktiv. Ein weiterer Fokus seiner Arbeit liegt auf der Nutzung von Spiel-Modellen und Spiel-Mechaniken im Kontext digital-analoger Transformationsprozesse. Zitat:“Das Internet ist menschlich“ Weitere Informationen unter www.christoph-deeg.com

Förderung
Dieses Projekt wird gefördert durch das Umweltbundesamt und das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz. Die Mittelbereitstellung erfolgt auf Beschluss des Deutschen Bundestages.

Treffen sich Digitalisierung und Gamification in einer Bar

2. Juni 2022

Gamification: »Du auch hier?«

Digitalisierung: »Ich bin so müde.«

Für alle, die sich in den letzten Jahren auch nur am Rande mit digitalen Technologien beschäftigt haben, besteht spätestens seit der Pandemie kein Mangel an Gelegenheiten, sich zu einem Vorgang zu äußern, in den weite Teile der Welt involviert sein sollen. Gemeint ist Digitalisierung. Was ist mit diesem Begriff gemeint, der so unterschiedliche Lebensbereiche wie Kultur, Bildung, oder auch Verwaltung berührt?

Ursprünglich bezeichnete Digitalisierung den Transfer von Inhalten von älteren analogen Medien in neuere digitale Formate. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat der Begriff jedoch eine enorme Ausweitung erfahren, und meint nun nicht mehr nur die Übertragung von Medien, sondern die Transformation ganzer gesellschaftlicher Bereiche. »Analoge« Abläufe, Infrastrukturen und Prozesse sollen so verändert werden, dass sie »digital« werden, also von nun an möglichst unter Einbeziehung von vernetzten Computern stattfinden.

Warum? Zuweilen wird angeführt, dass Dinge »nach« der Digitalisierung effizienter, schneller, flexibler, partizipativer, spielerischer oder transparenter werden und insgesamt einfach besser laufen. In der Pandemie kam noch das reduzierte Infektionsrisiko dazu und die Möglichkeit, mit weniger Reisekosten (und den damit verbundenen Emissionen) verteilt auf der Welt zu interagieren.

Ich vermute aber, dass sich oftmals hinter dieser Vielfalt von (sich teilweise widersprechenden) Motivationen eigentlich eine andere, grundlegendere, Hoffnung verbirgt. Nämlich die Hoffnung, einer scheinbar unaufhaltsam auf uns zurollenden Transformation durch eine einzige, klar definierte Kraftanstrengung zu begegnen – bei der noch dazu alles beim Alten bleiben kann. Wenn wir nur diesen Schalter finden würden, mit dem wir die Digitalisierung in unserem Bereich aktivieren könnten, könnten wir das erhalten, was wir haben. Ich denke, wer von Digitalisierung spricht, äußert meist eine im Grunde konservative Weltsicht. Digitalisierung ist gerade keine »Innovation«, sondern die Hoffnung, dass uns Innovation verschont bleibt, wenn wir uns »korrekt« anpassen.

Als Game-Designer und Festivalmacher, der mit Spielen primär im Kunst- und Kulturbereich arbeitet, habe ich eine ähnliche Dynamik schon mal an anderer Stelle erlebt. Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass anhand von Spielen oft Dinge verhandelt werden, die später noch einmal in allgemeinerer Form relevant werden.

So schwappte etwa zu Beginn der 2010er Jahre der Begriff »Gamification« aus den USA nach Deutschland. »Mach’ ein Spiel daraus« galt damals als innovative Lösung. Alles – vom Erste-Hilfe-Kurs bis zur Steuererklärung – sollte besser werden, wenn man nur Bonus-Punkte verdienen und von Level zu Level aufsteigen konnte.

Zwar wollte kein*e Spiele-Designer*in, der*die etwas auf sich hielt, etwas mit Gamification zu tun haben, und der Game-Designer und Spielforscher Ian Bogost hat mit seinem rant »Gamification is Bullshit« schon 2011 beschrieben, dass hinter Gamification oft pures Marketing steckt. Trotzdem fasste der Begriff auf deutschen Konferenzen und zuweilen sogar an Universitäten und im Kulturbetrieb Fuß.

Denn die Leute, die Gamification vertraten, interessierten sich trotz ihrer angeblichen Faszination für Games eigentlich nicht für Spielkultur. Vielmehr ging es um die oberflächliche Applikation von psychosozialen Techniken wie Belohnugssysteme und Wettbewerbslogiken, um existierende Prozesse zu optimieren. Die Hoffnung: Wenn sich dass, was wir ohnehin machen, wie ein Spiel anfühlen würde, müssten wir uns nicht mehr Fragen, ob das, was wir tun, das richtige ist.

Gamification und Digitalisierung gehen also von einem ähnlichen Unbehagen aus – dass wir nicht mehr zeitgemäß sind, und etwas tun müssen, um wieder aktuell zu erscheinen. Und dass wir dieses Problem lösen können, indem wir unsere als veraltet erlebte Logik in eine neue – die des Spiels, oder die des Digitalen – übersetzen können. Das Problem ist nur, das sowohl das Spiel, als auch digitale Technologie eigene Logiken, Traditionen, Zwänge und Erfahrungsmodi mitbringen, die sich einer solchen Übersetzung verweigern.

Was aber ist die Alternative? Wie soll es mit »der Kultur« weitergehen, wenn sie auf »Digitalisierung« verzichten würde? Und wie können wir hier von spielerischen Formen im Kulturbetrieb lernen, die – statt dem Versprechen von Gamification zu folgen – aus einem genuinen Interesse an Spiel entstehen?

Hier sind zumindest ein paar Vorschläge:

1. Kunst statt Technik. Den Einsatz von digitaler Technologie im Kulturbereich zu gestalten, ist keine technische, sondern eine künstlerisch-kreative Herausforderung.

2. Nicht einmal, sondern fortlaufend. Statt von einem einmaligen Digitalisieriungs-Vorgang auszugehen, sollten wir uns daran gewöhnen, dass sich digitale Technologien und die damit assoziierten Nutzungsgewohnheiten permanent verändern, und – genau wie nicht-digitale Verfahren, Techniken und Praktiken – fortlaufender Pflege, Befragung und Weiterentwicklung bedürfen. Die Arbeit mit digitaler Technologie ist ein langfristiges Vorhaben und eine fortlaufende, explorative Bewegung. Genau gleich verhält es sich mit spielerischen oder partizipativen Ansätzen und Kulturinstitutionen. Wir sollten aufhören davon auszugehen, dass man hier mit einmaligen Projekten etwas erreichen kann.

3. Kein Ersatz, sondern Addition. Wenn wir in der Kultur mit digitaler Technologie arbeiten wollen, sollten uns für das genuin »neue« an digitalen Technologien interessieren. Statt uns nur dafür zu interessieren, wie existierende Vorgänge digitalisiert werden können, sollten wir sensibel dafür werden, an welchen Stellen digitale Technologie spezifisch neue Erfahrungen hervorrufen und Möglichkeiten eröffnen kann – gerade auch jenseits von Bildschirmen. Die Einbeziehung von digitaler Technologie ist kein Ersatz, sondern eine Addition. Das heißt aber auch: Prozesse werden nicht einfacher, wenn man digitale Technik ins Spiel bringt.

4. Nichts ist automatisch inklusive. Wir sollten aufhören anzunehmen, dass der Einsatz von digitalen Mitteln automatische zu bestimmten Effekten führt. Weder digitale Technik noch spielerische Formate erklären sich «von selbst« und brauchen keine Vermittlung. Partizipation entsteht nicht automatisch, wenn eine Chat-Funktion im Live-Stream aktiviert wird. Stattdessen sollten wir uns fragen, was wir genau wollen, wenn wir von Digitalisierung sprechen. Geht es darum, etwas aus der Ferne mitzuverfolgen? Oder geht es um mehr Spiel, Interaktion oder Partizipation?

5. Den Wert von neuen, unbekannte Konstellationen erkennen. Statt von einer Übertragung von »analog« in »digital« auszugehen, sollten wir uns die Zeit nehmen, um auszuprobieren, was wir mit neuen Kombinationen aus verschiedenen »analogen« und »digitalen« Mitteln machen können. Wie sich neue Kombinationen aus alten und neuen Medien auswirken und anfühlen, lässt sich aber nicht vorhersehen. Wie auch? Genau wie bei der Entwicklung von neuen Spielen bedarf es eines experimentellen Vorgehens – mit Raum zum Scheitern, Mut zur Einbeziehung von Test-Nutzenden, Bereitschaft den Kurs zu wechseln und Offenheit für Überraschungen.

Schon klar, all diese Vorschläge sind nicht einfach umzusetzen. Aber ich persönlich freue mich schon darauf, wenn Digitalisierung nicht mehr in aller Munde ist, und wir sie gemeinsam mit Gamification in ihrer Bar einschlafen lassen können. Vielleicht können wir dann ja mit der eigentlichen Arbeit beginnen.


Dieser Text basiert auf einem Impuls-Beitrag für die AG »Das (digitale) Publikum« – beim Bundesforum des Bündnisses für Freie Darstellende Künste, im September 2021.

Sebastian Quack arbeitet als Künstler, Game-Designer und Kurator an der Schnittstelle von Spiel, Partizipation und urbaner Politik. Er ist Direktor des Now Play This Festival für experimentelles Game-Design am Somerset House in London, ist Gründungsmitglied des Netzwerks Invisible Playground, leitet Trust in Play, European School of Urban Game Design, und ist Mitbegründer von Drift Club, einer Plattform für zufällige musikalische Spaziergänge. Im Projekt Offene Welten entwickelt er gemeinsam mit Museen Tools für digital unterstützte Erfahrungen im Stadtraum. Regelmäßig unterrichtet er Kunst und Design und berät Organisationen, die spielerisch mit der Welt um sie herum in Kontakt kommen wollen. Quack lebt und arbeitet in Berlin.

»Ist doch gut, dass sie eingesehen haben, dass sie etwas ändern müssen«

18. Mai 2022

Kulturproduktion in der Migrationsgesellschaft: Über die Überwindung eines Spannungsfeldes

Fragen der Zugehörigkeit und Zugänge im Kulturbetrieb sind bereits seit Jahrzehnten Gegenstand von gesellschaftlichen Debatten. Wenngleich die Anwendung des Terminus Diversität oder Diversity erst in den letzten Jahren Konjunktur erlangt hat, wurde bereits in der Vergangenheit die Exklusivität der sogenannten Hochkultur in Frage gestellt und beispielsweise die Zugänglichkeit von musealen Inhalten thematisiert. So stellte bereits in den 1970er Jahren Pierre Bourdieu den demokratischen Charakter des Museums in Frage, indem er formulierte:

»So wird betont, dass ›Museen schon in ihren geringsten Details ihrer Morphologie und Organisation ihre wahre Funktion verraten, die darin besteht, bei den einen das Gefühl der Zugehörigkeit, bei den anderen das Gefühl der Ausgeschlossenheit zu verstärken‹. Statt zur Öffnung und Demokratisierung Kultur beizutragen, wird durch diese Formen der Vermittlung sozialer Ausschluss symbolisch reproduziert.«[1]

Jedoch scheint sich heute ein Bewusstsein innerhalb sowie außerhalb der kulturellen Institutionen breit gemacht zu haben, dass die Frage nach Teilhabe und der altbekannte Ruf nach »Kultur für alle« in der Migrationsgesellschaft erneut auf dem Prüfstand steht.

Nicht zuletzt habe ich dies in vielen persönlichen Gesprächen mit sehr unterschiedlichen Personen auch außerhalb des Arbeitsalltages als Referentin für Diversität & Outreach am Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg erlebt. So traf in den allermeisten Fällen die Tatsache, dass eine solche Arbeitsstelle allein für diesen Bereich geschaffen wurde, auf erstaunlich wenig Erklärungsbedarf. Unter anderem hörte ich Kommentare, wie »ist doch gut, dass sie eingesehen haben, dass sie etwas ändern müssen«. Dies etwa war ein Kommentar eines pensionierten Arztes aus Norddeutschland, der in Syrien geboren ist.

Das Bewusstsein für Fragen der Teilhabe im Kulturbetrieb scheint also gesellschaftlich weitaus stärker zu sein, als sich die Kulturbetriebe selbst vielleicht eingestehen möchten.

Literatur thematisiert konkrete Problemstellungen der Diversität im Kulturbetrieb

Über ein diffuses Bewusstsein hinaus weist eine Vielzahl an Publikationen darauf hin, an welchen konkreten Stellen sich die Kulturproduktion tatsächlich in einem Spannungsfeld mit der Migrationsgesellschaft befindet.

Beispielsweise kritisiert Vera Allmannritter den teils undifferenzierten Blick auf Menschen mit Zuwanderungsgeschichte im Rahmen von Publikumsentwicklung. Sie weist darauf hin, dass

»[…] das Verständnis, dass Menschen mit MH [Migrationshintergrund] nicht als spezielle, einzeln zu bedienende ›Sonderzielgruppe‹ zu behandeln sind, sondern je nach Zielsetzung der Ansprache (nach Generationen, Geschlecht, sozialer Lage etc.) völlig natürlich und selbstverständlich mit eingeschlossen sein können – was jedoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass migrationsspezifische Aspekte in deren Kulturnutzungsverhalten (beispielsweise Interessen, Kommunikationswege, spezielle Besuchsbarrieren) nicht berücksichtigt werden können […]«

Zudem führt sie aus, dass

»[…] die Ahnung, dass Kulturinstitutionen zukünftig nicht umhinkommen werden, sich auf bislang nicht dagewesene Art und Weise ändern zu müssen, sprich ihre gesellschaftliche Position und ihren Habitus zu hinterfragen, sich umfassender für bislang nicht erreichte Bevölkerungsgruppen zu öffnen sowie ihr (evtl. nicht ausreichend multikulturelles) Angebotsspektrum zu überdenken, um mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt zu halten.«

Ausführlich und anhand empirischer Beispiele weist Natalie Bayer auf eine Reproduktion migrantischer Andersartigkeit durch museale Darstellungsweise hin und stellt bei Migrationsdebatten »eine oft massiv unreflektierte Anknüpfung an den nationalen Integrationsimperativ« fest

Wie schwierig sich eine langfristige Teilhabemöglichkeit an Kulturproduktion gestaltet, besonders für Personen mit Fluchtgeschichte, thematisiert etwa die Studie des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, »Bedingungen und Herausforderungen für Künstlerinnen und Künstler«.

Dies sind nur einige der kritischen Auseinandersetzungen mit kultureller Teilhabe in der Migrationsgesellschaft. Gerade Sammlungen aus kolonialen Kontexten, sollten unter Einbezug einer größtmöglichen gesellschaftlichen Beteiligung behandelt werden.

Hinwendung zur Thematisierung von Diversität aus der Perspektive struktureller Problemstellungen – insbesondere im Sinne von Ethnisierungsprozessen

Bemühungen um eine Beseitigung diskriminierungskritischer und struktureller Benachteiligung im Kulturbetrieb wurden mittlerweile vereinzelt politisch thematisiert und in konkrete Maßnahmen übersetzt. Dazu gehören Initiativen, wie etwa die Herausgabe der Expertise zu Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors von »Vielfalt Entscheidet« sowie die Gründung der Beratungsinstitution für Diversität im Kulturbereich (Diversity Arts Culture) in Berlin. Auch durch das Projekt 360° – Fonds für Kulturen der Neuen Stadtgesellschaft erhalten Debatten um Strukturen sowie deren Wandel eine Vielzahl an neuen Impulsen. So fand erst im Januar des Jahres 2022 eine Konferenz mit dem Titel »Aufbrechen! Ran an die Strukturen« statt.

Hier geht es also nicht nur darum, ausschließlich ein zusätzliches Publikum im Rahmen des »Audience Developments« anzuwerben, sondern auch darum, Organisationen langfristig zu verändern und an die Migrationsgesellschaft anzupassen.

Doch trotz kritischer Analysen und Initiativen, bleiben die Diskurse um Diversität stellenweise unzureichend und umgehen eine Aushandlung von diskriminierenden Strukturen. Insbesondere in Hinsicht auf institutionelle Ausschlussmechanismen, mangelt es in vielen Fällen an Fachwissen und Verständnis. Dabei ist ein strukturelles sowie diskriminierungskritisches Verständnis von Diversität die Basis dafür, den eigenen Handlungsrahmen und die Auswirkungen von individuellen Handlungen vollständig zu verstehen und daraus wiederum die richtigen Lösungsansätze zu entwickeln.

Welchem theoretischen Ansatz liegt die strukturelle Thematisierung von Diversität zu Grunde?

Relevant ist dabei, das Verständnis von Diskriminierung allein im Sinne »sichtbarer« Handlungen, etwa in Form von ausgesprochenen Vorurteilen, zu verlassen und sich einem erweiterten Verständnis »sozialer Prozesse« zu widmen: »Phänomene ethnischer Diskriminierung durchdringen unseren Alltag auf komplexe und oft subtile Weise.«[2] Es gilt also, das Phänomen Diskriminierung, heißt  »das Unterscheiden von Personengruppen, also das Unterscheiden, das Gruppen zu Gruppen macht, Hierarchie zwischen Gruppen herstellt und begründet und damit Menschen ausgrenzt und/oder benachteiligt werden«[3] über das Offensichtliche hinaus erkennbar zu machen.

Der aus dem angelsächsischen Raum stammende Begriff der »institutionellen Diskriminierung« basiert auf der Annahme, dass ein institutionelles Setting an der Herstellung, Verfestigung und Modifizierung sozialer Differenzen beteiligt ist. Untersucht wird dabei hauptsächlich »die Einbettung von Diskriminierung in der ›normalen‹ Alltagskultur von Organisationen und in der Berufskultur der in ihnen tätigen Professionellen«.[4]

Dem Soziologen Stuart Hall zufolge werden die Mechanismen des institutionellen Rassismus in den Organisationstrukturen »auf informellen und unausgesprochenen Wegen durch ihre Routinen und täglichen Verfahren als ein unzerstörbarer Teil des institutionellen Habitus weitergegeben. Diese Art von Rassismus wird Routine, gewohnt, selbstverständlich.«[5]

Benachteiligung am Beispiel Schule

Um ein umfangreiches Verständnis davon zu erhalten, wie Organisationen Orte des Ausschlusses werden, macht es Sinn, ein Beispiel aus einem anderen Gesellschaftsbereich heranzuziehen. Insbesondere in Bezug auf die Frage nach Migrationsgesellschaft und die ethno-kulturellen Differenzsetzungen bietet sich die Schulforschung an, um Vergleiche zum Kulturbereich herzustellen.

Hier wird bereits seit Jahrzehnten debattiert, wieso ein bestimmterUmstand »die Investition von möglicherweise vorhandenem sozialem und kulturellen Kapital der Eltern und ihrer Kinder verpuffen läßt und verhindern kann«[6]. In diesem Ansatz liegt der Versuch, die »hinter den Entscheidungen liegenden Kalküle, denen die Schulen und andere bildungspolitische Akteure im Prozeß der Selektion und Allokation folgen«, zu verstehen.

Eine Studie von hoher Relevanz ist dabei eine von Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke in den 1990er Jahren an Bielefelder Schulen durchgeführte Studie, die im Jahr 2002 veröffentlicht wurde. Als Ergebnis hielten Gomolla und Radtke fest, dass Schüler*innen mit Migrationshintergrund Nachteile erhielten, indem Lehrkräfte von »kulturellen Passungsproblemen« sprachen, auf den monolingualen Charakter der Schule bestanden und durch retroaktives Erklären benachteiligende Entscheidung legitimiert und gerechtfertigt wurden.[7] Auch kann der Kulturbetrieb daraus lernen, den Blick auf weitere Ebenen zu richten, die im Schulsystem laut Gomolla zu Ungleichheit führen:

  • politische Vorgaben,
  • lokale organisatorische Strukturen,
  • organisatorische Handlungszwänge und
  • etablierte Praktiken in einzelnen Schulen sowie
  • ein pädagogischer Common Sense, der stark von defizitorientierten Annahmen und
  • statischen Konzepten kultureller Identität bestimmt ist.[8]

Was bedeutet ein Diversitätsverständnis, welches institutionelle Settings und Benachteiligung anerkennt?

Die Schulforschung gibt somit Hinweise darauf, dass organisationale Diversifizierungsprozesse auf dem Prüfstand stehen. Zudem wird erkenntlich, dass die Verknüpfung von Diversität und dem mittlerweile auch im Kulturbereich angekommenen Change-Management eine besondere Leistung zuteil kommen sollte. So weist Gomolla darauf hin, dass die im »scientific management vermittelte Vorstellung, Organisationen seien technischrationale Instrumente, um organisatorische Aktivitäten effizient zu steuern«, in Frage gestellt werden sollte. Sinnvoll sei demnach eine Kombination von Diskriminierungstheorien mit Konzepten der neueren amerikanischen Organisationsforschung. Dabei seien folgende Theorieangebote von Relevanz: lose Kopplung, verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie und Neo-Institutionalismus.[9]

Auf der anderen Seite bedeutet ein Hinterfragen von Diversität im Sinne von Organisationen, Strukturen und Benachteiligung, eine Anerkennung von sozialen Komplexitäten, die im Alltag regelmäßig zu überprüfen sind und machtkritisch in Frage gestellt werden müssen. In einem Beitrag für DeutschPlus e.V. weist Sohal Behmanesh darauf hin, dass bei Diversity Prozessen die Machtkonstellationen komplexer als in klassischen Change Prozessen sind. Denn die Abwehrhaltung sei nicht nur durch die Anstellungsverhältnisse erklärbar, sondern häufig aus gesellschaftlich privilegierten und damit auch machtvollen Positionierungen zu verstehen

»[…] unlike other change initiatives, diversity change has an added psychological component […]. (T)he field of social psychology suggests that discrimination, or bias in favor of one’s own group to the detriment of others, is a cognitive and motivational phenomenon that, when challenged, is met with psychological resistance«.

Ein kritisches Diversitätsverständnis im Sinne institutioneller Ausschlussmechanismen bedeutet also, dass branchenspezifische Strukturen ausreichend verstanden werden sollten. Es bedarf dafür vertiefter wissenschaftlicher Analysen, die nicht nur die internen Strukturen von Kultureinrichtungen, sondern ebenso den Handlungsrahmen, in dem Kultureinrichtungen agieren, in den Blick nehmen. Dazu gehört die Frage nach dem politischen Setting, den sozialen Netzwerken, in dessen Rahmen Kultur produziert wird, sowie vor allem nach den Organisationsstrukturen von öffentlich geförderten Kultureinrichtungen. Dies ist nur möglich, wenn sich der kulturpolitische Diskurs kritischer mit den Strukturen auseinandersetzt. Sonst wird es schwierig, eine Diversitätsentwicklung umzusetzen, die einer modernen Migrationsgesellschaft gerecht wird. Das Verpuffen von »vorhandenem sozialem und kulturellen Kapital« (siehe Fußnote 6) der Migrationsgesellschaft sollte besonders in Kunst und Kultur eben nicht stattfinden. Denn nur, wenn das Thema Diversität nachhaltige Verankerung in den Organisationsstrukturen findet und gesamtpolitisch als Querschnittsaufgabe verstanden wird, erhalten Menschen mit hybriden Lebensrealitäten gleichberechtigt Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb der Mainstream-Kulturproduktion.

Autorin:

Jenin Elena Abbas ist als Referentin für Diversität und Outreach am Landesmuseum Natur und Mensch Oldenburg im Rahmen des 360° Programms – Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft der Kulturstiftung des Bundes tätig. Zuvor war sie unter anderem für das Goethe-Institut Kairo als Projektkoordinatorin der Kulturzeitschrift Fikrun wa Fann (Art&Thought) tätig. 

Sie hat an den Universitäten Osnabrück, der American University in Kairo (Ägypten), an der Hochschule Bremen sowie an der San Jose State University (USA) studiert.


[1] Bourdieu 1974: 198 in Bourdieu / Darbel 2006

[2] Gomolla, Mechthild (2006): »Institutionelle Diskriminierung im Bildungs- und Erziehungssystem«, S. 97

[3] Foitzik, Andreas (2010): »Einführung in theoretische Grundlagen: Diskriminierung und Diskriminierungskritik«, in Foitzik, Andreas / Hezel, Lukas J. (Hrsg.) (2010): Diskriminierungskritische Schule, S. 12

[4] Gomolla, Mechthild (2010): »Institutionelle Diskriminierung. Neue Zugänge zu einem alten Problem«, in: Hormel, Ulrike / Scherr, Albert (Hrsg.): Diskriminierung, S. 77-78

[5] Hall, Stuart (2001): »Von Scarman zu Stephen Lawrence«, in: Schönwälder, Karen / Imke Sturm-Martin, (Hrsg.): Die britische Gesellschaft zwischen Offenheit und Abgrenzung: Einwanderung und Integration vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, S. 154–168, hier S. 165

[6] Radtke, Frank-Olaf (2004): Die Illusion der meritokratischen Schule. Lokale Konstellationen der Produktion von Ungleichheit im Erziehungssystem

[7] Gomolla, Mechtild / Radtke, Frank-Olaf (2002/2009): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule

[8] Mechtild Gomolla, Institutionelle Diskriminierung. Neue Zugänge zu einem alten Problem, in: Diskriminierung, Hormel/Scherr (Hrsg.), 2010, S. 81

[9] Ebd.

Theaterpädagogik – strahlende Tiefstapelei

25. April 2022

Passt auf Euch auf!

Theaterpädagogik ist der geilste Job der Welt. Ehrlich. Nirgendwo erlebe ich schönere Momente als bei der Arbeit Gruppenprozesse anzustoßen und zu begleiten. Der Prozess einer Stückentwicklung ist eine fantastische Reise, die Menschen einlädt, sich selbst besser kennenzulernen und sich im Erfahrungsfeld Bühne neu auszuprobieren. Ich möchte kein Projekt in meiner Laufbahn missen. Und doch gibt es im Universum der Theaterpädagogik Missstände, auf die ich gerne aufmerksam machen möchte.  

Dies ist ein Plädoyer für mehr Wertschätzung gegenüber der Theaterpädagogik und der Versuch des Empowerments meiner Kolleg*innen.

Theaterpädagogik hat viele Facetten 

Man findet sie in großen Theaterhäusern zur ästhetischen Wissensvermittlung, an Schulen als kooperative Teambuildingmaßnahme, in der politischen Bildungsarbeit, im Training für Führungskräfte. Sie ist ästhetisch, willensstark, flexibel und – vor allem – ganz nah am Puls der Zeit. Im stetigen Kontakt mit Zielgruppen arbeitet sie in erster Reihe sozial wie künstlerisch.

Die Methodik ist vielfältig: biographisches Theater, Commedia Dell ‘arte, Forumtheater, Playbacktheater und vieles mehr. Theaterpädagog*innen (im Folgenden TPs genannt) greifen auf einen bunten Strauß von spielerischen Methoden zurück, um gesellschaftsnahe, vermehrt konfliktbehaftete Themen zu identifizieren und in eine ästhetische Form zu gießen. Häufig entstehen Stückentwicklungen auf der Basis der Lebenswirklichkeiten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die treffender nicht sein können. TPs sind Generalist*innen. Sie statten sich mit einem Grundstock an Technik, Requisiten und Kostümen aus, um möglichst flexibel auf die Gegebenheiten vor Ort reagieren zu können.

Sie erstellen Konzepte, kennen sich in der Förderlandschaft aus und lassen sich auf immer neue Anfragen und Wünsche der Auftraggeber*innen ein. 

Möchte man eine existentielle Sicherheit auf diesem Berufsbild aufbauen, zeigen sich unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten. Auf zwei gängige Bereiche, in denen sich viele Berufsanfänger*innen tummeln, möchte ich eingehen: Die Freiberuflichkeit und die Festanstellung. So vielfältig die aufgezeigten Einsatzmöglichkeiten aber sind, umso ernüchternder ist der Arbeitsalltag:

Ausgebildete TPs haben in den ersten Berufsjahren der Freiberuflichkeit einige Hürden zu überwinden. Aufträge gibt es viele. Die Relevanz von Theaterpädagogik ist schon lange in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Das Erproben von Präsenz und Selbstbewusstsein vor allem junger Menschen ist im Schutz der theatralen Rolle, ist ein akzeptiertes und wirkungsvolles pädagogisches Konzept. Projekte als Honorarkraft an Schulen sind daher ein guter Berufseinstieg, um die Wirksamkeit der eigenen Arbeit gespiegelt zu bekommen.

Dem steht allerdings die schwer zu planende Vergütung gegenüber. Bei monatlicher Abrechnung können nur die geleisteten Stunden in Rechnung gestellt werden. Weder in den Ferien noch an geplanten schulischen Sonderveranstaltungen wird durchbezahlt. Die Schüler*innen haben frei, die TPs auch – ohne Bezahlung.

Und die Höhe der Honorare ist gering: Für ein schuljahrübergreifendes, wöchentlich stattfindendes Projekt gibt es oft unter 3000 Euro brutto bei mehr als 100 Zeitstunden. Anti-Gewalt-Trainings als Workshop, Einheit oder in Form eines Klassenzimmertheaterstücks sind an den Schulen sehr gerne gesehen, da sie eine kurzfristige Entlastung der Lehrkräfte bedeuten.  

Die finanzielle Sicherheit für TPs ist dabei allerdings nur temporär gewährleistet. Ob das Projekt im nächsten Jahr fortgesetzt werden kann, hängt häufig am Engagement Einzelner in den Kollegien. Die erarbeiteten Ergebnisse sind für die Zielgruppe wenig nachhaltig, da strukturell nicht verankert.

Eine Festanstellung kann eine Beschäftigung an einem Theaterhaus bedeuten. Hier ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß im Rahmen eines Normalvertrags Bühne Solo (NV) engagiert zu werden.

Der NV Bühne Solo bringt Sicherheit

Ein monatliches Festgehalt aufs Konto, ein 13. Gehalt und 30 Tage Urlaub im Jahr, dazu eine Altersvorsorge sind vertraglich geregelt. Doch bleibt der NV stets auf ein Jahr befristet. Erst nach 15 Jahren dauerhafter Beschäftigung ist das Mitglied vor Kündigung geschützt. Vorher kann das Arbeitsverhältnis aus Gründen, wie Intendanzwechsel oder künstlerischer Neuorientierung, nicht verlängert werden. Für eine Person, die vorher selbstständig war, kann ein solches Modell sehr beruhigend sein. Für eine Person, die mit ihrer Familie ansässig werden will, bedeutet der Vertrag Unsicherheit.

Das Berufsbild ist gänzlich anders, als man es sich während der Ausbildung ausgemalt haben könnte

TPs an großen Häusern haben einen Vermittlungsauftrag. Sie bauen ein Netzwerk an Schulen und Kitas auf, um ihnen die altersempfohlenen Stücke nahe zu bringen. Das bedeutet im Alltag: als verlängerter Arm des Marketings Klinken putzen und Eintrittskarten verkaufen. Häuser benötigen eine gute Auslastung, um ihre millionenschweren Förderungen stadtpolitisch zu legitimieren. Die TPs leisten dazu einen großen Anteil, indem sie die Inszenierungen mit Schüler*innen versorgen und die Stücke im Rahmen des Unterrichts didaktisch aufbereiten. 

In vielen Theaterhäusern herrscht zudem ein altmodisches Bild der Theaterpädagogik der 1980er Jahre. Oft interessiert es kaum, womit die TPs ihre Arbeitszeit verbringen – solange die Zahlen im Haus stimmen. Inhaltliche Vorschläge für sind selten gerne gesehen. Theaterklassiker etwa passen nicht in avantgardistische Häuser, stehen aber trotzdem auf dem Lehrplan, was TPs in eine schwierige Situation bringt. 

In meiner Funktion als leitende Theaterpädagogin habe ich viele außerschulische Projekte realisiert. Das Leitungsteam des Theater Oberhausen war, zu meiner Zeit dort, eines der wenigen unter sehr vielen Theaterhäusern, das die Theaterpädagogik innovativ, vernetzend und als Verlinkung in die Stadtgesellschaft ernst genommen hat.

Verhandlungen von Gagen sind ein großes Thema, über das mehrheitlich geschwiegen wird. Mir begegnen häufig junge TPs, die in Ausbildung oder Studium nicht gelernt haben, wie sie ihren Einsatz kalkulieren und den Wert ihrer Arbeit verhandeln. Wer nicht in die Altersarmut schlittern möchte, muss wirklich gut verhandeln können. Im Manifest des BUT ist ein Mindeststundensatz von 35 Euro und ein angemessener Stundensatz von 50 Euro gefordert. Berufsanfänger*innen landen jedoch häufig in Institutionen und Förderprogrammen, die ihnen nicht einmal 30 Euro die Stunde anbieten. 

»Ich nehme den Job an, weil ich nichts Anderes kriege…« vs. Argumente für Reichtum.

Deshalb: Kennt euren Wert. Sammelt gute Argumente für euren Stundensatz. Macht transparent, wieso Eure Leistung so viel kostet, wie ihr sie ansetzt. Akzeptiert, wenn ein Projekt mit kleinem Budget der zu kleine Schuh für eure Expertise ist. Haltet aus, wenn ein Projekt nicht zustande kommt, weil man sich finanziell nicht einig wird. Haltet aus, wenn ein Projekt nicht zustande kommt, weil die Wertschätzung seitens der Auftraggeber*innen nicht vorhanden ist. Haltet die Stille aus, nachdem ihr eure Gagenvorstellung geäußert habt.Die nächsten Gelegenheiten kommen bestimmt.

Jedes Projekt braucht eure volle Aufmerksamkeit, Kraft und Expertise, unabhängig von der Bezahlung. Nehmt ihr ein Projekt mit unpassenden Konditionen an, sabotiert ihr euch selbst. Denn während das Projekt läuft, könnt ihr keine Projekte, die bessere Arbeitsbedingungen bieten, akquirieren. Ihr könnt nicht netzwerken, könnt euch nicht fortbilden. 

Prekäre Bezahlung nutzt für den Moment, jedoch benötigt ihr in Ruhezeiten ein finanzielles Polster, um Kraft zu schöpfen. 

Ihr steht an erster Stelle 

Eure Arbeitskraft gilt es zu erhalten und zu optimieren. Lasst euch nicht von Existenzängsten leiten. 

Tragt die Verantwortung für euch und für unseren Beruf. Vergesst nicht: Wir bereiten den Weg für den Nachwuchs.

Also lasst uns den Beruf nicht ruinieren, durch zu große Bescheidenheit, »Freundschaftsdienste« oder gar Tiefstapelei. 

Vernetzt euch. Sprecht über eure Gagen. Stützt einander. Sorgt für Euch. Damit der geilste Job der Welt der geilste Job der Welt bleibt.

Autorin

Foto: Anna Scheidemann

Amira Bakhit ist Schauspielerin und Theaterpädagogin aus Frankfurt am Main. Als Schauspielerin für Improvisation ist sie Teil des 2003 gegründeten »Fast Forward Theatre« und bewegt sich im Bereich des Business-Theaters. Sie spielt unterschiedliche Klassenzimmertheaterstücke, die sich mit Themen wie Diskriminierung, Vorurteile, Flucht und Klimawandel beschäftigen. Theaterpädagogisch ist Amira an Schulen des Ruhrgebiets unterwegs und erarbeitet mit Schüler*innen Stücke auf Basis ihrer Lebenswirklichkeit.

Seit der Spielzeit 2019/20 leitet sie die theater:faktorei am Theater Oberhausen und wechselt Mitte 2022 als Bereichsverantwortliche für Theaterpädagogik an das Fritz-Henßler-Haus in Dortmund.

Begrenzte Freiheit

7. April 2022

Von der Nachhaltigkeit und der begrenzten Freiheit der Kunst

Die Verfassung spricht Klartext: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Selbst die Bindung an die Verfassungstreue bezieht sich nur auf die Lehre, benennt für die Kunst jedoch keinen Gesetzesvorbehalt. Innerhalb der Verfassung ist diese Maxime hochrangig angesiedelt: Sie findet sich in Artikel 5, also ganz an der Spitze der grundgesetzlichen Konkretisierung von Menschenwürde und persönlicher Freiheit und zählt damit zu den am höchsten geschützten Grundrechten.

Dennoch ist auch dieses Versprechen Ergebnis sowohl einer historischen Negativ-Erfahrung als auch einer politischen Diskussion und Produkt gesellschaftspolitischer Normierung. So ist die Freiheit der Kunst nicht ihr originäres Merkmal, sondern schon bei ihrer Kodifizierung durch gesellschaftliche Setzung bedingt. Das Bundesverfassungsgericht hält die Kunstfreiheit für eines der wesentlichen Merkmale einer demokratischen Ordnung. Ob sie auch ein Wesensmerkmal ihrer selbst ist, ist damit jedoch nicht gesagt. Zudem schützt das Recht auf Freiheit die Kunst zwar vor staatlichen Eingriffen, nicht aber vor ihrer gesellschaftlichen Verortung und interdependenten Wirkung.

Kultur in der Politik

Die Freiheit der Kunst, so es sie denn im von ihr angestrebten umfassenden Sinn je gab, war schon immer dadurch begrenzt, dass sie politischen Zwecken zugeordnet war. Das Theater der Antike sollte bilden und Werte vermitteln, aber es sublimierte auch die politische Aktivität durch künstlerische Rahmung. Die Poeten des höfischen Mittelalters stilisierten eine adelige Kultur, von deren Höfen sie abhängig waren. Der Vormärz bezog viel von seinem Optimismus in den Gesängen von Heine, Büchner, Fallersleben und ihren Genossen aus den Anfangserfolgen der politisch Aktiven. Und in der jungen Bundesrepublik hatte die auswärtige Kulturpolitik (wenn auch nicht direkt die Kunst) weniger die Aufgabe, unterschiedliche Perspektiven zu fördern, wie es dann seit Willy Brandt Leitlinie für das Goethe-Institut war. Vielmehr folgte sie dem politischen Auftrag, das ramponierte Deutschlandbild im Ausland – im Rückgriff auf den Begriff der »Kulturnation« des 19. Jahrhundert – wieder ansehnlich zu machen. Auch die Praxis der Kulturförderung nimmt faktisch Einfluss auf die Kunstproduktion, deren materielle Basis sie bis zu einem gewissen Grad darstellt.

Die Liste politischer Implikationen von Kunst lässt sich beliebig verlängern, aber schon die wenigen Schlaglichter zeigen: Die Freiheit der Kunst bezog sich jeweils nur auf ihre ästhetischen Ausdrucksformen, auf den Schutz vor staatlichen Eingriffen und auf die Freiheit von externen Zweckvorgaben. Sie bedeutete keine Freiheit von gesellschaftlichen und politischen Funktionen. »Ars gratia artis« ist ein begehrter Traum – schön, aber illusionär. Erst wenn Kunst gesellschaftliche Wahrnehmung erreicht, wird sie kulturell bedeutsam.

Wenn wir heute über das Verhältnis von Kunst, Kultur, Ökologie und Nachhaltigkeit nachdenken, sollten wir diese historischen Pattern im Auge behalten, denn der eingangs genannte Antagonismus kehrt in der aktuellen Diskussion mit neuer Schärfe wieder.

Im Konflikt der Prioritäten

Der Blick auf die globale Bedrohung durch den Klimawandel und seine Folgen legt die Forderung nahe, ökologische Orientierung müsse in allen Lebensbereichen Vorrang haben, um die viel beschworene Wende in Produktion, Verkehr und eben auch allen anderen gesellschaftlichen Bereichen rasch und nachhaltig möglich zu machen. Künstler*innen, Kunst und Kultureinrichtungen werden dann aufgefordert, ihr Tun diesem Primat der Ökologie unterzuordnen. Auch wenn das nur wenige so apodiktisch formulieren, erfordert die eindeutige Priorisierung doch zwangsläufig eine Posteriorisierung der anderen Bereiche. Allerdings: Auch wenn niemand vernünftig leugnen kann, dass Ökologie heute zu den zentralen Herausforderungen jeder Gesellschaft gehört, ist die Funktionalisierung aller Handlungsfelder – und gerade auch der nach Freiheit strebenden Kunst – zu bloßen Transmissionsriemen nachhaltiger Transformation verfehlt.

Natürlich kann und soll auch Kunst ökologische Themen aufgreifen – in den Bedingungen ihrer Produktion und ihrer Institutionen ebenso wie in ihren Themen und deren ästhetischen Gestaltung. Aber die Forderung, sie müsse das in allen Bereichen tun, verkennt ihre Funktion ebenso wie die Bedingungen der eigenen Arbeit. Die Auswahl künstlerischer Materialien – vom Instrumentenbau über die Staffelei bis zur Bühnentechnik –, die Organisation kultureller Veranstaltungen, Auswahl und Darstellung der Themen und Formen – all das kann so wenig völlig losgelöst sein von gesellschaftlicher und damit auch ökologischer Verantwortung wie es nicht allein oder primär durch deren Vorgaben determiniert sein darf.

Ethische Bindung und Freiheit der Kunst

Gerade weil Kunst und Kultur nicht bedingungslos frei sind, sondern Funktionen von Gesellschaft, kann die Frage nach diesen Funktionen nicht in bloßer Instrumentalisierung enden. Die Wahrheit, der die Kunst verpflichtet ist, ist nicht der Vollzug von Forderungen, die Gruppen der Gesellschaft, und seien sie noch so relevant, für notwendig halten. Zugespitzt: Die Ästhetik steht nicht unter dem Diktat der Ethik. »Wir wissen«, wie Pablo Picasso einmal sagte, »dass Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt.«

Dieser »Umweg« von Begreifen und Bewusstsein ist umso wichtiger, als es zwar keinen Weg in die Zukunft gibt ohne ökologische Entwicklung, ein Konsens über den richtigen Weg dahin jedoch in den gesellschaftlichen Antagonismen verhaftet bleibt. Je gewisser einzelne Gruppen glauben, den einzig richtigen Weg zu kennen, umso deutlicher zeigt das Abgleiten in unterschiedliche Rigorismen, dass die Gewissheit des richtigen Wegs eine Illusion ist – und eine gefährliche dazu, weil sie einem Monismus predigt, der leicht die Tür zum demokratiefeindlichen Fundamentalismus öffnet. Die Kunst mit ihrer Offenheit für Interpretationen und Alternativen, für Möglichkeiten also jenseits beschränkter Gewissheit, hat ihre zentrale Bedeutung im Wandel von Gesellschaft, Werten und Bewusstsein gerade deshalb, weil sie sich jeder Instrumentalisierung – auch der durch Ökologie – entziehen kann und soll. Ihre Nachhaltigkeit entspringt ihrer eigenen Wirkung, nicht der Übernahme von Vorgaben.

Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Kunst und Natur, von gestalterischer Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung erfordert Antworten, die so divers sind wie die Kunst selbst und ihre Interpretation. Die Ungewissheit über den richtigen Weg, die damit verbunden ist, gehört zu den Kernelementen von Ästhetik, in der es um Wahrnehmung und Handlungen geht, nicht aber um die Kategorien von »richtig« und »falsch«. Mit dieser Qualität trägt Kunst auch zur Entwicklung einer Resilienz bei, die gerade in Zeiten von Krise und Umbruch von essentieller Bedeutung ist. Kunst ist grundsätzlich politisch, aber sie ist keine bloße Funktion von Politik, und sei diese noch so gut gemeint und essentiell. Kulturpolitik befasst sich mit den Rahmenbedingungen für künstlerische Tätigkeit und Wahrnehmung, ermöglicht die Reflexion über deren Bezugssysteme, aber sie exekutiert nicht einfach einen politischen Mainstream oder die Forderungen gesellschaftlicher Influencer*innen. Die »balanced scorecard« der Bindung von Kunst zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und der Freiheit von Ästhetik und Zweckrationalität auszutarieren sowie ihre Balance zu sichern ist eine der wichtigsten kulturpolitischen Aufgaben. Sie macht, wenn sie gelingt, die Gesellschaft sowie ihre Kunst und Kultur nachhaltig.

Autor

Dr. Dieter Rossmeissl, *1948, studierte Geschichte, Politische Wissenschaften und Germanistik an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Von 2000 bis 2017 leitete er als Berufsmäßiger Stadtrat (Dezernent) das Ressort Bildung, Kultur und Jugend in Erlangen. Daneben hatte er weitere Funktionen inne, etwa als Vorsitzender des Kulturausschusses des Bayerischen Städtetags, Mitglied im Kultur- und Schulausschuss des Deutschen Städtetags, Mitglied im Deutschen Bühnenverein und Geschäftsführer des Kulturforums der Metropolregion Nürnberg. Er ist seit 2015 Sprecher der Landesgruppe Bayern der Kulturpolitischen Gesellschaft.

»Queeres geht nur Queere etwas an«

28. März 2022

Ein queeres 1 Mal 1 für den Literaturbetrieb

Ich sitze am Schreibtisch, arbeite an Glitter und ärgere mich, dass sich schreibende Kolleg*innen nicht stärker kulturpolitisch engagieren. Ich ärgere mich, weil auch ich lieber an meinem Roman arbeiten würde und weil ich mich allein fühle im Kampf für mehr (queere) Vielfalt in der deutschsprachigen Literatur.

In manchen dieser Momente bin ich wohl vor allem neidisch. Neidisch, dass sich meine Kolleg*innen auf ihre Kunst konzentrieren und ihre Energie ganz in ihre eigenen Bücher stecken können

Aber: Warum schreibe ich »können«? 

Wer sagt denn, dass ich das nicht genauso tun kann? Ist es nicht meine Entscheidung, wie ich meine Prioritäten setze? Kann ich nicht ganz frei entscheiden, wie sehr ich mich aufs literarische Schreiben konzentrieren möchte und wie sehr auf Kulturpolitik?

Ich könnte sowohl mit Ja als auch Nein antworten. Die richtige Antwort dürfte folglich wohl in der Mitte liegen oder noch wahrscheinlicher: im Sowohl-als-auch. Natürlich kann ich meine Prioritäten frei setzen. Aber genauso natürlich gibt es neben meiner Sozialisierung auch Strukturen, die mich (in meiner Wahlfreiheit) einschränken: 

Heterosexuelle cis Lektor*innen und Journalist*innen glauben sich mit queeren Texten nicht identifizieren zu können: Wenn queer, dann vielleicht wenigstens bisexuell? Natürlich werde ich mit einem queeren Roman nicht in ländliche Gegenden eingeladen, wenn dort nicht gerade eine queere Person federführend organisiert. Natürlich sagt die Buchhändlerin der Kleinstadt, in der ich aufgewachsen bin, einem Bekannten vor wenigen Tagen beim Kauf meines Buchs Opoe ins Gesicht: »Dieses Gender-Thema interessiert mich nicht. Und ich sage Ihnen eines: Ich habe gegen die Ehe für Alle gestimmt.« Und natürlich wurde ich von Eltern, der Schule, Jugendorganisationen und dem öffentlichen Diskurs erzogen, meine Queerness nicht an die große Glocke zu hängen.

Lauter Einzelbeispiele. Subjektive Erfahrungen. 

Viel lieber würde ich denn auch schlagkräftige Statistiken oder Forschungsergebnisse anführen. Aber selbst da wirkt die strukturelle Diskriminierung von Queerness: 

Natürlich scheint kein Mensch im Literaturbetrieb auf die Idee zu kommen oder sich dafür zuständig zu fühlen, in kulturpolitischen Untersuchungen – noch nicht mal in Studien zu Geschlechtergerechtigkeit – auch Autor*innen, Figuren und Narrative außerhalb eines binär-heteronormativen Schemas zu berücksichtigen. Rundherum scheint zu gelten: Queeres geht nur Queere etwas an.

 »Queer« kann als Sammelbegriff für die Identitäten aller LGBTIQ+-Personen verwendet werden. Noch viel mehr beschreibt queer aber den Akt, Strukturen und Normen zu reflektieren und hinterfragen. In der schriftstellerischen Arbeit. Im privaten (das Private ist politisch!) Tun. Und im folgenden Versuch eines Queering des literaturpolitischen Diskurs:

Beginnen wir beim Begriff »natürlich«.

Natürlich ist es nicht natürlich, dass queere Menschen und Themen ausgeschlossen werden. Nicht nur aus moralischen Gründen sollte es grundsätzlich nie natürlich sein, Menschen aufgrund von tatsächlicher oder fiktionaler Gruppenzugehörigkeit auszuschließen. Menschen sind Rudeltiere, soziale Wesen, veranlagt zu Solidarität und Gemeinschaft. Menschen wollen Teil sein, geliebt werden und dazugehören.

Sagen aufgeschlossene cis-heterosexuelle Menschen »natürlich«, meinen sie in der Regel auch eher »normal«. So normal, wie es sein sollte, dass ich als queere*r Schriftsteller_in künstlerische Entscheidungen eigenständig nach meinem inneren Kompass fällen kann, so sehr ist es unserer Gesellschaft über Jahrhunderte zur Norm geworden, queere Menschen daran zu hindern, sich und ihre Narrative zu entfalten. 

An dieser Stelle ein kleiner realpolitischer Exkurs, der hier genau so queer zur Norm stehen soll, wie die einzelnen Gesetze im allgemeinen Bewusstsein stehen dürften:

Der Paragraph 175, der homo- und bisexuelle Männer in nationalsozialistischer Tradition für »widernatürliche Unzucht« kriminalisierte, wurde in Deutschland erst 1994 und in Österreich sogar erst 2002 abgeschafft. Das bevormundende sogenannte Transsexuellen-Gesetz ist in Deutschland noch immer in Kraft. Und in der Schweiz wurde die Geschlechtsidentität erst letztes Jahr absichtlich aus dem neuen Antidiskriminierungsgesetz gestrichen.

Um Normen zu hinterfragen, müssen sie zuerst erkannt und benannt werden.  Zum Beispiel die konservativen Einstellungen, die das Wesen des Literaturbetriebs bestimmen:

Der Literaturbetrieb ist eine der letzten gerade noch wirksamen gesellschaftlichen Institutionen, die über Jahrhunderte gewachsen ist. Nicht wenige Verlage blicken auf eine mehr als 150 Jahre alte Tradition zurück. Und das Buch als Medium presst (Sprach-)Kunst in eine stark reglementierte Form, die sich Zeit ihres Bestehen kaum verändert hat: Entsprechend hinkt heute im Literaturbetrieb progressives Denken in aller Regel selbsterhaltenden Maßnahmen hinterher. 

Selbst Publikumsverlage müssen zunächst an ihre finanzielle Existenz denken und wagen der bedrohlichen Zukunft entsprechend nur ein Minimum an Risiko

Genauso sind Feuilletonist*innen, Buchhändler*innen und Autor*innen ganz damit beschäftigt, für den Erhalt ihres Wirkungsbereiches zu kämpfen. Die Zeit zum Schreiben, den Erhalt der Buchläden, die Finanzierung des Kulturressorts. Hier bleibt wenig Raum für Wagnisse, selbst für Wagnisse, die nicht größer sind, als über den eigenen binären, heteronormativen Tellerrand hinaus zu blicken. 

Die meisten Leute, die ich im Literaturbetrieb kennen gelernt habe, meinen es im Grunde gut. Sie wollen aufgeschlossen sein und sind es oft auch stärker, als es ihnen der Betrieb in der Umsetzung erlaubt. Bei Queerness endet allerdings bei den Meisten die Fantasie – um absolut aus dem Zusammenhang gerissen und nur sinngemäß Christian Lindner zu zitieren. Es fehlt an grundlegenstem Wissen:

  1. »Queer« ist eine politische Selbstbezeichnung. Die LGBTIQ+-Community hat sich die einst abwertend gemeinte Fremdzuschreibung in einem Akt der Selbstermächtigung angeeignet.
  1. »Queer« kann als Sammelbegriff alle LGBTIQ+-Identitäten beschreiben oder aber die gesellschaftspolitische Haltung beziehungsweise den politischen Akt, aus einer marginalisierten Position heraus binäre Heteronormen infrage zu stellen, mit ihnen zu spielen oder sie über den Haufen zu werfen – insbesondere, was gesellschaftliche Reglementierung von Liebe, Sexualität, Beziehungen und Geschlechtsidentität angeht.
  1. Spreche ich von »queerer Literatur« ist insbesondere Letzteres gemeint. Und damit sind wir bei der Ursachen allen Übels angelangt: Bei der vorherrschenden Vorstellung, Queeres gehe nur Queere etwas an. 

Wird die Queerness eines Buches oder einer Autor*innenstimme ignoriert, wie es letzten Herbst wieder in geschätzt neun von zehn Besprechungen von »Blaue Frau«, mit dem Antje Rávik Strubel den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, getan wurde, wird eine zentrale sozialpolitische Dimension des Werkes ausradiert.

»Blaue Frau« ist nicht nur ein Buch über die »feine Linie zwischen Ost und West« (Die ZEIT). »Blaue Frau«, wie Strubels gesamtes Werk, ist auch wesentlich davon geprägt, dass es gegen großen Widerstand angeschrieben wurde: gegen oder trotz des Patriarchats und der ihm immanenten Queerfeindlichkeit. 

Gegen die Ignoranz der Dominanzgesellschaft Queerness und uns queeren Menschen gegenüber. 

Glücklicherweise hat sich Antje Rávik Strubel als eine der wenigen öffentlich queeren deutschsprachigen Autor*innen von dieser Gleichgültigkeit nie abschließend einschüchtern lassen. Im Gegenteil: Sie hat sich jahrzehntelang immer wieder Raum erkämpft – auch wenn dieser weder von der Gesellschaft und erst recht nicht vom Literaturbetrieb für sie als queere Frau, ihren queeren Blick und ihre erzählten queeren Lebensrealitäten so vorgesehen war. Und falls doch, dann höchstens in der Nische und dem bekannten LGBT-Regal hinten in der Schmuddelecke des Buchladens neben den Erotika oder den Psychische Gesundheits-Themen. 

Sie hat gekämpft. Sich mit der Hilfe von wenigen Verbündeten immer wieder selber ermächtigt. Und schon vor 20 Jahren gemacht, was Michelle Obama heute in der Netflix-Dokumentation »Becoming« marginalisierten Jugendliche rät: »[…] share our stories, our real stories, that’s what breaks down barriers. But in order to do that you have to believe it has value

Dass heterosexuelle cis Männer Bücher schreiben ist selbstverständlich. Sie sind vom Wert ihrer Geschichte überzeugt und kriegen das täglich so bestätigt: Ob sie stehend oder sitzend pinkeln entscheidet über das Glück dieser Welt. Ob sie sich durch einen Gender-Stern im Lesefluss gestört fühlen oder es anstrengend finden, Menschen nach ihren bevorzugten Pronomen zu fragen, erst recht.

Dass wir queeren Menschen schreiben und uns von all den Widerständen – insbesondere der vorherrschenden Gleichgültigkeit – nicht abschrecken lassen, ist es nicht. 

Dabei geht es aber längst nicht nur um (Selbst)ermächtigung von uns Queers. 

Die Annahme »Queeres gehe nur Queere etwas an« stimmt auch schlicht und einfach nicht. Wir alle leben im Patriarchat und werden von Normen bestimmt, die unserem persönlichen Glück im Weg stehen und uns als Gesellschaft auseinanderdividieren statt aufeinander zu zuführen. Das aber ist eine der herausragendsten gesellschaftspolitischen Stärken von Literatur: Sie vermag es erwiesenermaßen, Empathie zu fördern für Perspektiven, die mensch aus dem eigenen Leben nicht kennt. Sich in die Situation des Gegenüber versetzen zu können ist die Grundlage jeglicher Verständigung. Queere Literatur verhandelt alternative Geschlechter- und Beziehungsnormen – das geht uns alle etwas an. Und es gibt noch ein Zückerchen oben drauf: Wir Queers wissen aus Erfahrung zu berichten, dass sich von Normen zu lösen und immer wieder Platz für das Leben zu schaffen, das zu einem passt, sich befreiend und ausgesprochen lustvoll anfühlt.

Würde der deutschsprachige Literaturbetrieb in Zukunft vermehrt mit diesem Wissen an queere Konzepte, Manuskripte und Bücher herantreten, würde sich nicht nur uns queeren Autor*innen endlich mehr Spielraum für Selbstermächtigung und Zeit zum literarischen Schreiben (statt kulturpolitischem Rechtfertigen unserer Existenz) eröffnen. Die deutschsprachige Literatur würde – davon bin ich überzeugt – auch wesentlich bereichert: Um weitere Dimensionen von Historizität, von Verbindungen, gesellschaftlicher Relevanz und vor allem um tiefgreifende, leidenschaftliche, ungehörte Geschichten.

Autor

Donat Blum, 1986 geboren, hat am Schweizerischen und Deutschen Literaturinstitut sowie an der Universität Bern studiert. Sein Debüt-Roman «OPOE» ist 2018 bei Ullstein und 2021 als Hörbuch bei Bookstream erschienen. Er ist mit verschiedenen Stipendien und Werkbeiträgen ausgezeichnet worden, ist Gründer und Herausgeber von Glitter – die Gala der Literaturzeitschriften, Initiator und Veranstalter der Reihe »Skriptor« und Organisator der Werkstattgespräche »Teppich«. 2020 hat er das online Literaturfestival VIRAL gegründet und kuratiert.