Was ist junge Kulturpolitik für mich?

Sina-Mareike Schulte
4. April 2024

Gedanken und Anregungen im Nachgang des Mentoring-Programms #JETZT der KuPoGe

Willkommen im Jahr 2024! Für Bodø in Norwegen, Tartu in Estland und Bad Ischl in Österreich ist es das Jahr als Europäische Kulturhauptstadt. Der Eurovision Songcontest wird in diesem Jahr in Schweden ausgetragen und Taylor Swift macht auf ihrer Welttournee Halt in Deutschland. Sucht man online nach den »Kulturellen Highlights 2024«, ist das so ungefähr das, was einem begegnet. Und was ist sonst noch los im Jahr 2024?

Es herrscht noch immer Krieg in Europa. Die deutsche Klimapolitik glänzt nicht mit Fortschrittlichkeit. Anti-demokratische Parteien sind nicht nur in Deutschland, sondern auch auf europäischer Ebene auf dem Vormarsch. Was aber hat das eine mit dem anderen zu tun?

Die Themen verbinden sich in der Frage nach der Definition von Kulturpolitik. Verstehen wir unter Kulturpolitik staatliches und kommunales Handeln im Bereich der Kunst, das sich im Kern um Kunstförderung und Kulturvermittlung bemüht? Oder definieren wir Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik, die Räume für die Auseinandersetzung mit und Gestaltung von gesellschaftlichen Diskursen schafft?

Gedanken dazu teilte Bernd Wagner in einem Beitrag in den Kulturpolitischen Mitteilungen 110 der Kulturpolitischen Gesellschaft im Jahr 2005: »Im heute gebräuchlichen Sinn steht die Bezeichnung ›Kulturpolitik‹ für staatliches beziehungsweise kommunales Handeln im Bereich von Kunst und Kultur in Form ihres Schutzes und ihrer Förderung sowie der Sicherung und Gestaltung ihrer politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. […] Die Wortzusammenstellung ›Kulturpolitik‹ verbindet zwei Begriffe von großer Allgemeinheit und hoher Abstraktion, die jeweils sehr verschieden verwandt werden und in ihrer Entwicklung unterschiedliche Bedeutungen hatten. Was mit ›Kulturpolitik‹ bezeichnet wird, hängt deshalb davon ab, welcher Begriff von ›Kultur‹ und von ›Politik‹ zugrunde gelegt wird.«

Wenn ich darüber nachdenke, komme ich damit zum Kern dessen, was mich während der Reise nach Brüssel mit dem #JETZT-Mentoring-Programm bewegt hat: Die Frage nach der Bedeutung und Rolle von Kulturpolitik. Dabei geht es weniger um »junge« und »alte« Kulturpolitik, sondern schlichtweg um unterschiedliche Perspektiven auf das, was wir als Kulturpolitik verstehen: »L‘art pour l‘art oder Kultur für Gesellschaft – was denkt ihr?«, das haben uns die Kolleginnen des Goethe-Instituts in Brüssel gefragt. Unsere Aussagen gingen doch weitestgehend in dieselbe Richtung: Na klar, Kultur für Gesellschaft! In der Theorie waren wir uns darin mit den meisten Menschen, die uns auf der Reise begegnet sind, einig. Wenn es jedoch darum geht, was ein solches Verständnis von Kulturpolitik in der praktischen Umsetzung bedeutet, gehen die Vorstellungen auseinander. Einige der folgenden Aspekte wurden immer wieder im Rahmen der Reise diskutiert und sind aus meiner Sicht wesentliche Bestandteile junger Visionen für eine transformative Kulturpolitik:

1. Zwingt uns, bitte! – Rahmenbedingungen für eine gesellschaftlich-relevante Kulturförderung

In Brüssel hat uns das Team des Creative Europe Desk KULTUR die Ausschreibung der EU für europäische Kooperationsprojekte vorgestellt. Nach Förderrichtlinie sind alle Projekte verpflichtet, zu folgenden Querschnittsthemen beizutragen, um damit auf die sechs Prioritäten der Europäischen Kommission (2019-2024) einzuwirken: Inklusion, Diversität, Geschlechtergerechtigkeit, Umwelt und Klimaschutz. Eine Entwicklung, an der sich aus meiner Sicht andere öffentliche Kulturfördermittelgeber ein Beispiel nehmen könnten. Natürlich sind die Herausforderungen, mit denen wir in der Kulturbranche zu kämpfen haben, mannigfaltig – prekäre Arbeitsverhältnisse, verändertes Publikumsverhalten, Abhängigkeit von Projektförderungen. Point! Aber wenn wir für uns eine besondere gesellschaftliche Relevanz in Anspruch nehmen, dann sollten wir uns vor diesen Aufgaben nicht wegducken, sondern mit unseren Möglichkeiten einen Beitrag zu einem positiven Wandel leisten. Dies hingegegen sollte die Definition von »Qualität« von Projekten überdacht werden, Mittelvergabe an Nachhaltigkeits- und Vermittlungsstandards geknüpft und gleichzeitig Qualifizierungsangebote bereitgestellt werden, um Capacity Building zu ermöglichen.

2. Reißt die Mauern nieder – weg mit den strukturellen Barrieren in der Kulturförderung

Über die »Kultur für alle« wird seit den 1970er-Jahren diskutiert. Sie deklariert, dass kulturelle Angebote aller Sparten für alle Bürger*innen unabhängig finanzieller Ressourcen, familiärer Situation, Herkunft, körperlicher und geistiger Einschränkungen, etc. wahrnehmbar sein sollen. Die Praxis zeigt jedoch: Werden die Angebote nicht von allen Menschen mitgestaltet, sodass ihre Perspektiven in die Konzeption einbezogen werden, werden wir diesem Anspruch vermutlich niemals gerecht. Betrachtet man dann die Komplexität von Antragsverfahren in der Kulturförderung, kommen schnell viele Fragen auf. Umständliche Behördensprache, nicht-barrierefreie Onlineportale und akademisierte Verfahren erschweren die Zugänge zu Kulturförderung für viele Menschen der Gesellschaft. Hier gibt es Handlungsbedarf:  Antragsportale sollten Mindeststandards hinsichtlich Barrierearmut erfüllen. Neue Wege der Antragsstellung, beispielsweise durch Video- oder Tonaufnahmen, könnten erprobt werden. Ein Support-System für Newbies in der Antragstellung könnte erdacht werden.  

3. Kultur wirkt? – Evaluation von Wirkungsmechanismen in der Kulturförderung 

Dass Kultur gesellschaftlichen Zusammenhalt befördern und als Identifikations- und Reflektionsfläche Impulse für gesellschaftliche Transformation geben kann, dessen sind wir uns sicher. Dennoch wird die systematische Relevanz von Kultur häufig unterschätzt. Vielleicht auch, weil wir bisher nicht genug in der Lage sind, den Impact von Kultur sichtbar zu machen. Auf die Frage, inwiefern die aus Mitteln der EU geförderten Kulturprojekte hinsichtlich ihrer Wirkungseffekte evaluiert werden, konnte uns keine Antwort abseits von „Gibt es nicht“ gegeben werden. Dem Anspruch an eine gesellschaftlich relevante Kulturförderung können wir besser gerecht werden, wenn wir zeigen können, dass sie das auch ist. Dass eine Evaluation dessen alles andere als trivial ist, ist klar. Dennoch: Wäre es nicht ein riesiger Gewinn für uns alle, wenn wir Wirkungseffekte unserer Arbeit greifbar machen könnten? Vielleicht auch, um zukünftig neu über Verteilungsfragen nachdenken zu können? Ein generationsübergreifender Austausch hierzu wäre wünschenswert.

4. Ich, einfach, verbesserlich – Reflektions- und Kritikfähigkeit als Basis von Transformation

Menschen in Machtpositionen erwecken häufig den Eindruck, immer zu wissen, was richtig ist, ohne zu reflektieren, dass sie nur aus der Perspektive einer im System privilegierten Person sprechen können – wie immer bestätigen Ausnahmen die Regel. Ist es nicht am Ende der größte Verhinderer von Transformation, wenn wir nicht verstehen, dass es an unserem Tisch mehr Menschen gibt als die, für die wir selbst sprechen können? Deswegen müssen wir bereit sein zu fragen, andere Perspektiven mit einzubeziehen, in der Lage sein, uns immer wieder selbst Fehler einzugestehen und konstruktiv mit Kritik umzugehen. Wir brauchen agile, kollektivere Organisationsstrukturen in Kultureinrichtungen, die bestehende Machtverhältnisse auflösen, sich reflektieren und auf innere und äußere Einflüsse anpassen können. Wir sollten Unsicherheiten nicht als etwas verstehen, das uns bremst, sondern als etwas, das uns beweglich bleiben lässt. Junge Kulturpolitik braucht eine offene Fehler- und Streitkultur – auch wenn wir sicherlich selbst nicht immer in der Lage sind, sie selbst gut vorzuleben.

Es gibt viel zu tun. Denn apropos Kulturhighlights 2024: Noch immer wird Rammstein mancherorts als Top-Konzert 2024 angekündigt. Der Gender Pay Gap bei in der KSK versicherten Künstler*innen liegt nach aktuellsten Zahlen bei 24%. Popkultur ist im Bundeshaushalt hoffentlich nicht mehr so stark unterpräsentiert wie 2019 mit anteilig 1%, aber Luft nach oben ist allemal. Und in diesem Jahr stehen auf EU – sowie in einigen Bundesländern Wahlen an, die Aktivität erfordern – wie beispielsweise durch den Kampagnenaufruf »Shield & Shine« der Vielen.  

Es erfordert Durchhaltevermögen und Ausdauer innerhalb machtzentrierter und patriarchaler Strukturen, die sich nur Schritt für Schritt zerschlagen lassen. Gleichzeitig sollten wir jungen Kulturmacher*innen ein offenes Ohr behalten und Erfahrungswerte unserer Vorgänger*innen dankbar entgegennehmen, um zu lernen und nicht alle Fehler selbst machen zu müssen. Wir alle gemeinsam müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir unsere Themen aus elitären Blasen herausholen und unseren eigenen Ansprüchen an Teilhabe und Partizipation gerecht werden. Wie wir in Zeiten von Krieg in Europa, massivem Rechtsruck und der Gefährdung durch anti-demokratische Parteien echten gesellschaftlichen Zusammenhalt durch und mit Kultur erwirken können, ohne dabei unsere Wertvorstellungen für eine gerechtere Welt loszulassen. Dazu müssen wir vielleicht manchmal auch mehr Kultur-Aktivist*innen als Kultur-Politiker*innen sein. Und dafür wünsche ich mir mehr offene Räume und Ohren von Menschen an Hebeln, Knöpfen und Standleitungen für Junge oder eben diese Perspektive auf Kulturpolitik.

Auf Seite zwei des eingangs erwähnten Beitrags aus den Kulturpolitischen Mitteilungen begegnet mir zufällig eine Werbeanzeige der Bundesakademie für Kulturelle Bildung. Angekündigt wird ein Seminar mit dem Titel »Alte Meister – Über Rolle und Ort der Älteren in Kultur und kultureller Bildung« im Jahr 2005. Darunter ein Zitat von Betty Friedan: »Wir müssen aufhören, Alter immer nur als negative Abweichung von der Jugend anzusehen.« Das stimmt und gleichzeitig sollten wir Jugend nicht als die unerfahrene und naive Abweichung des Alters verstehen.

Bild: Merle Stephan

Sina-Mareike Schulte

wurde 1998 in Magdeburg geboren. Ihr Studium Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis mit den Schwerpunkten Theater und Medien absolvierte sie 2021. Seitdem studiert sie im Master Inszenierung der Künste und der Medien (Theater). Vor ihrem Studium in Hildesheim konnte sie bereits Praxis-Erfahrung am Theater der Altmark in Stendal sammeln, wo sie als Regieassistentin arbeitete.

Durch ihr Studium beschäftig sich Julia Gebhardt mit Arbeitsbedingungen an öffentlich geförderten Theatern. Ihr Hauptaugenmerk liegt darin, die Stellschrauben zu erkennen und zu lösen, die in ein Abhängigkeitsverhältnis von Finanzierung und Arbeitsbedingungen und Machtstrukturen führen.

Seit 2019 engagiert sie sich politisch als Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen, für die sie seit 2021 im Hildesheimer Stadtrat sitzt und sich dort vor allem mit kommunaler Kulturpolitik auseinandersetzt.

Künstlerisch arbeitet sie als Mitglied des Kollektiv (AT) zu post-ostdeutschen Biografien und Theaterformen.