Identitätspolitik löst keine Probleme

Norbert Sievers

2. Juni 2021

Neue Herausforderungen für eine inklusive Kulturpolitik

Es geht ein Gespenst um in der Kultur – das Gespenst der Identitätspolitik. Derzeit vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht wenigstens ein Beitrag im Feuilleton der großen Zeitungen diesem Thema widmet, von den sozialen Medien ganz zu schweigen. Was vor Jahren noch eher ein Phänomen campusgestützter akademischer Debatten war oder sich vor allem auf reaktionäre Bewegungen im Umfeld der AfD und der ›Rechts-Identitäre‹ bezog, hat diese Enklaven längst verlassen und findet gegenwärtig Resonanz in Kunst und Kultur und in der Kulturpolitik. Der thematische Bezug und die Stoßrichtung der Argumentation haben sich jedoch verändert. Nicht mehr der Rechtspopulismus steht gegenwärtig im Zentrum der Kritik und der Auseinandersetzungen, was sie nicht weniger präsent und gefährlich macht, sondern die ›linke‹ Identitätspolitik, wie sie vor allem im Zusammenhang mit der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten im Jahr 2016 bekannt geworden ist und sich seitdem auch in Westeuropa ausbreitet und diskutiert wird.

Die identitätspolitischen Debatten und deren tiefere theoretische und ideologiegeleitete Hintergründe und Kontexte sind mittlerweile kaum noch überschaubar und nachzuvollziehen und treiben seltsamste ›Blüten‹ bis hin zu überzogenen  Formen einer ›political correctness‹ und ›cancel culture‹, die nicht zuletzt mit antirassistischen, postkolonialen und queeren Bewegungen in Verbindung gebracht werden und den Kunst- und Kultursektor derzeit – zumindest diskursiv – durcheinanderwirbeln. Ausgestattet mit den Vokabeln der poststrukturalistischen Diskurstradition, des Postkolonialismus und der Gender Studies machen vor allem jüngere Menschen, die einen Status des Ausgegrenztseins für sich oder andere reklamieren, auf sich aufmerksam und fordern unter dem Label Diversity mehr Anerkennung, Repräsentanz und Sichtbarkeit für ihre jeweiligen Themen und Betroffenengruppen. Ihre Argumente sind dabei nicht gänzlich neu. Insbesondere die Forderungen nach mehr Chancengerechtigkeit und Diversität können sich auf die Programmatik der Neuen Kulturpolitik berufen.

Kulturpolitik als neue Gerechtigkeitspolitik

Es hat den Anschein, als erlebten wir derzeit eine Re-Politisierung der Neuen Kulturpolitik im Zeichen der Identitätspolitik und ihres Gerechtigkeitstopos mit allen Begleiterscheinungen, mit denen solche Prozesse in sozialen Bewegungen oft verbunden sind: eine gewisse Rigidität der Argumentation, die Überkonturierung der Positionen, die Selbstimmunisierung durch moralisch aufgeladene Begrifflichkeiten, unhinterfragbare Prämissen, rechthaberische Attitüden, intellektuelle Distinktion und aktives Framing der jeweils anderen Position als konservativ, reaktionär oder linksidentitär. Es geht dabei nicht nur um das Thema »Identität«, der Diskurs ist eine identitätspolitische Auseinandersetzung im links-liberalen politischen Spektrum, der mit harten Bandagen ausgetragen wird.

Manches dient der Klarheit, anderes der Diffamierung und geht in den extremen Ausprägungen bis hin zur Verachtung der Angesprochenen. Bisweilen kommt oft noch ein quasi-religiöser Diskursmodus hinzu, in dem die Kategorien Schuld, Scham und Opfer eine große Rolle spielen, die bei der Stabilisierung von Freund-Feind-Verhältnissen und den damit verbundenen identitären Selbstvergewisserungen behilflich sein mögen, aber einen rationalen und offenen Diskurs kaum noch möglich machen. Die eingesetzten Begriffe haben dabei – vor allem in ihrer adjektivischen Form (rassifiziert, migrantisiert, marginalisiert) – eine problematische Qualität, weil sie nicht nur Realität beschreiben, sondern sie gleichzeitig bewerten und eine Täter-Opfer-Beziehung herstellen. So verschwimmen wissenschaftliche Analyse, politisches Statement und moralische Empörung. Vor allem die kategorische Gegenüberstellung einer imaginierten Dominanzkultur und einer immer größer werdenden Zahl von intersektionalen Betroffenengruppen erschwert die diskursive Auseinandersetzung.

Aber so ist Bewegungspolitik – auch. Da hilft es nur, sich gelegentlich an die eigene Seite zu stellen, die Ausgangsfragen wieder vorzulegen und sich darüber im Klaren zu werden, was eigentlich das Ziel von neuer Kulturpolitik und Kulturförderung in einer aufgeklärten und offenen Gesellschaft war und ist, was erreicht wurde und auch nicht erreicht werden konnte. Es lohnt sich, dies auch in der gegenwärtig identidentitätspolitisch aufgeheizten Debatte zu tun, bevor sie aus dem Ruder läuft. Einige Beiträge des Diversity-Schwerpunktes der Kulturpolitischen Mitteilungen Nr. 172 und des Blogs »Neue Relevanzen« auf der KuPoGe-Website beziehen sich explizit auf die Neue Kulturpolitik, namentlich auf Hilmar Hoffmann als ihren – neben Hermann Glaser – renommiertesten Vertreter. Das ist auch nachvollziehbar. Immerhin hatte dieser die Formel »Kultur für alle« (1979) populär gemacht und hatte ganz sicher auch nichts gegen eine Kultur von und mit allen einzuwenden. Für die Neue Kulturpolitik waren beide Ansprüche konstitutiv: die Demokratisierung der Kultur mit der Forderung nach kultureller Chancengleichheit und die Kulturelle Demokratie als programmatischer Begriff für eine pluralistische Kulturpolitik, die auch als ein Ansatz für eine diversitätsbezogene Strategie gedeutet werden kann.

Förderungspolitisch waren beide Ansätze schwer umzusetzen. Der inklusiven »Kultur-für-alle-Option« wurde schon damals der Vorwurf der »kulturellen Volksbeglückung« [1] gemacht und die Kultur von und mit allen stand bei manchen Kritiker*innen in Verdacht, die »Kulturen des Alltags« [2] zu kolonialisieren. Trotz dieser Vorbehalte führten die Konzepte zu konkreten Fortschritten in der Kulturpolitik. Dies gilt sowohl für die Förderung und Vermittlung der zeitgenössischen Künste und des kulturellen Erbes wie auch für die diversen neuen (damals: alternativen) kulturellen Interessen und Szenen, auch wenn der Erwartungshorizont bei vielen Reformer*innen größer war. So sind die vielen neuen Konzepte, Einrichtungen und Projekte der Soziokultur, der freien Kulturszenen, der kulturellen Bildung und der zielgruppenbezogenen Kulturarbeit von, für und mit Frauen, Senior*innen, Migrant*innen, Menschen mit Behinderungen etc. in den unterschiedlichsten Varianten schon seit den 1970er Jahren aus diesen Ideen heraus entstanden, obwohl sie es förderungspolitisch im Verhältnis zur institutionell vermittelten Kultur schwerhatten und immer noch schwer haben.

Das Dilemma der Neuen Kulturpolitik bestand stets darin, dass weder die Strategie der Chancengleichheit noch die der kulturellen Vielfalt vollends aufgehen konnte und immer nur ein Versprechen blieb. Weder konnte es gelingen, dass alle Menschen das öffentliche kulturelle Angebot in Anspruch nehmen, weil die kulturelle Teilhabe auf Freiwilligkeit beruht und weil es auch faktisch kaum möglich wäre, für alle Interessen Angebote vorzuhalten, noch sind die kulturellen Lebensweisen der Menschen eine unproblematische Referenzgrundlage für die Kulturförderung der Öffentlichen Hand, will man sich nicht in die Gefahr der schon angesprochenen kulturellen Kolonialisierung begeben Vielmehr ging es der Neuen Kulturpolitik stets darum, die kulturelle Teilhabe als gleichberechtigte individuelle Option, sei es rezeptiv-konsumierend oder aktiv-partizipatorisch, zu fördern, um Menschen zu befähigen, Kunst und Kultur zu genießen und die kulturelle Demokratie leben zu können.

Kultur als Arena der Identitätspolitik

Der politische Kompromiss, den es in reformpolitischer Perspektive in der Neuen Kulturpolitik zwischen den etablierten Kulturinstitutionen und den neuen Kulturszenen zu verhandeln galt, war insofern alles andere als trivial und als Interessenausgleich schwer zu formulieren, was letztlich dazu führte, das Problem im Sinne einer Doppelstrategie additiv anzugehen. Offensichtlich wird diese Frage derzeit erneut und radikal herausgefordert, wenn etwa mit dem Hinweis auf »Diversität« und »Gerechtigkeit« verschiedenste partikulare Gruppen, die sich als marginalisiert verstehen oder so »markiert« sind, gefördert werden sollen und jenseits der Bühnen der sogenannten weißen »Dominanzkultur« der Mehrheitsgesellschaft eigene »nicht rassifizierte« Spielräume einfordern.

Ähnlich wie in den 1970er Jahren gerät die Legitimation der Kunst- und Kulturförderung in den Strudel gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen und wird so zur Arena eines Konflikts, der in den geschützten Räumen der Kultur Resonanz findet und symbolisch und medienwirksam ausgetragen wird. Insofern ist die Gerechtigkeitsdebatte von damals noch lange nicht zu Ende, sondern geht in die nächste Runde. Im Fokus stehen dabei kritisch die Museen (Stichwort: Raubkunst) und die Bühnenkünste (Stichwort: Hierarchie, weiße männliche Dominanz) und als Gegenüber erneut auch wieder die Akteure der freien Kulturszenen und der Soziokultur als Orte der Vielfalt sowie – heute verstärkt – die neuen Ansprüche, die mit den Menschen unterschiedlicher geschlechtlicher Orientierungen (LGBTQIA*), der Inter- und Transkultur sowie der postkolonialistischen und antirassistischen PoC-Bewegung verbunden sind, die sich als neue Akteure aktiv ins Spiel bringen.

Dabei geht es vordergründig zunächst weniger um materielle Dinge als um mehr Anerkennung, Repräsentanz und Sichtbarkeit der oben genannten Gruppen. Was auf den ersten Blick selbstverständlich und machbar erscheint, wenn es darum geht, den Personalbestand der Kultureinrichtungen oder die Kuratorien der Fördereinrichtungen – ggf. auch qoutengestützt –  diverser aufzustellen, offenbart sich bei näherem Hinsehen als Problem. So muss jedes Diversity-Konzept scheitern, wenn die für die Identitätspolitik konstitutive Idee der »Intersektionalität« Anwendung finden soll, weil die so konstruierten Betroffenengruppen personell gar nicht repräsentiert werden können, wenn denn der Begriff der Repräsentativität nicht bis zur Unkenntlichkeit überdehnt werden soll.

Wenn dann noch die Idee der »kulturellen Aneignung« ins Feld geführt wird, die in ihrer überzeichneten Auslegung nicht mal den »innergesellschaftlichen Kulturaustausch« [3] möglich macht, weil Verständigung gebunden wird an das Prinzip der »gelebten Erfahrung«, dann wird der Pfad demokratischer deliberativer Kulturpolitik verlassen. Wer nicht mehr den gemeinsamen (Theater-)Raum bespielen will und für die das Allgemeine und die universalistische Idee auch kein akzeptierter Referenzrahmen mehr darstellt, weil »white supremacy« und heteronormative Dominanzkultur dem entgegenstünden, der/die plädiert indirekt für ein System des kulturellen Separatismus und der (Selbst-)Segregation, dass dem demokratischen Anspruch der Kulturpolitik entgegensteht. Solche Auffassungen, die im identitätspolitischen Kontext vertreten werden, stellen die Kulturpolitik vor weit schwierigere Fragen als in den letzten Jahrzehnten, weil sie auf eine weitgehende Delegitimierung der bisherigen Programmatik und Praxis der (Neuen) Kulturpolitik hinauslaufen.

Der Diskurs wird entsprechend ernst zu führen sein. Irritierend ist jedoch nicht nur die möglicherweise noch nicht ausformulierte Erwartungshaltung der marginalisierten Bevölkerungsgruppen respektive ihrer selbst ernannten Sprecher*innen, sondern auch die Art, wie diese vorgetragen wird. Reformen sind in demokratischen Gesellschaften bekanntlich auf konsensbildende Prozesse angewiesen, wenn sie auf breite Resonanz stoßen sollen. Dafür braucht es die Bereitschaft zur Verständigung, die auf Vorannahmen und Unterstellungen weitgehend verzichtet und auf Verständlichkeit Wert legt, was gewiss nicht immer einfach ist. In vielen Beiträgen, die sich als Plädoyer für eine diversitätsorientierte Kulturpolitik ausgeben, ist diese Voraussetzung nicht zu erkennen. So fragt man sich, wie geschickt es ist, diejenigen, deren Zustimmung die Veränderungen bedürften, gleich zu Beginn des Prozesses als dominanzkulturelle Unterdrücker anzuprangern, die offenbar zunächst einmal eine Art Kollektivschuld abzutragen hätten.

Wenn etwa argumentiert wird, der Schlüssel zu einem Reformprozess in Richtung auf mehr Diversität und Anerkennung könne darin liegen, dass sich die betreffenden Institutionen zuallererst eingestehen, »jahrzehntelang rassistisch ausgeschlossen zu haben« und der Neuen Kulturpolitik »einen rassistischen Bias« unterstellt (Demir/ Annoff 2021), dann blendet diese Argumentation nicht nur die Öffnungserfolge der Neuen Kulturpolitik (nicht nur im soziokulturellen Bereich) bewusst aus, sondern provoziert in Kenntnis der Konnotationen, die der Begriff Rassismus in der (noch) aktiven Kulturpolitiker*innengeneration auslöst, einen Streit, der kaum noch produktiv werden kann. Ähnlich verhält es sich, wenn »Menschen aus verschiedensten Hintergründen, Realitäten und Betroffenheiten« gegen eine »homogene Masse« ins Verhältnis gesetzt werden, wie es in dem Beitrag von Sarah Elisabeth Braun geschieht. In solchen Zuspitzungen ist kein Angebot zur Diskussion zu erkennen.

Offenbar geht es darum aber auch nicht, sondern vor allem um einen Machtdiskurs, in dem Sprache als Machtmittel eingesetzt wird, wie es der Poststrukturalismus gelehrt hat. Dies lässt kaum Spielraum für Verständigung, die doch eigentlich immer beschworen wird. Identitätspolitik begründet in dieser Form keinen Fortschritt und schon gar nicht für mehr Inklusion. Bei aller zugestandenen Asymmetrie der bestehenden Machtverhältnisse zuungunsten der Marginalisierten und der Ungeduld der Aktivist*innen: Beschämung löst keine Probleme, sondern schafft neue. Immerhin aber – auch das muss konstatiert werden – ist eines erreicht: Gerechtigkeit ist wieder ein Thema der Kulturpolitik.


[1] Fohrbeck, Karla (1979): Kulturbedürfnisse und kulturelle Infrastruktur, in: Deutscher Gewerkschaftsbund (Hrsg.): Gewerkschaftliche Kulturarbeit (Tagungsdokumentation), Düsseldorf

[2] Pankoke, Eckard (1982): Kulturpolitik, Kulturverwaltung, Kulturentwicklung, in: Hesse, Joachim Jens (Hrsg.): Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft. Politische Vierteljahresschrift, Vol. 13, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften

[3] Hermann Glaser/Karl Heinz Stahl (1974): Die Wiedergewinnung des Ästhetischen. Perspektiven und Modelle einer neuen Soziokultur, München: Juventa


Autor

Dr. Norbert Sievers ist wissenschaftlicher Berater des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. Er war (Haupt-)Geschäftsführer der Kulturpolitischen Gesellschaft und hat zahlreich zum Thema Kulturpolitik publiziert.