Was heißt junge Kulturpolitik für mich?

Polina Scholz
4. April 2024

Kultur verfügt über transformative Kraft …

Die Kultur stärkt den Zusammenhalt in der Gesellschaft …

Hm, das passt mir nicht als Einstieg in die Überlegungen zu einer jungen und transformativen Kulturpolitik. Es klingt irgendwie… offensichtlich? Als würde man auf einem Familienfest neben dem Großonkel am Tisch sitzen und mit der Gabel im Kartoffelbrei rührend entkräftet wiederholen: »Ja, Onkel, die Klimakrise gibt es wirklich. Deutschland ist schon längst ein Einwanderungsland. Und ja, der Gender Pay Gap ist auch ein bewiesenes und ernst zu nehmendes Problem.« Anstatt die Wahrhaftigkeit solcher Aussagen verteidigen zu müssen, sollten wir uns lieber überlegen, wie man diese Themen angeht und ihnen gerecht wird.

Vielleicht mit einer Geschichte einsteigen? Es war einmal ein Maurer. Eines Tages kam die Bürgermeisterin zu ihm und gab ihm zweihundert Ziegelsteine. »Viel kann ich damit nicht machen«, dachte der Maurer. Da er aber in seinem Handwerk gut und sich dessen Bedeutung bewusst war, machte er sich an die Arbeit. Am Ende des Tages konnte er eine kleine Hütte bauen, an der sich einige Dorfbewohner*innen erfreuten. Doch als die Bürgermeisterin vorbeikam, wirkte sie unzufrieden. Sie stand selbst unter enormem Druck, denn einige mürrische Dorfbewohner*innen verkündeten recht laut ihre Bereitschaft, mit populistischen Hämmern auf die bereits stehenden Gebäude einzuschlagen. Das, was der Maurer mit den zweihundert Ziegelsteinen gemacht hat, war gut, aber leider nicht gut genug, um die Lage im Dorf zu stabilisieren und den zweifelnden, abgehängten oder sich abgehängt fühlenden Bürger*innen eine Zuflucht zu bieten. Und so stellte die enttäuschte Bürgermeisterin dem Mauerer am nächsten Tag nur hundert Steine zur Verfügung.

Sie fragen sich sicherlich, was die Geschichte mit Kulturpolitik zu tun hat? Und mit der Kulturförderung? Bei der Studienreise nach Brüssel, die im Rahmen des Projekts #JETZT von der Kulturpolitischen Gesellschaft organisiert wurde und Ende November 2023 stattfand, wiesen viele Stimmen darauf hin, dass diejenigen, die über die Fördersummen verhandeln, immer wieder unter Rechtfertigungsdruck stehen. »Worauf setzen? Auf die gemeinsame europäische Identität oder das lokale Kulturerbe? Soll man die Weiterförderung etablierter Kulturhäuser oder lieber die Unterstützung unbekannter aufstrebender Künstler*innen bevorzugen? Entscheidet man sich für strukturelle Förderung oder Projektförderung?« – Neben all diesen Fragen müssen diejenigen, die auf dem kulturpolitischen Terrain tätig sind, zusätzliche Überzeugungsarbeit leisten und den Entscheidungsträger*innen wiederholt die Bedeutung der Kulturförderung und -vermittlung vor Augen führen. Das muss sich bestimmt so anfühlen, als würde man mit einem Großonkel auf dem Familienfest diskutieren und auf ihn einreden.

Dabei kann man sich in diesen Fragen auch auf die bereits durchgeführten Studien stützen: 2023 veröffentlichte die EU-Kommission eine Studie mit dem Titel »Culture and Democracy – the Evidence«, die den Zusammenhang der Teilhabe und vor allem aktiver Teilnahme an kulturellen Aktivitäten mit zivilem Engagement und Wahlbeteiligung bestätigte. Das durch die EU geförderte Projekt Culture for Health befasst sich währenddessen mit der Wirkung der Kultur auf die (unter anderem mentale) Gesundheit und beschreibt in einem Bericht bestehende Korrelationen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass neben Scientists for Future auch eine Vereinigung namens Scientists for Culture ins Leben gerufen wird? Die junge, transformative Kulturpolitik soll sich auf diese Erkenntnisse stützen und von dem Wissen und den Empfehlungen der multidisziplinären Expert*innen profitieren. Denn eine junge Kulturpolitik ist eine informierte und wissensgierige Kulturpolitik.

Mithilfe von Kunst und Kultur ist es möglich, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen, die eigene Sichtweise zu reflektieren, andere Perspektiven kennenzulernen und neue Zugänge zu aktuellen Problemen und deren Lösungen zu finden. Eine transformative Kulturpolitik muss dabei Schritt halten können. Wir leben in einer Welt, die von multiplen geopolitischen und ökologischen Krisen gekennzeichnet ist, die nicht zuletzt mithilfe von Kultur adressiert und verarbeitet werden können. Die junge Kulturpolitik ist eine interdisziplinäre Kulturpolitik, die auf den stetigen Austausch zwischen verschiedenen Themenbereichen setzt. Dabei ist es wichtig, die Kulturschaffenden zu motivieren, sich auf politischer Ebene zu beteiligen, da ihre Einblicke, Erfahrungen und Ideen sehr wertvoll sind. Gleichzeitig soll auch die Politik die Perspektive der Kulturschaffenden einnehmen, ihnen zuhören und auf ihre Bedürfnisse eingehen. Die junge Kulturpolitik setzt auf die Partnerschaft, den Dialog und das gegenseitige Lernen. So kann sich die Politik einige in vielfältigen Kulturprojekten bewährte Praktiken für Demokratiebildung, Inklusion oder die Umsetzung der SDG-Ziele abgucken, während der Kultursektor unter anderem von politischen Netzwerken profitieren kann.

Bei der Reise nach Brüssel fanden im Europäischen Parlament, in der NRW- Landesvertretung, beim Goethe-Institut und dem Europäischen Netzwerk Culture Action Europe fruchtbare moderierte Gespräche statt. Aus diesem Input heraus entstanden zahlreiche Diskussionen in kleineren informellen Gruppen. Diese zeigten besonders deutlich, wie produktiv ein Austausch junger Menschen aus verschiedenen kulturellen, politischen oder akademischen Bereichen sein kann und welche kreative Energie dabei freigesetzt wird. Sollte das Projekt irgendwann in die zweite Runde gehen, könnte neben dem Informationstransfer der Fokus sowohl bei den Studienreisen als auch im Mentoring-Programm verstärkt auf das gemeinsame Grübeln zu konkreten Problemstellungen gelegt werden.

Eine junge Kulturpolitik priorisiert zeitgeistige Themen, die auch auf europäischer Ebene auf der Agenda stehen: Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Diversität und Inklusion. Um all diese Themen adressieren zu können und dabei handlungsfähig zu bleiben, muss eine junge Kulturpolitik einen neuen Kulturbegriff schaffen: Dieser soll in erster Linie für unterschiedliche Lebensrealitäten inklusiv sein und wertfrei die Vielfalt kultureller Formen und Praktiken umfassen. Die verschiedenen Bereiche des Lebens werden immer mehr miteinander verbunden, die Grenzen in einer globalen Welt werden immer fließender. Eine junge transformative Kulturpolitik soll nicht davor zurückschrecken, diese Grenzen zu überwinden. Eine junge Kulturpolitik ist eine mutige Kulturpolitik, die sich traut, ins Unbekannte zu schauen und die Komplexität des Lebens zu ertragen. Erst wenn die Kultur samt der Kulturpolitik sich hin zur Gesellschaft in ihrer Diversität wendet und deren Differenzen entschieden akzeptiert, können wir uns gemeinsam vor populistischen Hämmern schützen, in einen Dialog treten und vielleicht am Ende gemeinsam ein neues Haus bauen. #JETZT wird es Zeit.

Polina Scholz

studiert aktuell an der Universität zu Köln und schreibt im Studienfach Medienkulturwissenschaft ihre Masterarbeit zum Thema »Cinema of Care«. Darin begibt sie sich auf die Suche nach Möglichkeiten eines sorgetragenden Kinos sowie eines verantwortungsvollen Kinoblicks, der von der Ethik der Care geleitet wird. Parallel arbeitet sie beim Creative Europe Desk KULTUR und setzt sich im Rahmen ihrer Arbeit mit europäischer Kulturförderung und Kulturpolitik auseinander.

In vergangenen Jahren konnte sie Einblicke in verschiedene Bereiche bekommen – von Wissenschaftskommunikation, über Eventmanagement bis hin zur Entwicklungszusammenarbeit. Außerdem hat sie Philologie, Kommunikations- und Medienwissenschaft an den Universitäten in Moskau, Bonn und Prag studiert.

Jenseits von Arbeit und Studium interessiert sie sich für bildende Kunst und Theater und versucht, sich in verschiedenen Hobbys kreativ zu betätigen.